Kapitel 1

~Lya Minusa~

Noch ein Mal und ich werde ihm eine scheuern, schwöre ich mir selbst, während seine Finger unbeirrt meinen Arm entlangfahren. Wieso versteht der Typ nicht, dass ich meine Ruhe will? Er fährt mir erneut über den Arm und ich öffne ein Auge.

Der Mann lächelt entschuldigend, doch ich brodle vor Wut. Was will er mir dieses Mal zeigen? Der braune Koffer seiner Schwester, der ganz oben auf dem Kofferwagen lag, hat mich nicht interessiert. Und auch der Sonnenaufgang eine halbe Stunde später, war mir egal. Das Kleinkind, das mir gewunken hat, war ebenso blöd wie alles andere, was dieser Fremde mir in den letzten zwei Stunden gezeigt hat.

"Was?", frage ich ungeniert und bemühe mich nicht länger um einen netten Ton oder ein vorgegaukeltes Lächeln. "Hast du den Großvater deiner Nichte fünften Grades entdeckt? Lass mich bitte einfach schlafen."

Das DU hat er mir schon beim Hinsetzen angeboten. Meiner Meinung nach sind wir dann zwei Stunden später auch nicht zu schnell für unseren ersten richtigen Streit. Ich schließe mein Auge wieder und drehe meinen Kopf von ihm weg.
Er räuspert sich und ich ignoriere es. Halt den Rand. Drohen die Worte aus mir herauszurutschen, doch ich halte sie zurück.

"Willst du wirklich, dass ich über dich klettern muss?", er lacht amüsiert und ich öffne mein Auge erneut. Ich bin verwirrt.

"Warum solltest du das tun?"

"Ich muss mal, aber du sitzt im Weg", er deutet auf die Flugzeugtoilette am hinteren Ende des Ganges. "Es ist gerade frei. Na mach schon, steh auf." Er schnallt sich demonstrativ ab.

"Ach so", entgegne ich und schäme mich fast ein bisschen, dass ich ihn so angefahren habe, ... andererseits haben wir noch vierzehn Stunden Flug vor uns und er bringt mich jetzt schon zur Weißglut.
Ich klappe meinen kleinen Tisch hoch, schnalle mich ebenfalls ab und räume ihm den Weg zum Gang.

"Danke." Er lächelt.

Ich setze mich wieder hin, ohne auf seine nervige Art einzugehen. Aus meinem Rucksack, der unter dem Sitz meines Vordermannes verweilt, krame ich meine dicken, schwarzen Kopfhörer raus. Wenn ich die Dinger trage, dann wird er mich sicherlich in Ruhe lassen. Ich schließe wieder die Augen und male mir aus, wie es in Neuseeland sein wird.
Ich werde endlich frei sein. Frei nach der verkackten Ausbildung, welche mich die letzten drei Jahre in einen harten, quietschenden Schreibtischstuhl gezwungen hat ...

Ich spüre den leichten Tritt gegen mein Bein und weiß, dass er es ist. Also stehe ich auf und lasse ihn wieder auf seinen Sitz.

"Was hörst du da", fragt er und beäugt meine Kopfhörer.

Ich verdrehe die Augen. "Wie wäre es mit Wie heißt du? eine Unterhaltung zu starten." Ich kann unfreundliche Menschen nicht ab.

Er reicht mir seine Hand. "Kijan Broder", sagt er und ich greife nach seinen ausgestreckten Fingern. "Wer bist du?", fragt er neugierig.

"Lya Minusa, wenn wir schon so vornehm sind, auch den Nachnamen zu nennen." Ich lasse seine Hand los und er lacht.

"Schön dich kennenzulernen, Lya Minusa."

Er dreht sich von mir weg und starrt aus dem Fenster, während er fragt: "Darf ich dich jetzt fragen, was du hörst oder muss ich erst weitere personenbezogene Daten aus dir herausquetschen?"

Ich presse meine Lippen aufeinander. Falls er sich lustig findet, dann hat er einen sehr schlechten Humor. Oder seine Selbstreflexion ist für den Arsch ... vielleicht auch beides. "Ich höre nichts", antworte ich kühl.

Er schaut weiterhin aus dem Fenster, als würde er nicht bloß gleichbleibend weiße Wolken sehen. Es ist schrecklich, ich kann lange Flüge nicht ausstehen. Er hingegen ist so euphorisiert, dass mir richtig schlecht wird.

"Warum hast du die Kopfhörer dann auf?" Endlich dreht er sich zu mir um. Seine blauen Augen sind ausdrucksstark und irgendwie bilde ich mir ein, dass sie traurig wirken. Fast schon, als würde ein tiefer Kummer sie besetzen. Dabei lächeln seine Lippen übertrieben freundlich. Sein Gesicht wirkt kurios.

Ich schüttle meine Gedanken ab und antworte gleichgültig: "Ich trage die Dinger, damit du mich nicht mehr nervst. Dann kann ich wenigstens überzeugender so tun, als würde ich dich nicht hören." Mein Blick ist hart, das weiß ich, doch er erfüllt seinen Zweck.

Der Fremde namens Kijan kramt in seiner Hosentasche. Dann zieht er Ohrstöpsel heraus und steckt sie sich ohne einen weiteren Kommentar in seine Ohren, lehnt seinen Hinterkopf an der Kopfstütze ab und schließt die Augen. Endlich habe ich meine Ruhe.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top