Woche vier [Edward Cullen]

Komischerweise wurde nichts besser.

Nun war ich schon vier Wochen hier in Denali, lebe zwischen für Menschen eisiger Kälte und überall herumwirbelndem Schnee. Ich ging jagen, fühlte mich eigentlich ganz normal, hatte manchmal Spaß mit Tanja, Kate und Irina, meist war ich jedoch allein unterwegs. Doch trotzdem war da irgendetwas, das mich daran hinderte, zufrieden zu sein.

Wenn die Sterne den Himmel zur späten Stunde erhellten und sich ihre Bilder über dem unerreichbaren Dunkelblau ausbreiteten, schaute ich nach oben, doch ich erkannte nur ihr Gesicht. Immer wieder schauten mich ihre großen, schokoladenbraunen Augen an, gefüllt mit unendlich vielen, stummen Fragen, die ich ihr niemals beantworten würde oder könnte. Die Blicke, die mich auf Schritt und Tritt verfolgten, waren gefüllt mit Liebe, Verzweiflung, Angst, Hoffnung. Diese offen lesbaren Augen, die dennoch so viel vor mir geheim hielten, waren das Einzige, was ich in den letzten Tagen, Stunden, Sekunden sehen konnte, und es schien kein Ende zu nehmen. Wenn sie von fern auf mich hinabblickte, spürte ich einen stechenden Schmerz in meinem Herzen, das schon längst nicht mehr schlug. Aber jetzt war es anders, ich fühlte nichts mehr, als wäre ich hohl. Als hätte ich es bei ihr gelassen …

Was denkst du da?, fragte die vernünftige Seite meiner selbst. Lass dieses Mädchen in Ruhe leben, verpfusche ihr nicht ihre Träume, tue das, was du ihr versprochen hast: Kehre nie wieder zurück, oder vielleicht nur, wenn sie wieder fort ist aus dieser kleinen Stadt!

Ja, diese Stimme in meinem Kopf hatte zweifelsohne Recht. Es war absolut nicht vernünftig, diesem zerbrechlichen Menschenkind nicht zumutbar, wenn ich zurückkehrte und weiter ihr Leben durcheinander brachte, was ich anscheinend tat. Auch wenn ich keinen Grund für dieses ganze Szenario nennen konnte, hieß das nicht, dass ich deswegen alles kaputt machen musste. Sicher hatte sie mich schon längst vergessen, lebte in den verregneten Tag hinein und traf sich mit diesem Jungen … Jacob war sein Name, schien es mir. Wieder war da dieser stromschlagartige Schmerz, der sich durch meine Brust zog. Was um Himmels Willen …?

Sei egoistisch, meinte das Monster, das ich so verabscheute, in mir. Geh zurück, sprich mit ihr, vielleicht wirst du dann aus ihr schlau. Lüfte ihr Geheimnis, gib doch zu, es interessiert dich ungemein, was sie vor dir verbirgt! Kehre zurück nach Forks, freunde dich mit ihr an und vielleicht darfst du dann auch von ihrem Blut …

Ich stellte es mir vor. Nicht das Letzte, sondern die Dinge, die ich für richtig hielt. Ja, Freundschaft wäre drin, ich würde es eh nicht aushalten, mich länger von ihr fernzuhalten, wenn ich in ihrer Näher war, musste ich mir peinlicherweise eingestehen. Wie wir beide in Biologie nebeneinander sitzen, über belanglose Themen reden und ich sehe, wie sie sich einfach nur wohl in meiner Gegenwart fühlt. Ich musste zugeben, so könnte die Zukunft wirklich gut aussehen.

Aber denk doch an ihr Blut, drängte die bestialische Stimme in meinem Kopf weiter. Denk daran, wie es wäre, sie zu schmecken. Wie die rote Flüssigkeit an deinem Kinn hinablaufen, wie das Blut deine Augen rot färben würde und wie satt du dich dann fühlen würdest. Es ist doch nur ein einfaches Menschenkind.

Ruhe!, schrie ich innerlich zu mir selbst. Sie war nicht irgendein Menschenkind. Und schon gar nicht einfach. Allein die Vorstellung grauste mir unerträglich sehr. Dieses weiche, zarte, fragile, tollpatschige, irgendwie liebenswerte Mädchen, das sich, die Hände vor sich haltend, vor mir schützen wollte, hinfiel und nicht mehr rennen konnte. Wie ich mich über sie beugte, meine spitzen Zähne in ihre Kehle grub und mir der süßliche, unbeschreiblich köstliche Geschmack ihres Blutes den Rachen hinunterlief, wie ich es riechen konnte, wie es in ihren Adern pulsierte, und wie sie dalag, hilflos und allein gelassen, in meiner Gewalt …

Stop.

Keinen Gedankengang weiter konnte ich gehen. Nicht, weil ich kein Monster sein wollte, nein, das war nicht der Hauptgrund. Der Grund, der mich eigentlich wirklich davon abhielt, mit solchen Gedanken auch nur zu spielen, war das Mädchen selbst. Ihre Art, wie sie ging und sich bewegte, ihre Stimme, leise und klar, ihr Haar, wie es im Wind wehte, ihre Augen, wie sie mich immer wieder zu fragen versuchten: Warum? Ihr Herzschlag, ihr Blut, das unter der zerbrechlichen, blassen Hülle ihrer Haut pulsierte, ihr Duft … Noch einmal raste der Stich durch meinen Körper, schneller, schmerzhafter. Ich hörte Schritte hinter mir, Schritte in der Wirklichkeit, doch noch immer war ich in meinen Gedanken gefangen, in denen es nur mich und sie gab. Wie sie mich berührte, ihre Hand, so klein und verwundbar, in meine legte, wie sie sich an mich schmiegte, meinem stillen Herz lauschte und meinen kalten Atem über ihr Haar streifen ließ. Beinahe konnte ich die siedende Hitze ihres Körpers auf meinem spüren, brennend zogen sich die imaginären Spuren über meine Haut.

Die Schritte, die sich mir näherten, wurden langsamer, bis jemand stehenblieb. Tanja.

Edward?, fragte sie mich in Gedanken.

Ich rührte mich nicht, also dachte sie weiter.

Wie geht es dir?

„Gut.“

Willst du mir noch immer nicht sagen, wieso du hierhergekommen bist?

Ich schüttelte unmerklich den Kopf. „Nein.“

Warum nicht?

„Ich habe meine Gründe.“

… die du mir nicht sagst, dachte sie verärgert.

Ich drehte mich zu ihr um. „Vielleicht verrate ich es dir irgendwann einmal.“

Okay, meinte sie nur und gab sich damit vorerst zufrieden. Und was wirst du jetzt machen?

„Ich weiß es noch nicht“, flüsterte ich, so leise, es war beinahe nur ein Hauch. „Es kann sein, dass ich mir hier ein eignes Iglu bauen werde, es ist aber auch möglich, dass ich morgen aufbreche und wieder nach Forks gehe.“

Sie stutzte. Woher kommt der plötzliche Sinneswandel?

„Verrate ich nicht“, sagte ich und streckte ihr die Zunge raus. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, mich böse anzugucken.

Deine Geheimnistuerei ist ganz schön ätzend, weißt du das?

Ich nickte.

Und … hast du noch mal darüber nachgedacht, was …

Sie brauchte nicht weiter zu denken, ich wusste, was sie meinte. „Ja, habe ich.“

Bist du zu einer Antwort gekommen?

Sie klang hoffnungsvoll, doch ich konnte dem nicht zustimmen. „Das schon, aber die wird dir nicht gefallen.“

Du hast eine Andere?

„Nein. Und bedenke, liebe Tanja, wir sind kein Paar. Du kannst nicht über mich bestimmen.“

Stimmt, dachte sie verärgert. Als sie mich anschrie, verzog ich keine Miene. Noch nicht einmal mit der Wimper zuckte ich.

„Edward, was willst du eigentlich? Kommst hierher und nistest dich bei uns ein, als wäre das selbstverständlich! Und dann, wenn ich bei meiner Gastfreundschaft, die ich dir überbringe, nicht einmal einen Dank von dir bekomme, dann erwartest du, dass ich das einfach so hinnehme?“

„Tanja“, sagte ich und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Ich werde nicht mit dir schlafen, nur weil es deine Vorstellung von Dank ist, denn ich sehe das ein wenig anders, und das weißt du auch. Ich mag dich, aber ich liebe dich nicht. Ich hoffe, du kannst das akzeptieren. Wenn ihr einmal meine oder auch die Hilfe meiner Familie braucht, sind wir jederzeit für euch da, so etwas machen Freunde, und das sind wir, dachte ich. Aber bitte verlange so etwas nicht von mir.“

Sie sah enttäuscht aus, und ich wunderte mich, dass sie daran überhaupt noch gedacht hatte. Hatte sie wirklich geglaubt, ich würde ihren Bitten so einfach nachgehen? Da kannte sie mich wirklich schlecht.

Wir sehen uns später, dachte sie nach einer Weile, jetzt niedergeschlagen.

„Ist gut.“

Sie verschwand. Ich drehte mich wieder zu dem mit Sternen übersäten Himmel und versuchte, die gelben Lichtpunkte auszumachen, doch wieder war alles, was ich sehen konnte, Isabella Swan.

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