Die Suche nach der Lichtung
Der eisige Wind ließ riesige Wellen gegen die Brandung schmettern.
Anfangs hatte ich geglaubt, dass der Schmerz nach ein paar Tagen oder Wochen, vielleicht auch Monaten nicht mehr so stark und intensiv wäre. Im Gegensatz dazu musste ich jedoch feststellen, dass alles von Stunde zu Stunde nur schlimmer wurde. Die Qual brannte sich unbarmherzig in mein Herz, die Flammen leckten unerträglich an allen Innenwinkeln meines Körpers. Sie zerfraßen meine Knochen, sodass ich jedes Mal Angst hatte hinzufallen, wenn ich ging oder versuchte zu rennen. Sie vernebelten meine Gedanken und ließen mich immer wieder Dinge sehen, die mich schier in den Wahnsinn trieben. Drei Wochen lebte ich jetzt in Forks. Drei Wochen in der Wirklichkeit, um genau zu sein. Alice kümmerte sich rührend um mich, saß beim Essen immer bei mir und hielt mich mit ihren Visionen auf dem Laufenden. Tag für Tag sprach sie mir Mut zu, munterte mich auf und wünschte mir Glück vor jeder Biologiestunde. Aber all das half nicht. Nichts hatte sich in diesen drei Wochen geändert, außer meinem Gesundheitszustand – Alice dachte darüber nach, mich ins Irrenhaus einliefern zu lassen.
Jetzt saß ich hier, auf dem modrigen Baumstamm, im kalten Februarwind. Vor mir das Meer wie es wütende und aufbrausende Wellen schlug. Hinter mir La Push. Neben mir Jake. Meine Sonne in der Dunkelheit, in der schwärzesten Nacht, im unheimlichsten Zustand. Ich musste einige Zeit bei ihm verbringen, sonst würde Alice tatsächlich im Hospital anrufen und mich abholen lassen. Er hatte mich, zumindest in meinem Traum, immer wieder auf die Beine gezogen, aufgerappelt und zum Leben erweckt. Selbst wenn er das klaffende Loch in meiner Brust nicht stopfen konnte, so konnte er wenigstens für ein paar Stunden den Schmerz lindern.
„Wie geht es Billy?“, fragte ich nach einer Weile des Schweigens.
„Gut.“
„Schön zu hören.“
Dann wieder Stille. Ich hielt es nicht aus.
„Bitte, Jake“, bat ich. „Sag irgendetwas, frag irgendetwas, tu irgendetwas. Hauptsache es lenkt mich ab.“
„Was willst du denn hören?“, fragte er. Seine Stimme war ungewohnt seidig und weich. Scheinbar machte er sich Sorgen, der Gute.
„Ähm …“, überlegte ich und sagte das Erstbeste, was mir in den Sinn kam. „Wie geht es Quil und Embry?“
„Du kennst sie?“ Er war verblüfft.
„Jake …“, erinnerte ich ihn ungeduldig.
„Ach so, ja.“
„Und?“
Jake blickte hinaus aufs Meer. Ich folgte seinem Blick und stellte überrascht fest, dass die Sonne schon unterging. Gleichzeitig seufzten wir. Ich wollte nicht, dass dieser Tag mit ihm zu Ende ging, und er wollte es offensichtlich ebenso wenig.
„Den beiden geht es gut“, antwortete er schließlich. „Sie sind aufgedreht und witzig, wie du sie vielleicht kennst.“ Er zwinkerte mir zu.
„Hmm.“
Er wandte den Blick vom Wasser ab und schaute mich an. „Worüber möchtest du reden?“ Wieder war seine Stimme warm und weich und legte sich um mich wie ein Seidentuch.
„Jake, über irgendetwas. Unterhalte mich einfach irgendwie.“
Er schien zu überlegen. Zuerst bemerkte ich es nicht, doch als er näher zu mir rutschte und seine Hand in die Richtung von meiner zuckte, sah ich, wie seine rostbraune Haut an den Wangen einen roten Schimmer bekam. Es war merkwürdig zu beobachten, wie alles von neuem begann. Doch das Schöne daran war: es störte mich nicht. Ich fühlte mich wohl, wenn er meine Hand nahm, so wie jetzt, und sie mit seiner großen, warmen, schützenden Hand umgab. Wenn er mich berührte oder sich an mich lehnte, tauchte ein leises, schüchternes Kribbeln in meinem Bauch auf. Nicht zu vergleichen mit dem gewaltigen Gefühl, das Edward bei mir auslöste, aber immerhin spürte ich es. Und es fühlte sich gut an.
„Der Tag ging so schnell vorüber, nicht?“, fragte er mich.
Ich nickte. „Unglaublich schnell. Zu schnell.“ Vorsichtig rutschte ich noch näher an seine Seite, sodass ich meinen Kopf an seine breite Schulter legen konnte. Dann hatte ich urplötzlich eine Idee, die ich sofort umsetzen musste, obgleich es in einer Stunde stockduster sein würde. Jake wäre ja bei mir.
„Jake?“ Ich war jetzt richtig aufgeregt.
„Ja?“
„Sag mal …“, sinnierte ich. „Was hältst du von Nachtwanderungen?“
Seine Augen weiteten sich. „Wir beide? Wohin?“
„Komm. Ich erklär es dir, wenn wir im Auto sitzen.“
Ich stand auf, seine Hand umhüllte immer noch meine, und zog ihn mit mir zu meinem Transporter. Während ich mich hineinsetzte, überschlug sich mein Herz holprig und donnerte dann doppelt so schnell in meiner Brust. So aufgewühlt und voller Tatendrang war ich nicht gewesen seit meiner Ankunft in Forks. Ich konnte es kaum erwarten, endlich dort zu sein.
Ein Platz, abgeschieden von Zeit und Ort.
Eine Wiese, so wunderschön und bezaubernd, umringt von dicht aneinander stehenden Bäumen und Büschen.
Eine Lichtung mit einer Erinnerung, die mir eine Gänsehaut von Kopf bis Fuß und durch Mark und Bein bereitete und mich das Atmen vergessen ließ.
Denn, es war seine Lichtung.
„Bella!“
„Was denn?“
„Weihe mich doch bitte endlich ein!“
Ich seufzte. „Gleich.“
Wir flogen beinahe über die Straße, so schnell raste ich über den Highway. Mein ganzer Körper bebte vor Aufregung, nur der Gurt des Sitzes hielt mich an meinem geordneten Platz. Und genauso wie ich äußerlich zitterte, polterte auch mein Herz und ich atmete keuchend und stockend. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Vielleicht würde ich ihn dort treffen. Aber das war unwahrscheinlich, beinahe fiktiv; er bevorzugte diesen Ort nur bei Sonnenschein, weil er so abgeschieden von der Öffentlichkeit war und niemand sonst dahin gelangte. Und was, wenn dieser herrliche Platz, der mich und Edward in meinem Traum so gefährlich nahe gebracht hatte, nur ein Trugbild war, ein endgültiges Hirngespinst? Es würde mich umbringen und mir jeglichen Glauben an Hoffnung nehmen, das stand fest.
„Ist jetzt ‚gleich‘?“, setzte Jake wieder an.
Energisch atmete ich aus. „Okay. Ich erzähl es dir. In meinem Traum bin ich mit Edward auf einer wunderschönen Lichtung gewesen. Sie ist einfach himmlisch und ich muss dorthin. Beantwortet das deine Frage?“ Mir war nicht nach erklären zumute, schließlich musste ich mich auf die Fahrbahn konzentrieren, um bei meinem Tempo nicht gegen einen Baum zu krachen.
„Und du musst diese Lichtung natürlich jetzt sofort suchen. Die Sonne ist sicherlich gleich ganz hinter dem Horizont verschwunden“, stöhnte Jake und lehnte sich, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, an die Rückenlehne seines Sitzes.
„Nein“, erwiderte ich. „Sonst werde ich morgen früh aufwachen und riesige Augenringe haben, weil mich diese Möglichkeit, mehr Hoffnung und Glauben zu bekommen, um den Schlaf bringen wird.“
„Aha.“ Das war alles, was er sagte.
Ich fand die Einfahrt, die Edward und ich eingeschlagen hatten als er mir die Lichtung das erste Mal gezeigt hatte auf Anhieb und hüpfte regelrecht aus dem Auto, nachdem ich hektisch den Schlüssel herausgenommen hatte. Mir war danach, gleich in den Wald zu rennen und über Stock und Stein zu stolpern, insofern es mich dieser Wiese näherbringen würde.
Noch einmal drang Jakes Stimme an mein Ohr. „Und du bist dir sicher, dass du es wiederfindest?“, fragte er. „Ich meine, im Dunkeln?“
„Natürlich“, antwortete ich, ein wenig beleidigt. Was dachte er denn von mir?
„Ich hoffe, du weißt, dass ich mein Leben in deine Hände lege“, meinte er theatralisch.
„Du bist albern.“
„Aber ehrlich.“
„Ich passe schon auf, dass du nicht verloren gehst.“
Trotz meines Versprechens auf ihn aufzupassen, was eigentlich lächerlich war, stand er neben mir und blickte skeptisch in die düsteren Tiefen des Waldes, der uns zu der Lichtung führen sollte. Es kribbelte mir in allen Gliedern, doch dann fiel mir etwas ein, als ich sah, wie dunkel es inzwischen war.
„Jake? Hast du eine Taschenlampe?“
Er lachte. „Du hast doch nicht ernsthaft vergessen eine mitzunehmen, oder?“
„Würde ich sonst fragen? Also, hast du eine?“
Jake griff in seine Hosentasche und holte ein kleines, mattgrünes Feuerzeug heraus. „Nein, aber dafür das.“
„Was für eine Erleuchtung!“, sagte ich und stimmte in sein Lachen mit ein. Dann machten wir uns auf den Weg.
Zuerst war ich voller Zuversicht, ohne Probleme zu der Lichtung zu gelangen. Schließlich war ich in meinem Traum oft dort gewesen, in guten wie in schlechten Zeiten. Ich musste einfach nur geradeaus gehen und irgendwann würde ich schon ankommen, so nahm ich an. Aber ich hatte falsch gedacht. Es war außerordentlich schwer, irgendetwas in dem schwachen Kerzenlicht zu sehen, das das Feuerzeug von sich gab, und nicht gegen einen Baum zu laufen oder über einen Busch zu fallen. Bald waren meine Hosenbeine am Saum kaputt und zerfetzt und meine Schienbeine sahen auch nicht besser aus. Das Vogelgezwitscher, das uns umhüllt hatte, als wir die Suche begonnen hatten, war längst erstorben. Der sonst so herrlich frische Duft der Blätter und Blüten legte sich unangenehm in meine Nase und brachte meinen Magen zum rumoren. Es war unheimlich, trotz dass Jake nur wenige Meter neben mir war.
Schließlich brauchte ich eine Verschnaufpause und setzte mich auf einen hohlen Baumstamm, zog meine Schuhe von den schmerzenden Füßen und streckte mich. Jake tat es mir nach, er grinste.
„So“, begann er und sah sich forschend in dem Meer von Bäumen um. „Wo sind wir denn jetzt, Bella?“
„Pff … Klugscheißer“, grummelte ich.
„Wenigstens habe ich nicht behauptet, ich wäre Pfadfinder.“ Sein Grinsen wurde breiter und wirkte in dem spärlichen Kerzenschein gespenstisch.
Ich atmete genervt aus und sah ihn an. „Was genau willst du jetzt von mir hören?“
„Dass wir lebend wieder hier heraus finden.“
„Jaja, keine Angst. Irgendwo muss ja auch mal ein Ausgang sein.“
Auch ich ließ jetzt einen prüfenden Blick durch den Wald schweifen. Wieso musste es unter den hohen Baumkronen auch immer so dunkel sein, wenn es Nacht war? Ich schaute über meine Schulter und stutzte. Aus welcher Richtung waren wir gekommen? Zu meiner Erschütterung musste ich feststellen, dass ich es nicht mehr wusste; ich konnte es noch nicht einmal mehr annähernd sagen. Aber das sollte Jake nicht mitbekommen, diesen Triumph konnte ich ihm jetzt nicht gönnen. Noch einmal nahm ich einen heftigen Atemzug, dann nahm ich meine Schuhe, zog sie mir wieder über die mit Blasen übersäten Füße und stützte mich mit den Händen auf meinen Knien ab, um aufzustehen. Jake sah zu mir hoch.
„Frau Pfadfinderin hat eine Entscheidung getroffen?“, fragte er und sein Gelächter schallte im Wald.
„Du könntest zur Abwechslung ja auch mal etwas von dir geben, das uns nützen könnte“, erwiderte ich zischend.
Er war auch aufgestanden und stemmte die Hände in die Hüften. „Wie es in den Wald hinein ruft … das hat meine Mutter immer gesagt.“ Er verzog das Gesicht. „Okay, ich soll auch etwas Kluges von mir geben? Hmm … Ich würde vorschlagen, da wir aus dieser Richtung gekommen sind“, er streckte seinen Arm nach hinten, „sollten wir uns nach vorne bewegen“, sagte er und zeigte jetzt auf das Gebüsch vor mir.
Plötzlich bekam ich Angst. Was, wenn wir hier nicht herausfanden? Charlie wäre stinksauer auf mich, wenn er es nicht schon längst war. Kaum war ich hier, schon bereite ich ihm nichts als Probleme. Ich packte Jakes Arm und umklammerte ihn, sodass sich meine Fingernägel in seine Haut gruben.
„Jake, was ist, wenn wir hier wirklich nicht mehr herausfinden?“
Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus, nicht hämisch oder neckend, eher liebevoll. „Dummerchen. Natürlich finden wir hier raus. Nichts leichter als das.“
Ich schnaubte. „Aha. Und wieso sind wir dann hier gelandet, wenn du dich so gut auskennst, wie du tust?“
„Weil ich dir die Führung überreicht habe“, erwiderte er, ohne mit der Wimper zu zucken.
Idiot!
Nach einer Weile stellte sich heraus, dass auch er uns weder zu unserem Ziel noch zurück bringen konnte. Je weiter wir gingen, desto dichter standen die Bäume und Büsche beieinander, als wollten sie uns verschlingen. Es bereitete mir eine schiere Gänsehaut zu wissen, dass wir verloren waren. Aber noch schlimmer daran war, dass es meine Schuld war. Hätte mich nicht der Tatendrang von dieser dämlichen Idee gepackt, jetzt sofort die Lichtung aufzusuchen, würden wir jetzt bei Jake zu Hause oder in seiner Werkstatt sitzen, eine warme Cola trinken und uns unseres Lebens freuen, wenn auch nur mäßig. Aber wir wären in Sicherheit. Ich hatte keine Ahnung, was in diesem Wald lauerte, und so genau wollte ich das auch gar nicht wissen; es hätte mich nur mehr in den Wahnsinn getrieben. Die ganze Zeit, da wir über den Moosbedeckten Boden stolperten, hielt Jake meine Hand in seiner und gab mir so ein kleines bisschen Sicherheit an diesem gruseligen Ort.
„Bella, sieh mal!“, rief Jake auf einmal und ich zuckte zusammen.
Sein Arm war ausgestreckt, seine Finger zeigten auf ein kleines, hölzernes Häuschen, das von Kletterpflanzen und Gestrüpp umgeben war. Das Dach war von Blättern bedeckt und die Tür war moosbewachsen. Es sah gemütlich aus in dieser grünen Einöde. Ich wunderte mich, wieso ich alles so genau erkennen konnte, schaute nach oben und wurde von dem grellen Licht, das der Halbmond von sich gab und durch ein Loch in der Blätterdecke schien, beinahe geblendet. Bevor ich etwas erwidern konnte, zog mich Jake auch schon darauf zu. Als er den Türgriff umfasste und meine Hand losließ, um die Tür zu öffnen, umfasste ich wieder seinen Oberarm und klammerte mich fest. Ich war immer noch zu keinem Ergebnis gelangt bei der Frage, was für Tiere hier herumkreisten, und man musste ja sein Schicksal – gerade, wenn es so wagemutig wie meines war – nicht herausfordern.
„Und wenn darin jemand ist?“, flüsterte ich.
Er kicherte leise. „Was will denn jemand um diese Uhrzeit in so einer Hütte, abgeschieden im Wald?“
„Das könnte man uns auch fragen“, murmelte ich.
„Stimmt“, flüsterte er zurück. „Aber ich sehe kein Licht von innen. Du?“
Ich ließ meinen Blick kurz zu den Löchern schweifen, die wahrscheinlich einmal mit Glas verschlossen gewesen waren und schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Na also“, stimmte er mir zu. „Oder legst du es so besessen darauf an, hier draußen zu erfrieren?“
Ich schauderte. „Ehrlich gesagt fürchte ich mich nicht vorm erfrieren, wenn ich hier draußen bin“, gestand ich leise und deutete auf die dunklen Stellen unter den Bäumen. „Wer weiß, was darunter lauert und mich fressen will.“
„Ich werde dich beschützen“, versprach er mir. Was für ein Trost!
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