Alle lieben Bella ... nur er nicht
Das nächste, was ich mir zulegen werde, ist ein neuer Computer, dachte ich mir.
Ich saß bei Charlie zu Hause in meinem Zimmer und tippte wütend auf der Tastatur meines Steinzeit-PCs herum. Ich wollte doch nur ein Lied suchen, nur ein einziges Lied. Eine Melodie, die mich sicherlich bittere Tränen weinen lassen würde, die das Loch in meinem Herzen größer werden lassen würde, doch ich wollte es hören, musste es hören.
Als der Computer endlich hochgefahren war und ich das Internetfenster geöffnet hatte, tippte ich die Seite ein, die ich suchte und gab den Titel des Liedes in das Suchfeld ein. Clair de Lune. Eines meiner Lieblingslieder. Und eines seiner Lieblingslieder. Das erste Mal hatte ich es gehört, da war ich gerade erst drei Jahre alt gewesen. Renée war schon immer ein Klassik-Fan gewesen, deswegen schwirrten ständig Mozarts oder Debussys Noten durch unser Haus. Ich fand schnell Gefallen an solchen Musikstücken, doch nie hat mich eines so mitgerissen wie Clair de Lune. Es war so süßlich und verspielt, ein wenig geheimnisvoll, immer wenn ich es anhörte, tanzte ich dazu. Meine Mutter fand das jedes Mal amüsant, sodass sie sich zu mir gesellte und wie ich durch das Zimmer hüpfte. Sie blieb dann immer standhaft, ich fiel an Tischkanten, Schrankgriffe oder sonstige gefährliche Möbelstücke. Aber ich stand immer wieder auf und tanzte erneut.
Als ich auf Play klickte und das Lied seine Melodie in meinem Zimmer verteilte, ließen die Tränen nicht lange auf sich warten. Es war der Tag gewesen, an dem wir in Biologie Blutgruppen untersuchen sollten. Ich war so abgeneigt gegen den salzigen, rostigen Geruch von Blut gewesen, dass mir schlecht wurde und ich von Mike zum Krankenzimmer hätte gebracht werden sollen. Doch als wir über den Schulhof liefen und ich mich nicht mehr oben halten konnte, war er auf uns zugekommen. Edwards besorgte Stimme schwirrte mir im Kopf, wie er meinen Namen gerufen hatte. Damals hatte ich ihn mir am liebsten weggewünscht, für den Fall, ich könnte mich über seinem Pullover übergeben. Doch er hatte mich aufgehoben und zur Krankenschwester gebracht. Ihn hatte die Tatsache, dass ich kein Blut sehen konnte, zum Grinsen gebracht. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht wieso, jetzt natürlich schon. Er musste sich gefragt haben, wie viel Ironie denn noch möglich war.
Danach saßen wir in seinem Volvo, nachdem er Mrs Cope versprochen hatte, mich nach Hause zu bringen. Ich war mir absolut sicher gewesen, allein fahren zu können, doch Edward schien da anderer Meinung gewesen zu sein. So saß ich neben ihm auf dem Beifahrersitz und war nicht minder überrascht, dass, als das Radio ansprang, Clair de Lune das kleine Fahrerhäuschen in seine Noten einhüllte. Er war ebenso verblüfft gewesen, dass ich es kannte. Die Vorstellung, dass wir beide eine Gemeinsamkeit hatten, hatte mein Herz höher schlagen lassen. Viel zu schnell war diese Fahrt vorbei gewesen, selbst wenn er nicht so gerast wäre, der Weg von der High School bis zu Charlies Haus war nur ein Katzensprung. Irgendetwas hatte mir gesagt, dass er mich nicht gehen lassen wollte, und ich glaubte zuerst, völlig den Verstand verloren zu haben.
Ich drückte mit meinem Fuß auf den aus-Schalter des Computers, erlosch somit die Magie, die Clair de Lune in das Zimmer gebracht hatte, bevor alle Erinnerungen mit mir durchgehen konnten. Es war schon spät und wenn sich vor dem Einschlafen zu viele Bilder in meinem Kopf abspielten, würde ich gar nicht schlafen können. Dann drang Charlies Stimme zu mir hoch.
„Bella, willst du noch etwas essen?“, rief er.
Mein Magen schrie förmlich nach Nahrung, doch der Appetit ließ zu wünschen übrig.
„Nein, danke Dad.“
Einen kurzen Moment schwieg er. „Na gut. Dann schlaf gut!“, sagte er schließlich und ich hörte noch seine schlurfenden Schritte, bevor ich die Tür schloss.
Um ehrlich zu sein, fürchtete ich mich ungemein vor dieser Nacht. Trotzdem zog ich mir mein zerschlissenes T-Shirt und die löchrige, alte Jogginghose an, die ich immer nachts trug. Dann huschte ich unter die Bettdecke, nicht ohne vorher das Fenster Sperrangelweit zu öffnen. Ich rollte mich in meiner Schlafstellung zusammen und sah dem Schmerz entgegen, der immer auf diese Tageszeit wartete, um mich aufzufressen. Doch nichts geschah. Es ziepte ein bisschen in der Magengegend, vielleicht weil ich nichts gegessen hatte, es stach ein wenig in meinem Herzen, ansonsten spürte ich nichts. Nun ja, nicht ganz nichts. Ich fühlte mich leer, ausgelaugt, kaputt. Und obwohl mir nicht nach Lachen zumute war, musste ich grinsen, als ich an die Begegnung mit Sam dachte.
Ein Warmblüter. Ich würde bald in einem Duden nachschauen, ob es so etwas gab, und wenn ja, was es war. Mit diesem Gedanken schlief ich ein, zu meiner großen Verwunderung, ohne Traum.
Als mich am nächsten Tag der Wecker aus dem Schlaf riss, dachte ich schon, jemand hätte daran herumgedreht und ihn auf vier Uhr nachts gestellt. Die Sonne war nicht zu sehen, wie fast jeden Tag, doch als ich aus dem Fenster schaute, sah es aus wie die finsterste Nacht. Dicke Schleier zogen sich gespenstisch über den eigentlich blauen Himmel und ließen ihn grau und düster erscheinen. Ich konnte keine einzige Wolke erkennen, es schien alles voller Nebel zu sein. Er war so dicht, dass ich nicht einmal den Wald, der an unser Haus grenzte, erkennen konnte. Mit einem Blick auf den Wecker vergewisserte ich mich dann, dass ich nicht zu früh aufgewacht war. Ich war kurz davor, mich noch einmal in die Kissen plumpsen zu lassen, denn dieser Tag würde mit Garantie ein sehr schlimmer werden, wenn er schon so begann und so grausig aussah. Und doch schwang ich meine Beine über die Bettkante und klaubte Klamotten aus meinem Kleiderschrank, dann ging ich hinunter in die Küche. Wie immer saß Charlie schon da und las die heutige Zeitung.
„Morgen Dad“, begrüßte ich ihn. „Und, gibt es etwas neues in Forks?“
Er sah kurz von der Zeitung auf. „Guten Morgen, Schatz. Naja, das übliche eigentlich. Außer, dass schon wieder eine Leiche gefunden wurde.“
Meine Augen weiteten sich. Eine Leiche. Schon wieder. Sofort sah ich die drei Personen vor meinem inneren Auge, die mir so einige Probleme beschafft hatten. Laurent, Victoria und James. Wüteten sie etwa wirklich hier? Zum ersten Mal verfluchte ich die Tatsache, dass alles wahr zu werden schien – außer dem, was wahr werden sollte.
„Eine Leiche?“, stellte ich mich dumm. „Wie wurde dieser jemand getötet?“
„Wahrscheinlich durch ein Tier.“
Volltreffer. Na super, dachte ich.
„Du sagtest ‚schon wieder‘. Wurde denn schon einmal jemand von einem Tier getötet?“
Er nickte und sah mich verbissen an. „Ja, letzte Woche.“
„Oh.“
Das war auch schon alles, was unsere Konversation anbelangte. Er murmelte noch „Tschüss, Bells.“, dann ging er hinaus und die Tür knallte hinter ihm zu. An diesem Morgen hatte ich mir kein Frühstück gemacht, und jetzt war ich dieser Intuition sehr dankbar; in mir drehte sich alles, mein Magen wand sich um sich selbst und mir war speiübel. Ich trank noch ein Glas Wasser, zog mir meine Jacke über und ging hinaus. Eiskalt und unangenehm legte sich der Nebel auf meine nackte Haut in Gesicht und Nacken, meine Hände schienen gefroren zu sein. Als ich mich in meinen Transporter setzte, schaltete ich als erstes die Heizung ein und saß noch eine Weile da, ohne irgendetwas zu tun.
Was hieß es jetzt für mich, zu wissen, dass die drei Nomadenvampire wahrscheinlich hier in Forks ihr Unwesen trieben? Stellten sie eine Gefahr für mich dar? Und wenn ja, konnte ich daraus irgendeinen Vorteil ziehen, was Edward anging? Ich überlegte. Nehmen wir einmal an, dachte ich mir, sie wären wirklich hier. Nehmen wir einmal an, ich würde sie treffen, mich ihnen also hilflos aussetzen. Nehmen wir einmal an, Alice würde es als eine Vision sehen. Und nehmen wir einmal an, sie würde es Edward erzählen, auf meine Bitte hin, und ihn darum betteln, mich zu retten, da nur er dazu imstande war. Wenn das alles so passierte, wie ich es jetzt vor mir sah, würde es etwas zwischen der kritischen Bekanntschaft von mir und Edward ändern? Und wenn ja, wie viel würde es ändern? Wäre es genug, um mich glücklich zu machen?
Ich schüttelte diese Gedanken ab. Keine gefährlichen Aktionen mehr, darum hatte mich Alice gebeten, denn sonst liefe ich ernsthaft Gefahr zu sterben. Ohne Edward. Und selbst wenn ich starb, so wollte ich es zumindest in seinen Armen tun, ihn das Letzte sein lassen, was ich mit meinen Augen sehen würde. Wieder verwarf ich diese Hirngespinste. Nicht an den Tod denken, sagte ich mir. Denk an Edward, denk an eine Zukunft mit ihm, denk an den Weg, den du bis dahin gehen musst! Somit startete ich den Motor und fuhr los.
Ich war ein bisschen spät dran, deswegen musste ich ein paar Minuten lang einen Parkplatz suchen. Es gab noch ein paar in der Nähe des silbernen Volvos, doch diese Plätze vermied ich und stellte meinen Chevy schließlich neben dem Wäldchen ab. Der Nebel verzog sich nur sehr langsam, deswegen erkannte ich erst nach einer ganzen Weile, dass Mike gar nicht weit von mir stand und auf mich wartete. In meinem Traum war ich vergleichsweise oft im Gegensatz zur Wirklichkeit mit ihm unterwegs gewesen. Doch er schien mich nicht vergessen zu haben, denn als ich auf ihn zuging, strahlte er übers ganze Gesicht. Seine Wangen mussten ihm wehtun, so breit war sein Grinsen.
„Guten Morgen, Bella“, begrüßte er mich fröhlich.
„Hi Mike.“
Er griff sich mit der linken Hand an den Nacken. Oh Gott, er war verlegen. Ich wusste ganz genau, was jetzt kommen würde.
„Du, Bella, ich …“
„Ja?“
„Es ist ja bald der Frühjahrsball, und da wollte ich dich fragen, also …“ Er räusperte sich. „Ob du vielleicht mit mir hingehen möchtest.“
Genau das hatte ich erwartet. „Oh“, sagte ich deswegen nur.
Er wartete, ich musste irgendetwas sagen. Wie hatte ich nochmal alle abgewimmelt? Wohin hatte ich ihnen gesagt, würde ich fahren …? Ah, Seattle.
„Du, Mike, ich fahre an dem Wochenende nach Seattle. Tut mir leid.“
Er atmete langsam aus. „Und das kannst du nicht … verschieben?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ehrlich.“
„Hmm“, machte er nur. Mir fiel ein, wem ich eine Freude machen könnte.
„Ich wüsste da jemanden, den du fragen könntest.“
Er blickte auf. „Und wen?“
Ich zeigte mit dem Finger auf sie, da sie gerade zur Schultür hineinging. „Jessica würde sich echt freuen.“
„Jessica? Ach so. Und du meinst …?“
„Klar“, sagte ich und nickte. Dann leuchteten seine Augen.
„Okay. Danke, Bella“, sagte er, dann ging er vornweg und holte Jessica noch ein. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was ich mir heute wieder in Mathe anhören müsste.
Als ich so neben ihm gegangen war, hatte ich gar nicht bemerkt, dass wir genau auf den silbernen Volvo zusteuerten. Jetzt noch umzukehren und einen Umweg zu machen, hätte mich bei den anderen als verrückt abgestempelt, deswegen nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und ging schnurstracks an diesem Auto vorbei, ohne es auch nur eines Blickes zu würdigen. Obwohl mich das an meinem Verstand zweifeln ließ, hätte ich schwören können, Augen auf mir zu spüren. Goldbraune Augen. Und selbst wenn, dann war es sicherlich Alice, redete ich mir ein. Ja genau, es war Alice, wer sonst sollte mich so fixieren, dass ich es fühlen konnte? Nur Alice …
„Hey, Bella“, rief jemand. „Warte mal!“
Erschrocken fuhr ich aus meinen Gedanken hoch und drehte mich um. Erleichtert atmete ich auf, als ich sah, wie sich Eric mir rennend näherte. Als er sah, dass ich mich umgedreht hatte, hob er eine Hand und winkte mir zu. Ich lächelte und winkte zurück. Als er mich erreichte, stand ich direkt vor dem silbernen Auto.
„Bella, ich … wollte dich“, schnaufte er, dann holte er tief Luft und begann von neuem. „Es ist ja bald der … Frühjahrsball.“
Na Toll. „Hmm?“
„Also“, fing er zögernd an, „ich wollte dich fragen, ob du … vielleicht … mit mir …“ Er brach ab und wurde puterrot.
Obwohl es mir leid tat, ihn so bloßzustellen, wollte ich diese peinliche Situation schnellstens beenden. „Ja?“
„Ob du mit … mir … hingehen möchtest …“ Er schien sehr erleichtert, als er diesen Brocken endlich ausgespuckt hatte.
„Tut mir leid, aber“, sagte ich und merkte, wie seine Freude über seinen Mut sofort wieder verschwand, „ich bin an diesem Wochenende in Seattle.“
Ich dachte, es wäre schier unmöglich, noch roter zu werden, doch er bekam das hin. „Oh.“
„Und“, sprach ich weiter, bevor er danach fragen konnte, „verschieben geht nicht. Entschuldige.“
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Schon gut, daran kann man ja nichts ändern, stimmt’s?“
Ich nickte nur, dann gingen wir schweigend weiter. Ich glaubte langsam wirklich verrückt zu sein, doch ich war mir beinahe absolut sicher, jemanden aus dem Fahrerhaus heraus grinsen gesehen zu haben. Wenn das so weiterging würde ich mich doch bei einem Psychiater anmelden, nahm ich mir vor. Als wir zum Eingang gelangten und ins Schulhaus gingen, wartete schon Jessica auf mich, ihre Augen funkelten vor Freude und sie hüpfte aufgeregt auf und ab. Ich war ja selbst schuld.
„Bella!“, rief sie, und ich ignorierte sie vorerst, vielleicht würde sie es dann doch lassen und Angela alles haarklein erzählen, dachte ich mir. Zu blöd nur, dass es dabei um Jessica ging, sie war hartnäckig.
„BELLA! HIER!“, schrie sie, noch lauter. Ich gab mich geschlagen, drehte mich in ihre Richtung und ging auf sie zu. Eric blieb stehen und schaute mir nach.
„Hi, Jess“, begrüßte ich sie.
Sie hüpfte immer noch vor Glück. Ich wunderte mich, wieso der Boden nicht bebte.
„Hi Bella. Oh mein Gott, du ahnst nicht, was gerade passiert ist, ich bin so glücklich. Soll ich es dir erzählen? Ja klar willst du es wissen, also, vorhin stand ich bei meinem Auto, und da kam Mike auf mich zu und dann …“, plapperte sie und ich fragte mich, ob es für sie möglich wäre, ihre eigene Zunge zu verschlucken, so schnell wie sie sprach. Für einen klitzekleinen Moment wünschte ich mir, sie täte es.
Irgendwann blendete ich dann alles aus, da ich die Geschichte ja schon ungefähr kannte, und selbst wenn nicht; ich war nicht gerade erpicht darauf, sie bis in jedes kleinste Detail zu kennen. Selbst als wir ins Klassenzimmer gingen und der Unterricht schon begonnen hatte, redete sie ununterbrochen weiter. Ich war wirklich mehr als erleichtert, als der Lehrer sie ermahnte und sie von da an ruhig sein musste.
Der Vormittag an ihrer Seite war nicht unbedingt einfach. Jessica quasselte und quasselte wie ein Wasserfall, schlimmer noch; ich hatte ehrlich Angst um meine Ohren und heute Nachmittag musste ich wohl das Telefon ausstöpseln. Aber im Vergleich zu der Biologiestunde, die auf diesen Vormittag folgte, war ihr Stimmorgan eine regelrechte Bereicherung. Mir graute es ungemein vor dieser Stunde. Nicht, weil er mir etwas antun könnte, nicht, weil seine Worte mich verletzen könnten, das alles war lächerlich im Gegensatz zu seiner Ignoranz, die er mir jedes Mal, wenn wir uns zu nahe kamen, aufs heftigste ins Gesicht und in die Magengrube schleuderte. Diese Dinge waren auch nichts gegen die schrecklichen Träume, die ich nach solchen Stunden immer durchleben musste. Ein klitzekleiner Lichtblick wartete dann in der Mittagspause auf mich; Alice. Sie war schließlich der einzige nennenswerte Grund, den ich aufbringen konnte, in den Biologieunterricht zu gehen.
Meine Beine zitterten unheimlich, als ich das Klassenzimmer betrat und zu unserem Tisch blickte. Er saß schon da, seine goldbraunen Augen auf mich gerichtet. Wacklig ging ich voran und setzte mich mit einem Seufzer neben ihn auf meinen Stuhl. Ich packte die Bücher und meinen Hefter aus und begann wieder, auf letzterem herum zu kritzeln.
„Hallo … Bella.“
Ruckartig fuhr ich hoch und wurde sogleich von seinen himmlischen Augen hypnotisiert. Wie schon so oft schlug mir die Gewalt seiner verwirrend perfekten Schönheit ungehindert entgegen und hinterließ einen brennenden Schmerz. Ich versuchte zu schlucken, versagte aber kläglich; meine Kehle war total ausgetrocknet und jeder Atemzug, mit dem ich meine Lungen füllte, tat weh. Der Moment, in dem wir uns so anschauten, war nicht länger als der Bruchteil einer Sekunde, und doch war es zu lange für meine Gesundheit. Die Nacht, die auf diesen Tag folgen würde, würde für mich zur Qual werden. Schönen Dank auch, Edward!, ging es mir durch den Kopf. Unwillkürlich musste ich schmunzeln, als ich diese Worte vor mir sah. Eine merkwürdige Reaktion …
„Was ist?“, fragte er und war sich dem unwiderstehlichen Klang seiner Stimme wahrscheinlich gar nicht bewusst. Auch er lächelte jetzt.
Ich schüttelte den Kopf und als ich sprach, was es nur ein krächzen. „Nichts.“
„Ach so.“ Sein Lachen verschwand und er drehte sich, es sollte wohl beleidigt aussehen, von mir weg in Richtung Tafel. Das konnte ich auch, sagte ich mir und tat es ihm nach.
Ich musste all meine Kraft darauf verwenden, gelassen und unbekümmert auszusehen, was mir ungemein schwer viel. Neben ihm zu sitzen, wie er starr nach vorne schaute und sich wahrscheinlich gerade fragte, warum ich gelacht hatte, wie mein Gehirn arbeitete und wieso er meine Gedanken nicht lesen konnte, und dann auch noch ruhig zu bleiben, war alles andere als einfach. Obwohl ich jetzt im Moment ja nicht besser war als er – ich ignorierte ihn so wie er mich – hätte ich ihn für seine verdammte Coolness verfluchen können. Warum durfte es mir nicht auch vergönnt sein, so gut abschalten und ausblenden zu können? Wieso musste es gerade er sein, der mir immer wieder eine Antwort entlockte, nur durch seine Augen und Stimme, die mich jedes Mal aus der Fassung brachten? Es war alles verdammt noch mal nicht fair …
„Und … genießt du deinen Aufenthalt in Forks?“, hörte ich ihn plötzlich sagen, blieb aber so starr und steif sitzen, damit seine Blicke nicht wieder meine Denkweise vernebeln konnten.
Was für eine dumme Frage. „Um ehrlich zu sein … nein.“ Jetzt konnte ich doch nicht anders, als ihn anzublicken. Seine Stirn war in tiefe Falten gelegt. Vielleicht dachte er darüber nach, ob er daran schuld war, dass ich es hier nicht genießen konnte. Diese Vorstellung gefiel mir.
„Darf ich fragen, wieso?“
„Meinetwegen“, flüsterte ich.
Er wartete, seine Augen durchbohrten mich.
Dachte er wirklich, ich würde ihm auf einmal alles erzählen? „Was?“
„Naja, deine Antwort?“ Er schien verwirrt.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich sagte, du darfst fragen, wieso es mir hier nicht gefällt. Das heißt aber nicht, dass ich antworten muss, oder?“
Edward kniff die Augen zusammen. „So etwas in der Art hatte ich erwartet.“
„Und wieso fragst du dann erst?“
„Ich könnte ja auch einmal Unrecht haben.“
Jetzt musste ich wieder lächeln. „Zwar hast du manchmal Unrecht, aber bei dieser Sache wohl eher nicht.“
Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer. „Woher willst du denn wissen, dass ich manchmal Unrecht habe?“
Ich zuckte die Schultern. „Ich würde sagen, ich habe da so eine gewisse Vorahnung.“
Er schnaubte nur und drehte sich wieder weg. Hin und hergerissen zwischen der Tatsache, dass ich mir selbst jetzt gern in den Hintern getreten hätte, und meiner inneren Stimme, die mir sagte, dass diese Antwort richtig war, begann ich wieder, auf meinem Hefter zu malen. Als ich ihn noch einmal sprechen hörte, war ich mehr als verwundert darüber, dass er noch mit mir reden wollte.
„Warum tust du nie das, was die Leute von dir erwarten?“
Widerwillig schaute ich ihn an und hob eine Augenbraue. „Wer sind denn diese Leute?“
„Ich“, murmelte er und räusperte sich.
„Aha“, machte ich und malte weiter. „Und was genau erwartest du von mir? Dass ich schreiend vor dir und deiner Schwester wegrenne? Dass ich mich komplett von euch fernhalte? Dass ich dir auf all deine Fragen eine Antwort gebe?“
Seine Stimme war so leise, dass ich mich konzentrieren musste, um ihn zu verstehen. „Auch.“
Jetzt sah ich ihn wieder an. „Da bin ich jetzt aber mal gespannt …“
„Wo hast du gelernt, so mit Sarkasmus umzugehen?“, fragte er.
Ich grinste. „Es liegt mir im Blut, würde ich sagen.“ Erst nach ein paar Sekunden hörte ich das Wort aus meinem Satz heraus, das seine Augen für einen kurzen Moment dunkler gemacht hatte; Blut.
„Wie dem auch sei“, fing er leise an. „Ich weiß nicht, was ich von dir erwarte. Doch ich weiß, dass ich bei deinen Antworten, deinen Reaktionen immer auf etwas anderes warte als das, was dann von dir kommt. Du bist so … anders, ich weiß auch nicht.“
Ich schnaubte. „Wenn es das ist, was du mir zu sagen versuchst, lass es. Ich weiß selbst sehr genau, dass ich nicht normal bin.“ Ich bemerkte, dass meine Stimme beleidigt klang, und versuchte, es aus ihr zu vertreiben. Selbstsicher, so sollte ich klingen. „Wieso sonst kannst du nur meine Gedanken nicht lesen?“
Er schien von dieser Aussage überrascht, denn es dauerte einen Moment, bis er antwortete. „Woher weißt du das?“
„Alice hat es mir gesagt. Und sowieso wusste ich es schon vorher.“
„Aber woher?“, fragte er und hoffte, vielleicht so auf mein Geheimnis zu stoßen. Aber, so leid es mir tat, da musste ich ihm einen Strich durch die Rechnung machen.
Ich tippte mir an die Stirn. „Weibliche Intuition?“
„Das kannst du Alice erzählen, aber mir nicht.“ Jetzt war er wieder sauer.
Die Kringel auf meinem Hefter wurden zackiger. „Ich muss es ihr nicht erzählen, weil sie die Wahrheit kennt.“
„Und ich darf sie nicht kennen?“ Auf einmal wurden seine Augen groß und herrlich goldbraun, so warm und flüssig wie Honig. Bella, du musst widerstehen …, ging es mir durch den Kopf.
Ich schluckte. „Richtig.“
Jetzt flüsterte er nur. „Und der Grund dafür ist …?“
„Wenn du auch nur den Grund wüsstest, wäre das ein gravierender Fehler.“
Er seufzte. „Ich verstehe das nicht.“
„Das ist unsere Absicht … Edward.“ Noch nie hatte ich es gewagt, seine Namen ihm gegenüber auszusprechen. Das Gefühl, es jetzt getan zu haben, war berauschend. Seine Augen weiteten sich und wurden flüssiger denn je. Gab es Hoffnung, lag sie in dieser kleinen Reaktion?
„Was würde passieren, wenn ich es wüsste?“
Ich überlegte kurz. „Oh, dir würde gar nichts passieren. Dein Leben würde weitergehen wie bisher.“
Er rückte ein Stück näher zu mir. „Und was würde mit dir passieren?“
„Warum willst du das wissen?“, murmelte ich; ich wusste, er würde es hören.
Es sah aus, als wollte er etwas sagen, dann schloss er aber wieder seinen Mund und sah mich nur fragend an. Die Glocke läutete und ich fing an, meine Sachen einzupacken. Als ich auf meinen vollgekritzelten Hefter schaute, wurde mir bewusst, dass ich Mr Banner in dieser Stunde nicht ein einziges Mal zugehört hatte. Edward war natürlich wieder schneller als alle anderen aus diesem Zimmer gegangen, sodass ich neben mir nur noch seinen leeren Stuhl stehen hatte.
Niedergeschlagen ging ich zur Cafeteria.
„Bella, komm doch zu uns!“, hörte ich Mike rufen, doch ich schüttelte nur den Kopf und zeigte auf den Tisch, an dem Alice auf mich wartete. Er nickte und wandte sich wieder Jessica zu.
„Willst du, dass ich dich anlüge oder soll ich die Wahrheit sagen?“, fragte mich Alice, als ich mich ihr gegenüber an den Tisch setzte. Sie hatte das übliche Requisit, ein volles Tablett, vor sich stehen, ich hatte mir nichts bestellt.
„Lass es nur raus.“
Sie seufzte. „Du siehst mitgenommen aus.“
Ich nahm mir ein Messer und betrachtete mein Spiegelbild. Ich hatte dunkle, violette Augenringe unter den Augen, meine Wangen waren rot wie Blut, doch die restliche Haut meines Gesichtes war gruselig blass. Meine Pupillen sahen leer aus, ohne jegliches Glitzern oder Funkeln, dass ich manchmal in ihnen gesehen hatte. Aber wo sollte es auch herkommen? Das hatte ich nur, wenn ich glücklich war, und das beschrieb genau das Gegenteil von meinem jetzigen Zustand. Meine Lippen waren spröde und aufgesprungen, meine Haare zerzaust.
„Mehr als das“, flüsterte ich. „Ich sehe schrecklich aus.“
„Eben so, als hättest du eine lange Nacht hinter dir gehabt.“
Ich schüttelte langsam den Kopf und legte das Messer zurück. „Das eigentlich nicht. Diese Nacht nicht. Die Nächte davor schon, und dann noch diese Biologiestunde …. Brrr!“
Sie legte mir ihre eiskalte Hand auf meine. „Du kommst schon noch zu deinem Glück.“
„Das sagst du so leicht.“
„Ja“, beschwichtigte sie mich. „Weil ich, im Gegensatz zu dir, in die Zukunft sehen kann.“
Meine Augen weiteten sich. „Siehst du etwas Gutes?“
„Zumindest ist deine Zukunft mit ihm klarer zu erkennen.“
Ich stockte. „Und das ist gut?“
Alice nickte. „Ja, sehr gut.“
„Okay.“
Die Mittagspause war schnell vorüber. Wir saßen da und redeten über merkwürdige Dinge. Die Hochzeit, die eventuell stattfinden würde, und was Alice dann anders machen würde. Sie erzählte mir von einer Kleinkinderkollektion, die sie im Internet gefunden hatte; diese Kleider sollte dann Nessie tragen. Eigentlich hätte ich sie in ihrem Übereifer stoppen sollen, doch mir machte es unheimlichen Spaß, so unbeschwert darüber reden zu können, dass ich einfach mit quasselte. Die folgenden Unterrichtsstunden vergingen zwar langsam, aber trotzdem einigermaßen erträglich. Nach der letzten Stunde kam Tyler zu meinem Platz.
„Bella, ich wollte dich etwas fragen.“
Ach ja, stimmt. Der hatte ja noch gefehlt.
„Ja, Tyler?
Er schluckte kurz. „Möchtest du mit mir zum Frühjahrsball gehen?“
„Nein“, sagte ich, und für einen Moment schien er ehrlich enttäuscht, deswegen fügte ich noch hinzu: „Tut mir leid, aber ich bin nicht hier. Ich bin an dem Wochenende in Seattle.“
„Ja, das haben Mike und Eric auch gesagt.“
Ich hatte vergessen, wie dreist Tyler war. „Wieso hast du ihnen nicht geglaubt?“
Er zuckte die Schultern. „Ich dachte, du hättest sie nur schonen wollen. Naja, dann bis morgen. Tschüss!“, sagte er und machte sich davon.
In meinen Gedanken versunken, ging ich nach draußen zu meinem Chevy. Als Tyler mit mir geredet hatte, war mir eingefallen, dass noch irgendetwas fehlte. Ich konnte nicht sagen, was es war, doch in meinem Traum war etwas passiert, was hier noch nicht geschehen war. Ich konnte auch nicht sagen, ob es etwas Schönes oder eher Gefährliches gewesen war. Aber auf jeden Fall war da etwas, etwas, das ich bis jetzt übersehen hatte.
Ich suchte die Schlüssel für meinen Transporter und bemerkte, wie kalt es geworden war. Der Nebel hatte sich in Nieselregen verwandelt und die Straßen waren glatt geworden. Plötzlich wurde ich durch ein quietschendes Geräusch unterbrochen. Schnell drehte ich mich um und sah, wie Tylers Van schlenkerte und dann geradewegs auf mich zuraste. Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Der Autounfall. Edward, der mit seiner übermenschlichen Kraft dazu beigetragen hatte, dass ich noch am Leben gewesen war. Er war es gewesen, der den Van mit seinen Händen zum Stillstand gebracht und mich somit gerettet hatte. Jetzt war da kein Edward, der mich schützen konnte, niemand war an meiner Seite und würde mich vor meinem grausigen Schicksal bewahren.
Meine Gedanken überschlugen sich. Was sollte ich tun? Warum hatte es Alice nicht gesehen? Gute Zukunft, ja klar. Konnte ich Edward vertrauen und sollte ich einfach warten, bis er mich rettete? Oder wollte er nicht ins Schicksal eingreifen und mich somit sterben lassen? Konnte Alice mich dann retten?
Mein Körper reagierte schneller als mein Verstand ihm folgen konnte. Blitzschnell sprang ich zur Seite, krachte gegen den harten Beton und hörte, wie hinter mir der Van in meinen Transporter knallte. Das Geräusch war ohrenbetäubend laut und unangenehm. Um mich herum schrien die Schüler und Lehrkräfte, die herbeigeeilt waren, um zu helfen. Ich hob kurz meinen Kopf und sah, wie sich mein Chevy um das Vorderteil des Vans schlang, musste ihn wegen den Schmerzen dann aber schnell wieder senken, um nicht ohnmächtig zu werden. Als ich mir der Schmerzen in meiner Schädeldecke bewusst wurde, spürte ich auch den anderen, weitaus Schlimmeren, Grässlicheren. Ein letztes Mal bewegte ich meinen Kopf nach oben und musste sehen, wie mein Bein unter dem Aufprall des Vans gelitten hatte. Es war voller Blut und tat höllisch weh, ich konnte es nicht bewegen. Ich griff mir an die schmerzende Stelle am Kopf und fühlte dort ebenfalls etwas Nasses. Blut, überall Blut. Mein Blut. Oh Gott, Jasper und Edward waren doch hier …
Ich nahm einen heftigen Atemzug durch die Nase und schon wurde mir übel, mein Bewusstsein entglitt mir. Der Geruch dieser roten Flüssigkeit rumorte in meiner Magengegend, und das letzte, an das ich denken konnte, war eine Frage. Hasste mich Edward jetzt, weil ich ihn und seine ganze Familie durch mein Blut als Vampire entblößen könnte?
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