Zum zweiten Mal 18

Noch nie in meinem Leben waren zehn winzige Minuten langsamer vergangen.

Das Mondlicht, das mitsamt der frischen Brise durchs Fenster kam, vermischte sich mit dem schummrigen Lampenlicht, das von meiner Schreibtischlampe schien. Der breite Spalt unter meiner Tür schimmerte ebenfalls noch blass in gedämmtem Gelb. Die Unheimlichkeit dieses Moments ließ einen Schauder wie tausende Federn über meinen Rücken wandern. Von draußen her drang der Gesang der Grillen an mein Ohr und ich wunderte mich, wieso die so spät noch Krach machten. Doch eigentlich war es mir egal, genauso wie alles andere in diesem Augenblick. Sogar die Tatsache, dass mich nur noch läppische neun Minuten und 34 Sekunden von meinem 18. Lebensjahr trennten, wirkte unwichtig.

Die Hauptsache war er.

Edward.

Neun Minuten zwanzig.

Bei dem Gedanken daran, dass ich in wenigen Momenten älter sein würde als Edward – natürlich nur rein menschlich gesehen -, krümmten sich meine Organe in mir merklich zusammen. Ich wusste natürlich, dass ich kein bisschen anders aussehen würde als gestern oder vorgestern oder letzte Woche, doch trotzdem störte es mich. Wenn auch nur ein bisschen, es gefiel mir nicht. Er, 17. Ich, 18. Das war ein Jahr zu viel, meinem Geschmack nach zu urteilen. Es waren 365 Tage zu viel, an denen ich noch zum Menschendasein gezwungen wurde, während er bis in alle Ewigkeit in dem jungen, unendlich hinreißenden Körper eines 17-jährigen gefangen war. Edward würde für immer so wunderschön und perfekt sein, dass es mir immer noch so vorkam, als träumte ich.

Sieben Minuten 57.

Unruhig starrte ich wieder und wieder auf meine verräterische Armbanduhr. Wieso konnte die Zeit nicht einen Augenblick lang stehen bleiben? Wieso verharrte sie nicht in diesem atemberaubenden Moment, in dem Edward mir mein allerliebstes, herzzerreißendes Lächeln schenkte, meine Hand fest drückte und mir mit den Augen den Weg in ein neues Jahr voller Überraschung wies? Ich fühlte mich so schrecklich wohl in diesem Bruchteil einer einzigen Sekunde, dass mein Herz stolperte und dann doppelt so schnell weiter schlug, nur weil ich wusste, dass ich jetzt nicht allein war. Meinen erhitzten und seinen eiskalten Körper trennten nur die dicke Decke, in die er mich geschlungen hatte, und meine dünnen Sachen, die ich immer nachts trug, doch sein Blick war so innig, dass ich glaubte, ihn wie eine Berührung meine Haut entlang streichen zu spüren.

Fünf Minuten dreißig.

Kurz schloss ich die Augen und lehnte mich an Edwards steinerne Brust, fühlte die Stille seines Herzens und genoss den kühlen Hauch seines Atems, der über mein Haar rieselte. Mit seiner freien Hand streichelte er meinen Arm, führte sie nach oben zu meiner Schulter, meinem Schlüsselbein, fuhr über meinen Hals, die Kante meines Kinns entlang und endete dann an meinen Lippen. Sie bebten unter seinen Fingern. Mit seiner bloßen Anwesenheit gelang es ihm, mich meine ganze Umgebung und mein Leben vergessen zu lassen, es zählte nur noch er. Mich berauschte dieses Gefühl der Vollkommenheit, der Freiheit, obwohl wir so eng umschlungen waren, und der Sicherheit, dass ich nichts zu fürchten brauchte. Wenn er bei mir war, konnte mir nichts geschehen.

Müde zwang ich mich, meine schlaffen Lider wieder zu öffnen. Mein Blick fiel auf das grün flackernde Licht meines Weckers, die Leuchtziffern verrieten mir, dass es nur noch zwei Minuten waren, in denen ich 17 sein durfte.

Ich senkte meine Augen und beobachtete den Sekundenzeiger meiner Armbanduhr, wie er hektisch von einer Zahl zur anderen hüpfte. Neun. Acht. Sieben. Sechs.

Konnte Edward ahnen, wie es in mir aussah? Wie aufgeregt ich war? Erinnerte er sich noch daran, wie es war, älter zu werden? Oder war es eines der Dinge, die man im Laufe seines Vampirdaseins verdrängte, weil es eine unwichtige Information war? Weil man es nicht mehr erleben konnte? Wie war es für ihn, Jahr für Jahr länger der Ewigkeit anzugehören, ohne sich äußerlich zu verändern?

Veränderte er sich innerlich? Konnten sich Gefühle ändern?

Eine Minute zehn.

In ruhigem Rhythmus strich sein Atem weiter und weiter meine Haarsträhnen entlang und ich holte tief Luft, um seinen köstlichen Duft zu schmecken. Verlockend schlang er sich um meine Zunge und ich schluckte krampfhaft bei dem Verlangen, mich noch mehr an Edward zu drücken und seine Lippen mit meinen zu versiegeln. Sähe ich ihm jetzt in die Augen, würde ich vollkommen in ihnen versinken und er müsste mühevoll versuchen, mich vor dem Ertrinken zu bewahren. Allein der Gedanke an das himmlisch schimmernde Goldbraun, die dunkelbraunen Verästelungen dieser Augen, vergleichbar mit sich unter der Haut entlang schlängelnden Adern, und der Grund, der hinter diesem Phänomen steckte. Es war einfach unfassbar. Er war unfassbar. Unfassbar perfekt. Und er gehörte mir.

39 Sekunden.

Wieso zählte man diese unbedeutenden Jahre? Warum nicht Monate, Tage oder Stunden? Bald würde mich dieses Thema sowieso nichts mehr angehen, wenn alles nach Plan lief. Oder besser, nach Traum. Ein Frösteln zehrte an meiner empfindlichen Haut und ein leichtes Schütteln überkam mich. Sofort spürte ich, wie die Decke mich bald verschlingen musste, so fest war ich darin eingewickelt. Ich lächelte, weil ich wusste, dass Edward glaubte, es sei die Kälte, die von seinem Körper ausging, die mich erschaudern ließ. Dabei war es nur das Wirrwarr an Gefühlen, das alles durcheinander brachte. Das Unwohlsein des 18. Lebensjahrs, die Zufriedenheit wegen Edwards Nähe und die Ungewissheit, welche Probleme ich als nächstes überwältigen müsste.

Acht Sekunden.

Edward beugte sich ein Stück weiter zu mir, sodass sein Mund mein Ohr beinahe berührte.

„Sechs … fünf … vier …“, flüsterte er mir zu und jagte mir somit einen weiteren Schauder über meinen Rücken, entlang meiner Wirbelsäule. Warum musste seine Stimme auch so verboten verführerisch sein?

Ich stupste ihm in die Seite. „Hör auf, du machst mich nervös.“

„Zwei …“, murmelte er weiter, ohne auf mich zu hören, „…eins … Herzlichen Glückwunsch zum 18. Geburtstag, Bella.“

Er drückte mir einen Kuss auf mein Haar, dann noch einen und noch einen … Ich schloss die Augen erneut und seufzte. Ich drehte ihn zu mir um und tat das, wonach ich mich schon seit den letzten zehn Minuten gesehnt hatte. Seine Lippen waren eiskalt, und doch beflügelte mich ein eigenartiges Gefühl von Wärme, das mir den Verstand und die Bedenken an mein Alter raubte. Ich vergaß Raum und Zeit, bis er sich schließlich – viel zu früh – von mir löste und ich feststellte, dass wir in einer sinnlichen Umarmung auf mein Bett hinabgesunken waren.

„Und, wie fühlst du dich mit 18?“, fragte er nach einer Welle unendlichen, gemütlichen Schweigens.

Ich kicherte. „Warum fragst du? Weil du es meinetwegen wissen willst oder weil es dich interessiert, weil du es nie erfahren durftest?“

„Hmm“, machte er und stimmte in mein Lachen mit ein. „Ich glaube, es ist beides.“

„Nun, ich fühle mich alt.“

Er beugte sich über mich und zog eine Braue hoch. „Alt?“

Ich nickte. „Schrecklich alt.“

„Ich bin 104 und du sagst, du fühlst dich alt?“

„Du bist für immer 17, das zählt nicht.“

Edward betrachtete mich von oben bis unten – und ich fragte mich, wie er es schaffte, meinen ganzen Körper zu begutachten, obwohl sein Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt war – bis er mich liebevoll anlächelte. „Du siehst aber nicht älter aus. Immer noch genauso wunderschön und atemberaubend wie mit 17.“

Ich wusste, dass nicht nur das schwache Licht meiner Lampe ihm verriet, wie rot ich wurde, als er mir sanft über die Wange strich. Bevor ich etwas erwidern konnte, begann er mit seinen Lippen überall auf mein Gesicht einen Kuss zu hauchen. Meine geschlossenen Lider, meine Nasenspitze, meine Stirn, mein Kinn, meinen Hals entlang, die Senke dazwischen – alles berührte er. Nur nicht meinen Mund, der unter Erwartung kochte. Als ich sein Gesicht in meine Hände nahm und es auf meine Augenhöhe bringen wollte, ließ er sich gar nicht beeindrucken. Edward wusste ganz genau, wie verrückt er mich damit machte. Und ich wusste, was er damit bezwecken wollte.

Spielerisch drehte ich mich von ihm weg auf den Bauch, sodass ich einen Moment lang in seine verwirrten Augen sah.

„Ich weiß, was du damit bezwecken willst, Edward Cullen“, flüsterte ich. „Aber ich werde nicht vergessen, dass ich für heute keine Party will.“

Er stützte sich auf einen Ellbogen und zwei goldbraune Punkte glitzerten mich in der Dunkelheit an. „Verdirb uns nicht den Spaß.“

„Wer hindert mich daran, genau das zu tun?“

„Ich, Alice, Jasper, Carlisle, Esme, vielleicht auch Emmett …“

Ich seufzte; natürlich hatte ich schon längst verloren, doch ich würde es um Himmels Willen nie zugeben. „Ihr könnt mich nicht dazu zwingen.“

„Glaubst du.“

„Mein Dad ist Polizeichef.“

„Soll das eine Drohung sein?“

„Eigentlich schon.“

„Ein sehr schwaches Argument, Bella.“

Ja, ich hatte verloren. Doch was mich noch mehr ärgerte als das – Edward hatte gewonnen, ohne dafür etwas tun zu müssen.

Ich sog scharf die Luft ein. „Willst du mir wirklich den schlimmsten Tag meines Lebens noch schlimmer machen?“

„Ich will nur, dass du ihn nie vergisst“, erinnerte er mich. „Und außerdem ist er nicht schlimm.“

„Für mich schon.“

Auch er seufzte jetzt, als er mir eine Strähne aus der Stirn strich. „Die meisten Menschen freuen sich auf Geburtstage.“

„Ich nicht, wie du siehst. Und ich will auch keine Geschenke.“

„Sei nicht immer so stur.“

„Ich weiß eben, was ich will.“

Edward rückte so nahe an mein Gesicht, dass mich sein traumhafter Duft traf wie eine Ohrfeige – süß, lieblich, anziehend.

„Ich rate dir“, sagte er dann flüsternd und lächelte mich an, „das morgen mit Alice zu klären. Versuch ihr mal die Idee aus dem Kopf zu pusten, ohne dass sie dir einen Aufstand macht.“ Seine kalte Hand fuhr langsam und zärtlich über meine Wange und ich schmiegte mich in seine Handfläche. „Aber jetzt versuch zu schlafen. Es ist spät.“

Wie auf ein Stichwort begann ich zu gähnen und er grinste mich an.

Dann tippte er sich an die Stirn. „Siebter Sinn.“

„Du bist nicht so witzig, wie zu glaubst.“

„Nein“, murmelte er und küsste flüchtig meine Lippen, „ich bin witziger als witzig, ich weiß.“

Ich murmelte noch etwas, was ich selbst nicht richtig verstand, dann legte ich meinen Kopf auf seine Brust, schlang meinen Arm um seinen Bauch und übertrat den Steg von Wirklichkeit nach Traum, während er mir sanft mit den Fingerspitzen über den Rücken streichelte.

„Keine Geschenke“, nuschelte ich noch, bevor ich mit seinem herrlichen, glockenspielähnlichen Lachen im Ohr einschlief.

Als ich meine Augen öffnete, strahlte mir grelles, frohlockendes Sonnenlicht entgegen. Das Zwitschern von Vögeln und das Pochen eines Spechtes erklang in meinen Ohren und echote ein dutzend Mal, während ich einen Schmetterling dabei beobachtete, wie er in der Luft kreiselte und flatterig nach oben hin zu den Wolken stieg. Unter meinen nackten Füßen spürte ich die Spitzen kleiner Grashalme, die sich in meine Haut bohrten. Als der Wind sachte und beinahe zärtlich durch mein Haar fuhr, erkannte ich, dass ich nicht zu Hause war.

Vor mir erstreckte sich eine herrlich blühende Wiese, Tulpen, Nelken, Narzissen, Rosen und Stiefmütterchen waren überall in großen Bündeln verteilt. Erst als ich meine Augen mit meiner linken Hand vor den Strahlen der Sonne abschirmte, bemerkte ich die eckigen, wunderschön glänzenden Steine, die senkrecht aus dem Boden ragten.

Grabsteine.

Unglaublich leise schlich sich jemand von hinten an, doch ich hörte es und erschrak deswegen nicht. Als dieser jemand meine Hand ergriff und sie liebevoll drückte, wusste ich, dass Edward bei mir war. Ohne ihn anzusehen, ging ich ein paar Schritte nach vorn, und obwohl ich nicht wusste, wohin mich meine Füße trugen, schien ich den Weg zu kennen.

Dann wandte ich mich um und sah in sein wunderschönes Gesicht, vollendet mit meinem allerliebsten, schiefen Lächeln. Gemeinsam gingen wir einen unbekannten Pfad entlang, streiften Grabstein um Grabstein, einer schöner als der andere. Obwohl deren Bedeutung doch so traurig war, schimmerten sie in einer eigenartigen Farbe der Geborgenheit und Liebe.

Ich schien angekommen zu sein, denn als ich stehen blieb, ragte vor mir ein großer, rechteckiger Marmorstein aus dem Boden, seine Kanten waren rund geschliffen und auf ihnen prangten silberne und goldene Verzierungen miteinander, verschlungen bildeten sie ein wunderschönes Muster voller Zärtlichkeit. Als ich ihn länger betrachtete, fuhr mir der Schrecken durch Mark und Bein.

In Erinnerung an

Isabella Marie Swan,

Geboren am 13. September 1987,

Gestorben am 13. September 2005

‚Wir lieben dich und vergessen dich niemals’

War das mein Grabstein? Aber ich lebte doch, oder? Zumindest atmete ich, ich fühlte Edwards Hand in meiner und war den Weg hierher entlanggegangen, nicht geschwebt oder ähnliches. Doch da war etwas, das nicht stimmte. Mein Herz in mir schwieg. Luft zu holen erleichterte mich nicht. Edwards Hand war nicht mehr kalt sondern warm. In mir brodelte ein Verlangen, größer noch als das nach seiner Nähe.

In Wahrheit kannte ich die Antwort auf meine ungestellte Frage schon, doch unsicher blickte ich zu Edward, dessen strahlendes Lächeln nicht an Glanz und Perfektion verloren hatte. Langsam beruhigte ich mich wieder, mich umhüllte das wohltuende Gefühl von Liebe und Sorglosigkeit, als ich in seinen Augen versank.

Plötzlich riss mich ein Schrei aus dieser Ruhe.

„Bella?“

Die Stimme war rau und tief, trotzdem glaubte ich einen Hauch von Kindlichkeit herauszuhören.

Verzweiflung, Sorge, Erschöpfung und Hingabe schwangen in diesem einen Wort – meinem Namen – mit.

Ich wusste schon, wer mich da rief, trotzdem wollte ich mich zu ihm umdrehen, um den Grund seiner Panik zu erfahren. Ich wollte wissen, warum seine Stimme so schmerzverzerrt gewesen war. Doch das einzige, was ich sah, war das Schimmern rostbrauner Haut in dem Licht der Sonne, wie es mich glühend heiß blendete und mir die Sicht versperrte.

Dann wurde alles endgültig schwarz um mich, bis ich meine Augen aufschlug und heftig atmend feststellte, dass es nur ein Traum gewesen war.

Obwohl Edward mich wachsam ansah und mit stummem Blick um Erklärung für meine aufgebrachte Erwachung bat, war ich von einer wichtigeren Frage befangen. Der 13. September, das war heute. Mein 18. Geburtstag. Alice und ich waren uns sicher gewesen, dass wir eine Eskalierung dieser Feier unbedingt vermeiden mussten. Es würde einfach auf keinen Fall zu einem solchen Ereignis kommen wie wir es ahnten, das wussten wir zu verhindern.

Doch sollte ich dennoch heute sterben?

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