Kapitel 55


In meinem Leben gab es drei Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dass mich jemand wirklich aufziehen würde. Der erste war, als ich erfuhr, dass mein Vater gestorben sei. Ich hatte nie das beste Verhältnis zu ihm gehabt, aber dennoch war es damals ein Schock für mich gewesen und ich wollte nicht glauben, ihn nie wieder zu sehen. Der zweite Moment war, als mein Bruder kauernd in meinem Zimmer auf dem Boden saß und mir gestand, dass er seine damalige Freundin geschwängert hatte. Ich weiß noch, wie ich damals auf meinem Fensterbrett saß und mich so schnell zu ihm umgedreht habe, dass ich schmerzhaft auf dem Boden gelandet war. Dass Joshua danach in Tränen ausgebrochen war, hatte mich so sehr verwirrt, dass ich damals selbst anfing zu weinen. Ich versuchte ihn zu trösten und aufzubauen, wusste damals aber bei weitem nicht, was das alles für Konsequenzen mit sich zog.

Der dritte Moment war, als Hugh mir sagte, dass seine Mutter hinter all dem steckte, was mir passiert war. Wie sehr musste sie mich hassen, dass sie mich versuchte zu ruinieren? Wie sehr musste sie Hugh verabscheuen, wenn sie ihm versuchte durch mir wehzutun? Warum mussten Eltern nur so grausam sein?

Ich sah Hugh genauso schockiert an, wie die anderen. Keiner von uns sagte ein Wort und Hugh hatte den Kopf gesenkt, hielt aber noch immer meine Hand. Abgeschottet in Adams Büro herrschte eine so drückende Stille, wie ich sie noch nie in meinem Leben gespürt habe. Plötzlich tropfte etwas auf meinen Arm. Ich sah verwirrt an mir herunter. Dann bemerkte ich überrascht, dass ich weinte. Ich versuchte die Tränen von meinen Wangen zu wischen.

Als ich meine Hand aus Hughs löste, sah er sofort auf und schaute mich mit aufgerissenen Augen an. „Liv, bitte. Ich wollte nie, dass dir das passiert. Ich-" Noch einmal wischte ich mir die Tränen von den Wangen. Dann umfasste ich mit beiden Händen Hughs Gesicht und sah ihm in die Augen. Zuerst wollte ich ihm versichern, dass er sich nicht entschuldigen müsse, dann wollte ich ihn trösten. Letzten Endes sagte ich etwas ganz anderes, aber ich glaube, dass es genau das war, was Hugh gebraucht hatte, um seine Zweifel zu verlieren. „Ich liebe dich." Hughs Augen füllten sich mit Tränen, doch er konnte sie zurückhalten. Im nächsten Moment zog er mich mit einem heftigen Ruck an sich und ich legte meine Arme um ihn. Er vergrub sein Gesicht in meinem Haar, während ich meines an seine Brust schmiegte. „Wir schaffen das zusammen," murmele Hugh. Ich nickte.

Wenn mich einer fragt, wie lange wir so umschlungen dasaßen, könnte ich keine Antwort darauf geben. Aber irgendwann lösten wir uns wieder voneinander. Hugh nahm sofort wieder meine Hand in seine und begann mit meinem Verlobungsring zu spielen, indem er ihn an meinem Finger hin und her drehte. Ich rückte neben ihn und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Hugh schien sich unter dieser Berührung ein wenig zu beruhigen.

Als mein Blick dann auf die anderen Anwesenden fiel, sah ich allgemeine Überraschung. Keiner hatte wohl Hugh je so emotional gesehen. Nun, ich hatte bisher auch nur einen Bruchteil dessen gesehen, was Hugh hinter seiner Mauer versteckte. Ich wusste, dass er einfach nur nicht verletzt werden wollte und er darum diese Mauer aufgebaut hatte, aber ich war froh, dass er sich mir endlich öffnete. Ihm schien es auch nicht allzu viel auszumachen, dass die anderen ihn so sahen. Das freute mich, wenn ich in diesem Moment auch nicht allzu viel Euphorie verspüren konnte.

April hatte die Überraschung mittlerweile hinter sich gelassen und sah Hugh und mich nun voller Freude an. Sie hatte Hugh so wahrscheinlich noch nie erlebt. Auch erkannte ich in Adams Augen so etwas wie freundschaftliche Zuneigung. Er schien ergriffen zu sein, dass Hugh nun endlich begann, sich zu öffnen. Patrick hingegen hatte noch immer diesen Eichhörnchenblick wenn es Donnert im Gesicht. Ihm schien es wohl vollkommen abwegig zu sein, dass Hugh doch zärtlich und gefühlvoll sein konnte. Timothy war hingegen der einzige, der versuchte, sich aus dem ganzen Geschehen abzukapseln. Es war ihm wohl noch immer etwas unangenehm, hier zu sein.

Es war April, die das Schweigen irgendwann mit der Frage aller Fragen durchbrach. „Warum macht deine Mutter Sowas?" Hugh seufzte und schüttelte den Kopf. „Vielleicht will sie mir wehtun, indem sie versucht Liv von mir zu entfernen oder ihr Angst einjagt."

„Aber welchen Grund hätte sie? Hat sie was gegen Liv?" Hugh sah auf zum Fernseher. „Es ist möglich, dass meine Mutter wollte, dass ich überwacht werde. Wäre nicht das erste Mal."

„Bitte?" Adam sah Hugh verständnislos an. „Was bringt ihr das? Ich habe dich noch nie über deine Eltern reden hören. Daraus hatte ich daraus geschlossen, dass du keinen Kontakt zu ihnen hast."

„Habe ich auch nicht. Wir haben seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Aber meine Mutter nimmt mir ein paar Dinge übel, die dazu geführt haben, ihrem Ansehen zu schaden. Vielleicht wollte sie es mir damit nun heimzahlen."

„Das wäre grausam." murmelte ich. Hugh drückte meine Hand. „Es wird aufhören. Das verspreche ich dir." Er gab mir einen Kuss auf die Stirn und stand auf. Verdattert sah ich zu ihm auf. „Was hast du vor?" Hughs Blick wurde dunkel. „Ich werde ihr einen Besuch abstatten." Sofort stand ich auf. „Ich komme mit." Hugh aber schüttelte nur den Kopf. „Sie ist mein Problem."

„Schließ mich nicht aus." bat ich und trat auf Hugh zu. Sein Blick trübte sich bei meinen Worten. Es schien, als erinnerte er sich an meine Bitte, mir zu erzählen, was ihm passiert war. „Das tue ich nicht. Nicht dich. Du bist die einzige, die alles über mich wissen wird." Ich lächelte bei seinen Worten. Mir gefiel, dass er in der Zukunftsform sprach. Hugh küsse mich noch einmal auf die Lippen. „Wir sehen uns, mein Licht." Dann nickte er den anderen zu und verschwand. Adam rief ihm noch hinterher, dass er sich melden sollte. Aber nachdem Hugh aus meinem Blickfeld verschwunden war, bekam ich ein schlechtes Gefühl und das wurde von Minute zu Minute größer.

„Mach dir keine Sorgen. Hugh wird ihr erklären, dass er dich heiraten wird. Sie muss sich damit abfinden." versuchte April mich zu beruhigen. Ihre Worte halfen mir jedoch kein bisschen.

Es war, als wüsste ich, dass etwas Schreckliches passieren würde.

Unruhig setzte ich mich wieder auf das Sofa, sprang aber sofort wieder auf. „Ich sollte gehen. Ich will euch nicht noch mehr von der Arbeit abhalten." April schüttelte den Kopf. „Nicht doch, Liv. Wir helfen dir und Hugh gern. Ihr seid unsere Freunde und geht über die Arbeit." Dennoch hatte ich ein schlechtes Gewissen. „April hat Recht. Meine Firma liegt mir am Herzen, das kann und will ich nicht leugnen, aber Hugh ist wie ein Bruder für mich. Ich bin unendlich froh auch ihm endlich einmal helfen zu können. Sonst musste ich stets und ständig auf seine Hilfe bauen. Jetzt kann ich ihm einen kleinen Teil dessen zurückgeben, was er mir gegeben hat." Ich atmete einmal lange aus. Diese Freundschaft zwischen ihnen war immer noch verblüffend. Es war schon ein Wunder für mich einen so guten Freund wie Logan zu haben, aber Hugh hatte gleich 5 davon plus April.

Ich nickte schließlich. Dass Hugh selten um Hilfe bat, konnte ich mir nur allzu gut vorstellen. Daher nahm ich dankend ihre Hilfe an und konnte nur hoffen, wirklich nicht allzu große Unannehmlichkeiten zu bereiten. Nichts würde mich mehr stören.

„Seine Mutter hat ihn überwacht?" fragte Patrick nach einer Weile. Wir alle sahen ihn verwundert an. „Wenn dem so ist, muss ihn auch jemand auf Fuerteventura überwacht haben, oder nicht?" Allgemeines nicken. Mein Blick flog zum Fernseher und plötzlich verstand ich, worauf Patrick hinauswollte. „Carly hatte Hugh oft länger angesehen als nötig. Selbst, als sie für sich selbst festgestellt hatte, dass sie ihn nicht für ein bisschen Spaß haben könnte." Patrick lachte. „Na da hattest du ja mehr Glück." Ich starrte Patrick an. „Au!" Patrick rieb sich die Stelle auf seinem Oberarm, an der Adam ihn geboxt hatte. „Halt die Klappe, Pat." Dieser schnaubte nur kurz, warf mir dann aber einen entschuldigenden Blick zu.

„Woher sollte Hughs Mutter aber auf Carly aufmerksam geworden sein?" Ich überlegte. „Vielleicht über das Internet oder so." Timothy sprang auf. „Ich geh das überprüfen." Er war schneller aus dem Raum verschwunden, als dass jemand hätte etwas erwidern können. „Haben wir ihn vergrauelt?" fragte ich in die Runde. Die anderen sahen sich kurz an und nickten dann synchron. „Oh, das wollte ich nicht." Wieder machte sich das Schuldgefühl in mir breit. „Tim hat schon viel mehr erlebt als das, glaub mir. Er wird das verkraften, dass Hugh Sowas wie Emotionen besitzt." erklärte Patrick achselzuckend.

„Dennoch kann ich ihm nicht verübeln, dass er hier fast rausgerannt ist." sagte ich noch immer schuldbewusst. April lächelte mich aufmunternd an. „Patrick hat Recht, Adam hat sich auch schon so einiges geleistet. Mach dir also nicht so viele Gedanken. Ich denke, er ist es schon irgendwie gewohnt. Wobei ich sagen muss, dass Hughs offene Zuneigung mich doch noch immer überrascht. Positiv versteht sich."

„Ich wusste nicht, dass Hugh überhaupt Gefühle hat." sagte Patrick im Scherz. Ich wollte April gerade dankend anlächeln, als mein Blick zu Patrick ging und ich ihn wütend fixierte. Wie konnte er es wagen, so über Hugh zu reden? Hugh war doch sein Freund! „Du weißt nicht warum er ist, wie er ist." zischte ich.

Ich kannte mich so nicht. Normalerweise war ich doch die Ruhe in Person. Seit ich Hugh kennengelernt hatte, hat sich das aber irgendwie das Gegenteil gezeigt. Patrick hob abwehrend die Hände. „Hättest du ihn jahrelang so erlebt wie wir, würdest du es verstehen."

„Ich verstehe es auch so. Ich war nicht anders als Hugh. Er hat so viel erlebt und ist so stark geworden, das kannst du dir nicht einmal ansatzweise vorstellen. Hugh vertraut euch, auch wenn er euch nie wirklich erzählt hat, warum er so verschlossen ist. Selbst euch gegenüber." Patrick hob eine Augenbraue. „Dir aber schon?" Ich nickte. „Exakt. Lass solche Bemerkungen nicht in seiner Gegenwart fallen. Am besten gar nicht. Hugh würde es euch nicht zeigen, aber es verletzt ihn, genauso wie es euch verletzten würde. Gerade, wenn es jemand sagt, dem ihr vertraut."

Die Stille darauf war drückend. Patrick und ich sahen uns eine Weile stumm an. Schließlich seufzte er und fuhr sich müde mit den Händen über das Gesicht. „Du hast Recht. Tut mir leid. Darüber hab ich noch nie nachgedacht." Ich lächelte schwach, aber ehrlich. „Ich wollte dich nicht so anfahren. Aber ich will einfach nicht, dass Hugh..." hilflos zuckte ich mit den Achseln. Patrick grinste. „Verliebt sein, kann ja so anstrengend sein." Ich hob spielerisch eine Augenbraue und verschränkte die Arme. „Als ob du nicht wüsstest, wie sowas ist." Patrick riss die Augen auf. „Du bist verliebt?" fragte Adam vollkommen überrascht. „Was? Herrgott nein! In wen den bitte?" Ich legte grinsend den Kopf schräg. Tja Patrick, wusste er es wirklich nicht, oder wollte er es vor Adam geheim halten?

Adam und Patrick diskutierten noch eine Weile. Während Patrick alles abstritt bohre Adam immer weiter nach, aber die beiden drehten sich im Kreis. Ich hätte die Situation wirklich unterhaltend gefunden, wenn ich nicht das böse Gefühl gehabt hätte, wenn da nur nicht diese Bauchschmerzen gewesen wären.

April bot mir irgendwann an, dass ich mir einen Tee machen konnte, oder etwas essen sollte, wenn ich Hunger hatte. Sie deutete auf die Küche und verwies Patrick wieder in sein Büro ein paar Etagen tiefer, weil sie noch ein wichtiges Telefonat hatten.     


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