Kapitel 52
Wir setzten uns alle an Logans Schreibtisch und begannen zu essen. Eine Zeit lang redeten wir über belangloses Zeug. Logan und Hugh sprachen auch eine Weile über Logans aktuellen Fall, ohne mir natürlich genau zu sagen, wer denn was verbrochen hatte. Irgendwann schnappte sich dann Hugh die Schachteln und ging sie wegschmeißen.
„Wie geht es dir?", fragte Logan. Überrascht sah ich ihn an. „Gut. Es geht mir wirklich gut.", versicherte ich ihm. „Und der Einbruch? Wie kommst du damit klar?" Ich seufzte. Den ganzen Tag hatte ich den Einbruch verdrängt. Zwischenzeitlich hatte ich mich entschieden, keine Anzeige zu erstatten, weil sie einen unbekannten Täter sowieso nicht finden würden. „Ich glaube, wenn Hugh nicht dagewesen wäre, hätte es mich mehr mitgenommen. Aber ich weiß, dass er bereit ist, für mich da zu sein. Und das gibt mir genug Kraft, das irgendwie wegzustecken." Logan nickte. „Er war vorhin vollkommen fertig, als er herkam, in mein Büro stürmte und erwartete, dich hier zu sehen. Ich habe Hugh nie fluchen hören, bis heute." Ich bekam ein schlechtes Gewissen und senkte den Blick auf meine Hände. „Er sagte, er hätte etwas falsch gemacht und dich weggestoßen ohne es dir wenigstens ansatzweise zu erklären. Und als er bereit war, mit dir darüber zu reden, war alles, was er fand, dein Armband und ein Zettel, auf dem du dich entschuldigst." Ich nickte geknickt. Ja, das war wieder einmal keine Glanzleistung. „Ich verstehe nicht, warum er all den Stress auf sich nimmt." Logan seufzte. „Das weißt du nicht?" Ich sah auf. Hugh stand wieder neben mir. Er setzte sich auf den Stuhl und nahm meine Hände. „Liv, alles, was ich dir vorhin gesagt habe, ist wahr. Du bist in mein Leben gerauscht, hast mich vollkommen aus der Bahn geworfen und dafür gesorgt, dass ich dich nicht vergessen konnte. Immer wieder kreiste dein Name in meinem Kopf herum. Bis ich verstand, dass ich dich liebe, hat es wirklich eine Weile gedauert. Anfangs wollte ich die Gefühle verdrängen, aber ich konnte es nicht. Weil ich dich in meinem Leben haben wollte. Wie hätte ich dir begegnen können, ohne, dass es wehtun würde? Ich brauche dich, und darum werde ich alles auf mich nehmen, damit wir beide irgendwann in Ruhe unser gemeinsames Leben leben. Damit wir, wenn wir alt sind, auf unserer Veranda sitzen, unseren Enkelkindern beim spielen zusehen, und sagen können, dass wir beide unser gemeinsames Leben genossen haben. Und als du 'Ja' gesagt hast, wusste ich, dass auch du ein Leben mit mir willst."
Wann habe ich angefangen zu weinen? Wann hatte Hugh mich auf seinen Schoß gezogen und mich an sich gedrückt? Wann werde ich endlich verstehen, dass Hugh sein Leben mit mir verbringen wollte?
„Ich habe dich noch nie so viel sagen hören.", stellte Logan fest. „Psst. Du zerstörst die Stimmung.", meckerte ich, ohne mich von Hugh zu lösen, um in Logans Richtung sehen zu können. Stattdessen kuschelte ich mich weiter an ihn und lauschte Hughs Herzschlag. „Ich will mit dir alt werden.", flüsterte ich. Hugh küsste mein Haar. „Dann werden wir das auch.", flüsterte er zurück.
Ein dumpfes Geräusch durchbrach schließlich die Stille. Ich setzte mich auf und auch Hugh und Logan sahen sich verwirrt an. Dann kam es wieder. War es ein Klopfen? Bevor ich die Frage laut stellen konnte, schob Hugh mich sachte von seinem Schoß und verließ das Büro. Ich sah Logan verwirrt an, aber auch er gab nur ein Achselzucken von sich. Als ich Hughs Stimme hörte, wollte ich raus gehen. „Warte, vielleicht ist es ein Mandant." Der Gedanke war mir noch nicht gekommen. Es würde ziemlich doof aussehen, wenn ich hier um diese Zeit in der Kanzlei herumspazieren würde. Das schleifende Geräusch der Glastür schien Logans Vermutung zu bestätigen. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor, ging nach draußen und lehnte die Tür an. Ich blieb allein in Logan Büro zurück.
„Kann ich ihnen behilflich sein?", fragte Hugh sachlich. Aber auch eine Spur von Misstrauen schwang in seiner Stimme mit. Scheinbar kannte Hugh die Person nicht, die gerade die Kanzlei betreten hatte. „Ich denke das können Sie.", antwortete die Person. Mit der ersten Silbe, erstarrte ich. Das Blut gefrierte in meinen Adern und mein Herz beschleunigte sich unwillkürlich.
Bevor ich wusste, was ich tat, oder einer der beiden Männer antworten konnte, öffnete ich die Tür und trat in den Vorraum. Joshua hatte nicht gelogen. James höchstpersönlich sah zu mir herüber und bedachte mich mit einem für ihn typischen, höhnischen Blick.
James hatte sich in den ganzen Jahren nicht verändert. Noch immer die hagere Gestalt, in den zu großen Klamotten, die auch schon abgetragen waren, die schlecht rasierte Glatze und die boshaft funkelnden braunen Augen. Er war noch nicht einmal ansehnlich, sonst hätte ich meine Mutter vielleicht heute verstanden, warum sie ihn in ihr Bett gelassen hat, aber so?
„Liv, so sieht man sich wieder." James grinste dreckig. Weil ich mich so allein fühlte vor Logans Bürotür, ging ich zu Hugh und Logan und stellte mich in deren Mitte. Hugh trat auch einen Schritt zu mir, und hätte, wenn er gewollt hätte, seinen Arm um mich legen können. Ich wusste nicht, was ich zuerst fragen sollte. Was machst du hier? Wie hast du mich gefunden? Warum hast du mich nicht einfach in Ruhe gelassen? Oder auch. Bist du bei mir eingebrochen?
„Liva?" Logan sah verwirrt zwischen mir und James hin und her. Ich seufzte schwer. „Das" ich deutete wenig begeistert auf James. „Ist mein Stiefvater."
Es dauerte einen Moment, bis sich auf den Gesichtern von Hugh und Logan Erkenntnis ausbreitete. „Das-" Logan starrte James ungläubig an. Plötzlich verwandelte sich dieses Entsetzen in Wut und blanken Zorn. Ich legte meine Hand auf Logans Oberarm und wollte ihm gerade sagen, dass er ruhig bleiben sollte, als er auf James los stürmte.
Alles ging so schnell. Logan wollte auf James losgehen und ich stellte mich dazwischen. Ich sagte er solle ruhig bleiben, aber er hörte nicht auf mich. Er umfasste meine Oberarme stärker als notwendig und ich zuckte unter dem unerwarteten Schmerz zusammen. „Logan!", schrie ich. Aber Logan schien blind vor Wut. Seine sonst so strahlenden Augen waren dunkel und seine Pupillen geweitet.
Im nächsten Moment stieß Logan mich zur Seite. Völlig überrumpelt stolperte ich ein paar Schritte nach hinten, und fiel letzten Endes der Länge nach hin. Verstört blickte ich zu Logan auf. Hugh griff ihn grob an der Schulter, zog ihn zurück und griff mit beiden Händen nach dem Kragen von Logans Hemd.
„Reiß dich verdammt nochmal zusammen!" Hughs tiefe Stimme donnerte durch die Kanzlei. Und ich musste mir alle Mühe geben um nicht zusammen zu zucken. Darauf folgte eine Totenstille. Man hätte eine Nadel fallen lassen können und hätte sie gehört.
Hugh stieß Logan weg, sodass auch Logan zwei Schritte nach hinten taumelte, bevor er sich fing. Dann drehte Hugh sich zu James um und warf ihm einen Todesblick zu. Ich rechnete damit, dass auch er gleich auf ihn losgehen würde. Stattdessen drehte er sich zu mir und war keine Sekunde später neben mir auf dem Boden. „Hast du dir wehgetan?" fragte er besorgt und begutachtete meinen Körper. Ich schüttelte nur den Kopf, weil ich kein Wort heraus brachte. Hugh schien erst nicht wirklich überzeugt zu sein, nickte dann aber. Dann sah er zu James auf, der noch immer vor der Glastür stand und uns zufrieden anlächelte. „Du scheinst ja nur die besten Geschichten über mich erzählt zu haben.", sagte er sarkastisch. „Was willst du?", unterbrach ich ihn, bevor er noch weiter sinnloses Zeug von sich geben konnte. „Ich habe gehört, bei dir wurde eingebrochen." Seine Stimme nahm wieder diesen Sing-Sang an, was bedeutete, dass er auf etwas hinaus wollte. „Sollten wir Sie in den Täterkreis mit einbeziehen?", fragte Hugh ohne mit der Wimper zu zucken. James tat geschockt. „Was denkst du von mir?", fragte er mich, obwohl Hugh die Frage gestellt hatte. Logan stand ein Stück weiter weg und ballte die Hände zu Fäusten. Es kostete ihn wohl sehr viel Überwindungskraft, nicht auf James loszugehen. „Geh wieder in das Loch aus dem du herausgekrochen kamst." James hob eine Augenbraue. „Dann stammst du also aus einem Loch?"
„Ja." Überraschen blitzte in seinen Augen auf. „Ich bin nicht mehr das kleine Mädchen, dass du verunsichern kannst. Das habe ich in New York gelassen. Zusammen mit dir und meine Mutter."
„Und deinem Bruder und deiner Nichte.", fügte James hinzu. „Sie sind seit Jahren in San Francisco. Ich habe also alles hier, was ich mitnehmen musste. Und jetzt verschwinde." Ich stand auf und Hugh legte sofort seinen Arm um mich, als müsse er mich stützen. Seine Berührung gab mir mehr emotionalen Halt, als Standfestigkeit.
„Sie gehen jetzt." Hugh war erstaunlich ruhig, strahlte aber eine immense Autorität aus, dass es James verunsicherte. Er kannte es nicht, dass ihm jemand so widersprach. Er kannte es nicht von mir, dass ich Kontra gab, aber ich hatte dieses Leben, dieses Ich, schon vor langer Zeit hinter mir gelassen. Ich war stark und hatte zusätzlich auch noch unglaublich tolle Menschen um mich herum, die für mich da waren.
„Weißt du, Liv. Deine Mutter nimmt es dir noch immer übel, dass du ihren einzigen Sohn nach San Francisco gezerrt hast. Dass aus dir nichts anständiges wird, wussten wir immer, aber deinen Bruder mit herunterzuziehen, ist das Letzte."
„Während Sie nicht mal den kleinen Finger krumm gemacht haben, hat Liv für ihre Familie viel zu viel auf sich nehmen müssen!" Ich hatte Logan noch nie schreien hören. Wahrscheinlich musste er sich anderweitig Luft machen, weil er seine Fäuste nicht sprechen lassen konnte. „Sie war es, die ihre Nichte mit großgezogen hat, obwohl das am wenigsten ihre Aufgabe war." James hob desinteressiert eine Augenbraue. „Sie hätte ihren Bruder nicht überreden sollen, diese Missgeburt zu behalten."
Es tat weh. Es tat unglaublich weh. Selbst wenn ich wusste, dass aus James Mund nichts anständiges herauskommen konnte, tat es weh, ihn so über Tori sprechen zu hören.
„Tori kann sich glücklich schätzen, nicht bei ihnen aufzuwachsen, sondern einen guten Vater und fürsorgliche Tante zu haben, die für sie da sind. Sie wissen nichts über Liv, ihr Leben oder wie weit sie es schon gebracht hat, ganz ohne ihre Hilfe. Sie wissen weder, wie sehr sie sich für Menschen einsetzt, die sie liebt, noch mit welcher Vehemenz sie sie verteidigt. Sie sind das Nichts, nicht Liv. Und jetzt gehen Sie." Mit aufgeklapptem Mund starrte ich Hoch zu Hugh. Auch Logan schien seine Wut vergessen zu haben. Hugh hatte mit solch einer Ruhe und doch Warnung gesprochen, dass keiner von uns es wagte etwas zu sagen.
Selbst James schien es für besser zu halten, Hugh nicht weiter zu reizen. Er drehte sich um und verschwand im Treppenhaus neben dem Fahrstuhl, ohne etwas zu sagen oder sich noch einmal umzudrehen.
Schließlich seufzte Hugh. Er wollte etwas sagen, aber ich kam ihm zuvor und stellte mich ihm gegenüber hin. Ich nahm sein Gesicht in meine Hände und zog ihn sacht aber bestimmt zu mir herunter, während ich mich auf die Zehenspitzen stellte, um ihm entgegen zu kommen.
Ich legte meine Lippen auf seine und ohne zu Zögern erwiderte Hugh den zärtlichen Kuss genauso sacht, wie ich ihn begonnen hatte. Hugh legte seine Arme um meine Taille, zog mich aber nicht weiter zu sich heran, sondern ließ mich vollkommen bestimmen.
Ich löste mich von ihm und sah ihm in die Augen. Die Liebe, die ich in seinen Augen sah, spürte auch ich in meinem Herzen. Und ich wusste, dass auch er sie in meinen Augen lesen konnte. „Ich liebe dich.", war alles, was ich hauchte, bevor ich die Arme sinken ließ, um Hugh zu umarmen und meine Wange an seine Brust zu legen.
Als wir knapp zwei Stunden später eng umschlungen in Hughs Bett lagen, kreisten meine Gedanken immer wieder um James und die Tatsache, dass er genau dann aufgetaucht war, als meine Probleme angefangen hatten. Ich hatte Hugh auch schon meine Theorie erläutert, aber auch meine Bedenken dazu erklärt. Immerhin konnte er zum einen keine Frau kennen, die einen so teuren SUV fuhr. Zum anderen hatte er weder Ahnung von Trojanern, noch von Kameras. Und als wenn das alles nicht genug wäre, konnte er mit Sicherheit auch keine Handynummer herausfinden. Das einzige, was ich ihm zutraute, war der Einbruch und der Stoß vor das Auto.
In beiden Situationen ist mir nichts größeres passiert. Es war eher der Schreck, den ich verarbeiten musste. Und genau das liebte James. Zu sehen, wie andere litten, aber nicht, weil sie Schmerzen hatten, sondern eher, weil sie Angst hatten.
„Danke, dass du für mich da bist.", flüsterte ich in die Stille hinein. Hugh vergrub sein Gesicht in meiner Halsbeuge. „Du bist es, die für mich da ist. Trotz dessen, dass du weißt, dass ich ziemlich zerstört bin." Ich strich über Hughs seidenweiches Haar. Die Jalousien verdunkelten den Raum und man sah nicht mehr viel. Aber die Dunkelheit umhüllte uns wie ein Kokon und trennte die verfluchte Welt von uns ab. „Hugh, du bist nicht zerstört. Du hast etwas Schreckliches erlebt. Ich wünschte, ich könnte es ändern, aber auch wenn es dich am Anfang zu der Verzweiflungstat gebracht hat, so bist du noch viel stärker aus der ganzen Situation herausgewachsen." Hugh atmete tief ein. „Wahrscheinlich musste ich das durchmachen, um mich endlich von meinen Eltern losreißen zu können." Ich nickte leicht. Hugh küsste meinen nackten Hals, was mich zum schmunzeln brachte. „Ich glaube wir beide haben eine ganz schön lange Zeit gebraucht, um uns von den Menschen zu lösen, die uns eigentlich vor der Welt schützen sollten. Aber ich bereue es nicht, gegangen zu sein."
„Warum?" Hugh schob seine Hand unter das Shirt, das ich trug und malte kleine Kreise auf meinem Bauch. „Ich würde sonst heute nicht hier liegen, einen Verlobungsring tragen und den perfekten Mann an meiner Seite haben." Wieder küsste Hugh die Stelle an meinem Hals. „Ich bin nicht perfekt, aber ich werde alles versuchen, dass ich es für dich werde." Ich kicherte. „Das war kitschig." stellte Hugh trocken fest. Mein Kichern wurde lauter, bis ich schließlich lachte. „Hugh, du hast schon so einige Sachen gesagt, die sehr romantisch waren. Oder wie du sagen würdest, kitschig." Hugh schnaubte. „Du bringst meine seltsamsten Seiten zum Vorschein." Mir gefiel die Erheiterung in seiner Stimme. „Wie schön, dass du es zugibst.", neckte ich ihn. Hugh stützte sich auf seinen Ellenbogen und beugte sich halb über mich. Ich konnte nur seine Silhouette erahnen und doch war ich mir sicher, dass Hugh gerade lächelte. „Wo bleiben deine kitschigen Liebeserklärungen?", hakte er nach. „Na aber hallo, davon gab's auch schon ein paar.", verteidigte ich mich brüsk. „Ich könnte gern noch welche hören." Jetzt war ich es, die schnaubte. „Dein Ego muss nicht noch weiter gestreichelt werden. Das Tageskontingent ist schon längst aufgebraucht. Sie werden sich wohl eine Weile gedulden müssen, Mr. Martins." Hugh lachte leise. Mir gefiel der tiefe, kaum zu hörende Klang sehr. „Mrs. Martins, ich glaube, Sie haben nicht ganz verstanden, dass Sie mit Ihrem Ja-Wort versichert haben, mir sehr oft an jedem Tag für den Rest Ihres Lebens zu zeigen, wie sehr Sie mich lieben." Empört schnappte ich nach Luft. „Du hast wohl zu viele Nicholas Sparks Filme geguckt." Aus dem nichts heraus, fing Hugh an mich zu kitzeln. Ich fing sofort an zu lachen und versuchte Hughs Hände von meinem Bauch wegzuschieben. Gelingen wollte mir das nicht. Ich bettelte Hugh an, aufzuhören. Aber ihm schien das ganze viel zu sehr zu gefallen.
„Wenn unser Leben ein Nicholas Sparks Film ist, dann haben wir ein wunderschönes Happy End.", stellte Hugh fest, ohne aufzuhören mich zu kitzeln. „Huuuuugh. Bi- bitte.", lachte ich. Mittlerweile hatte ich Schnappatmung. Hugh hörte aber gar nicht auf mich, sondern machte einfach weiter. Er setzte sich rittlings auf meine Oberschenkel und schien seinen Spaß zu haben, mich zu quälen. „Ja, ja wir werden ein Happy End haben, aber nicht, wenn du mich vorher zu tode kitzelst!", japste ich. Abrupt stoppte Hugh.
Ich atmete erleichtert mehrmals ein und aus. Es dauerte einen Moment, bis sich auch mein Herzschlag wieder beruhigt hatte. Erst dann bemerkte ich, dass Hugh sich keinen Millimeter mehr bewegt hatte, seit er mit dem Kitzeln aufgehört hatte.
Ich setzte mich auf. „Was hast du?", fragte ich vorsichtig. Ich legte meine Hand an Hughs Wange und streichelte sie. Kleine Bartstoppeln kitzelten meine Hand, aber das störte mich nicht.
Es war zu dunkel, um Hughs Augen sehen zu können, darum hatte ich keine Ahnung, was er gerade dachte. „Hugh?", fragte ich noch einmal vorsichtig nach. „Was ist, wenn du stirbst?", flüsterte er erschrocken. Was? Warum dachte er denn sowas? „Was ist, wenn du stirbst und mich allein zurück lässt? Wie soll ich das überstehen, ohne dir zu folgen?"
Vor Schock schossen mir sofort Tränen in die Augen. Genau so verzweifelt stellte ich mir den kleinen Hugh vor, der von seinen so perfekten Eltern immer weiter bedrängt wurde, bis er sich selbst nicht mehr zu helfen wusste.
Ich legte auch meine andere Hand an seine Wange und malte kleine Kreise mit meinen Daumen, wie er es sonst immer tat. „Hugh. Ich habe nicht vor so schnell zu sterben.", flüsterte ich. „Aber du kannst nicht wissen, dass es nicht doch passiert.", entgegnete Hugh mit erstickter Stimme. Wie haben wir es geschafft die Stimmung von himmelhoch jauchzend in zu tode betrübt zu verwandeln? „Du hast Recht." Ich legte meine Arme und Hughs Nacken und zog ihn zu mir. Er vergrub sein Gesicht an meinem Dekolteé, als suche er Schutz. Langsam ließ ich mich zurück auf die Matratze sinken, und hielt Hugh dabei weiter fest. Auch er hatte seine Arme um mich gelegt.
„Ich kann dir nicht versprechen, dass ich nicht schon morgen sterben werde, aber ich weiß, dass wir beide die Zeit, die wir haben, nutzen werden, um glücklich zu sein. Egal wie lang oder kurz sie sein mag. Und glaube mir, ich werde alles dafür tun, dass es eine sehr sehr lange Zeit wird." Mit aller Mühe unterdrückte ich die Tränen. Ich verstand Hugh. Vollkommen. Wie sollte ich weiterleben, wenn er nicht mehr wäre? Wie könnte ich neue Kraft finden, um mein Leben wieder aufnehmen zu können, wo er doch eine so zentrale Rolle mittlerweile darin eingenommen hatte? Mir zog sich das Herz zusammen, bei dem Gedanken, Hugh nie wieder sehen zu können. Ich unterdrückte die Panik, denn ich wusste, dass das Leben manchmal viel zu grausam verlief, als das alles ohne Probleme gut wurde. „Wären wir in einem Nicholas Sparks Film, würden wir die Hölle erleben, um dann für immer glücklich zusammen zu sein." murmelte Hugh. Ich erhöhte den Druck meiner Umarmung ein wenig. „Dann werden wir die Hölle überstehen. Zusammen. Ich habe mir nämlich selbst etwas geschworen."
„Und das wäre?" Hugh schien noch immer nicht sehr überzeugt zu sein. „Ich werde bei dir bleiben für den Rest meines Lebens. Ich will dich lächeln sehen und auf jeden Moment warten, bis du wieder lächelst. Und wieder. Und wieder." Die stummen Tränen, die mir nun doch über die Schläfen liefen und dann in mein Haar tropfen, dass auf dem Kopfkissen verteilt lag, konnte ich letztlich nicht mehr zurück halten.
„Habe ich heute also doch noch eine kitschige Liebeserklärung erhalten." Ich konnte Hugh schmunzeln hören. Ich schnappte nach Luft. „Du Schuft! Ich wollte dich aufmuntern. Und dir versichern, dass wir das schon hinkriegen werden." Hugh hob den Kopf und sah mich an. Seine Augen funkelten schwarz in dem dunklen Zimmer. „Und das ist dir gelungen. Ich habe wirklich eine wunderbare Verlobte." Er betonte das Wort Verlobte extra stark und mit jedem Wort, das er sprach, schien seine Sorge immer mehr in den Hintergrund zu treten. „Wie gut, dass ich 'Ja' gesagt habe, und ich nicht mehr nur deine Freundin bin.", neckte ich ihn. Hugh rutschte von mir herunter und legte sich auf die Seite. Er zog mich an sich und seufzte zufrieden. „Wie gut." murmelte er. Einen Augenblick später war er eingeschlafen und sein gleichmäßiger Atem streifte meine Haut am Hals, was eine Gänsehaut an meinem ganzen Körper verursachte. Mit gemischten Gefühlen, fielen auch mir kurz darauf die Augen zu.
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