Kapitel 50


„Das verstehe ich. Wie bist du da wieder herausgekommen?" Hugh seufzte. „Bevor ich noch tiefer abrutschen konnte, schickten meine Eltern mich auf ein strenges Internat. Nur Vorzeigekinder, kannst du dir vorstellen. Jeder wollte perfekter sein als der andere. Ich hatte gar keine Möglichkeit mehr irgendwie an Drogen heranzukommen. Ehrlich gesagt hatte ich auch gar nicht das Bedürfnis danach. Wahrscheinlich wollte ich meinen Eltern einfach nur Schaden zufügen, indem ich mir Schaden zufüge." Es tat weh, solche Dinge zu hören. Aber ich begann Hugh immer besser zu verstehen. Auch wenn mir die Geschichte hinter seiner Fassade nicht gefiel. „Wahrscheinlich haben mir meine Eltern einen Gefallen damit getan, mich auf das Internat zu schicken, ohne dass sie es wussten. Jedenfalls, bin ich dann zu Thanksgiving nach Hause. Ich war damals 17. Wieder sollte so eine dumme Veranstaltung stattfinden und dafür brauchten sie nun mal mich. Ich fuhr nach Hause und wieder traf mich die Kälte meiner Eltern. Dieses Mal noch stärker als jemals zuvor. Wir hatten uns fast ein Jahr nicht mehr gesehen und für sie war es mehr Pflicht bei dem Event dabei zu haben, als es wirklich zu wollen." Traurig schüttelte ich den Kopf. Wie konnten sie nur so gehässig zu ihrem eigenen Kind sein? „Ein Tag vor der Feier war meine Mutter nicht da und mein Vater musste in die Klinik. Ich saß auf meinem Bett und spielte nicht zum ersten Mal mit dem Gedanken, meinem Leben ein Ende zu bereiten. Vielleicht würde ich sie damit wachrütteln. Außerdem sah ich keinen Sinn in meinem Leben. Ich tat, was mir gesagt wurde. Von meinen Eltern, den Lehrern, der Gesellschaft. Ich wollte das alles einfach nicht mehr. Und es gab auch niemanden, mit dem ich hätte reden können. Bevor ich wusste, was ich tat, ging ich ins Bad, holte zwei Rasierklingen aus dem Schrank und setzte mich wieder auf mein Bett." Ich krümmte mich zusammen, als ich mich vorstellte, wie ein jugendlicher Hugh auf dem Bett saß, jede Hoffnung verloren hatte und bereit war, all den Schmerz zu beenden. Hughs Umarmung wurde fester. „Den Rest kannst du dir denken." murmelte er. Ich schüttelte den Kopf. „Bitte. Erzähl es mir. Wahrscheinlich ist meine Fantasie schlimmer als die Wahrheit." Hugh seufzte. „Aber ich sehe, dass es dir nicht guttut." Ein leichtes Lächeln bildete sich auf meinem Gesicht. Hugh wollte mich auch jetzt noch beschützen. Vor Dingen, die schon so lange zurückliegen und doch die Gegenwart beeinflussen. „Natürlich ist es nichts, das ich gerne höre, aber ich bin so unendlich froh, dass du endlich darüber sprichst. Denn, sei ehrlich, du hast noch nie mit jemandem gesprochen, oder?" Hugh sagte nichts. Dafür sprachen seine Augen so viel mehr aus. Die Trauer und der Schmerz schienen Hugh noch immer festzuhalten. „Lass uns das gemeinsam machen." Hugh atmete einmal tief durch. Schließlich nickte er. „Du bist so viel stärker als man annehmen würde." Ich schmunzelte und kuschelte mich wieder an Hugh. Auch wenn er mir gerade seine dunkle Vergangenheit offenbarte, fühlte ich mich auf seinem Schoß, in seinen Armen vollkommen behütet und sicher. „Ich tat es ganz schnell hintereinander. Weil ich keine wirkliche Ahnung hatte, wie ich es machen sollte, schnitt ich tief und lang über meine Unterarme. Dieses Gefühl, wie das Blut lief, ich werde es nie vergessen. Kurz danach wurde mir schwindlig und ich ließ mich zurückfallen. Danach wurde alles schwarz." Zitternd holte ich Luft. „Warst du tot?"

„Nein. Nur bewusstlos. Mein Vater kam noch einmal zurück, weil er etwas vergessen hatte und sah dann noch einmal in mein Zimmer. Als Arzt wusste er, was zu tun war. Er hat mir damals das Leben gerettet."

„Auch wenn ich ihn nicht mag, bin ich froh, dass er es getan hat." Hugh nickte. „Glaub mir, das bin ich auch. Aber er tat es weniger aus väterlicher Liebe, sondern eher aus Schutz vor dem Gerede der Menschen getan. Es kam nie an die Öffentlichkeit, dass ich mich selbst verletzt hatte. Meine Mutter hatte seitdem kaum mehr ein Wort mit mir gewechselt. Sie meinte, erst wenn ich wieder zur Vernunft komme, mir eine anständige Frau suche und den richtigen Weg gehe, würde sie mich irgendwie wieder akzeptieren. Ansonsten war ich für sie gestorben. Meinem Vater bin ich danach nie wieder begegnet. Ich wurde gar nicht erst in eine Klinik eingewiesen, sondern musste zuhause im geheimen behandelt werden. Seelsorge danach gab es auch nicht. Stattdessen wurde ich wieder zurück aufs Internat geschickt. Ich machte meinen Abschluss, schrieb mich dann an der Universität von San Francisco ein und beschloss Anwalt zu werden um irgendwann Menschen helfen zu können, die nicht die richtige Unterstützung bekommen, sie aber verdienen." Und so schloss sich der Kreis. Hugh hatte wohl eine der schlimmsten Kindheiten durchlebt, die man als Kind haben könnte. Ich dachte immer, dass ich und Joshua schon viel durchgemacht haben, aber das hier war tausendmal schlimmer. Wahrscheinlich würde ich nie ganz nachempfinden können, wie es Hugh damals ergangen sein musste.

Erst als Hugh anfing, durch mein Haar zu streichen und beruhigende Worte zu flüstern, fiel mir auf, dass ich weder weinte, schluchzte und mein Körper wieder zitterte. „Danach wurde es besser." Schniefend sah ich zu Hugh auf. Die Trauer war aus seinen Augen verschwunden. „Ich traf am College auf Adam, Doreen und Patrick. Später auf Mike, Liam und Natalie. Und jetzt auf dich. Mein Leben hat sich komplett gewandelt. Ich fange langsam an, das Geschehene hinter mir zu lassen, damit ich voll und ganz bei dir in der Gegenwart sein kann. Du hast so viel für mich getan, einfach nur, weil du bist wer du bist. Und dafür werde ich dir unendlich dankbar sein. Logan mag dich aus deinem Loch befreit haben. Du aber hast mich aus meinem befreit."

Ich wischte mir die Tränen weg. Dann legte ich meine Hand in Hughs Nacken und zog ihn zu mir, um ich zu küssen. Als ich mich von ihm wieder löste, sah ich in seine dunklen Augen, die aber weder Trauer noch Reue oder Einsamkeit ausstrahlten. „Ich werde immer für dich da sein. Du selbst besitzt schon so viel Stärke in dir. Es musste dir nur jemand einen Schubs in die Richtige Richtung geben. Deine Eltern haben seit Jahren keine Macht mehr über sich. Seit du dich dazu entschlossen hast, Anwalt zu werden und dein Leben zu leben. Nicht jeder wäre wieder aufgestanden und hätte es soweit gebracht, wie du es getan hast. Du glaubst gar nicht wie stolz ich auf dich bin. Wie sehr ich dich dafür bewundere aus eigener Kraft nochmal von vorne anfangen zu wollen, ohne zu wissen, wie dein Leben verlaufen würde. Ich kann dir nur immer wieder sagen, dass ich an dich glaube, Hugh." Ich umfasste sein Gesicht mit meinen Händen. „Du bist stark. Und du wirst weiterleben, wie du es möchtest. Und wann immer du das Gefühl hast, den Boden unter den Füßen zu verlieren, dich etwas bedrückt oder du einfach nur jemanden brauchst, der bei dir sein soll, werde ich da sein. Immer."

Hughs Reaktion war so unerwartet. Seine Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. Im nächsten Moment liefen sie ihm schon über die Wangen und trafen auf meine Hände, während Hugh mich einfach nur ansah. Er schien nicht glauben zu können, dass ich für ihr da sein würde. Aber er würde es irgendwann verstehen. Wir würden einfach nur genug Zeit brauchen. „Danke, Liv." flüsterte er ehrfürchtig. Ich malte als Antwort einfach nur kleine Kreise mit meinen Daumen auf seinen Wangen.

„Du bleibst bei mir." murmelte er. Ich nickte. Plötzlich wurde Hughs Blick unruhig. Er schien über etwas nachzudenken. Gab es etwas, was er mir noch nicht erzählt hatte? Hunderte Szenarien schossen mir in den Kopf, aber keine wollte so richtig passen. Also wartete ich stumm, bis Hugh sich scheinbar entschieden hatte, weiterzureden. Seine Augen nahmen einen überzeugten Ausdruck an. Ich schluckte schwer.

„Als ich dich das erste Mal gesehen habe, hattest du mich schon in deinen Bann gezogen." Verdutzt schaute ich Hugh an. Worauf wollte er hinaus? „Du saßt da unter dem Baum und wirktest so ruhig, selbst als Nick dich mit Fragen gelöchert hat. Als du ihm dann hinterher die Klippen heruntergesprungen bist, setzte mein Herz für einen Schlag aus. Nicht, weil jemand ihm hinterher gesprungen war, sondern weil du es gewesen bist. Eine fremde Frau, die wusste, welche Risiken ein unkoordinierter Sprung ins Meer haben könnte." Immer noch verwirrt, hörte ich Hugh zu. „Als ich dich dann in meinen Armen hielt und du auch im Wagen auf meinem Schoß saßt, hatte ich plötzlich das Gefühl, dich vor allem schützen zu müssen. Bei dem Klassentreffen, wollte ich dich besser kennenlernen und allein dieser Gedanke verstörte mich vollkommen. Ich war dann so wütend, dass du dich leichtfertig auf einen Jetski gesetzt hast, obwohl deine Schulter verletzt war. Noch wütender war ich, als du dich zu Mike gesetzt hattest. Diese plötzliche Eifersucht war vollkommen neu für mich." Ich senkte beschämt den Blick, aber Hugh hob meinen Kopf sofort wieder an. „Die Nacht darauf mit dir war das Schönste, was ich je erlebt habe. Schon in dieser Nacht wusste ich, dass es für mich mehr als nur eine Nacht sein sollte. Umso größer war der Schock, als ich am nächsten Morgen nichts außer deinem Armband in meinem Hotelzimmer fand." Ich wollte etwas erwidern, aber Hugh legte den Finger auf meinen Mund, also schwieg ich. „Dafür war das Wiedersehen in meiner Kanzlei überwältigend, bis ich annahm, dass wir deinen Freund betrogen hatten. Erst an einem Abend in meiner Kanzlei wurde mir klar, dass ich mich in eine Frau verliebt hatte, die eigentlich vergeben war und noch unzählige andere Probleme mit sich herumtrug. Ich wollte dir helfen, aber ich wollte auch sauer auf dich sein. Und weil ich so im Zwiespalt mit mir selbst stand, habe ich dich so auf Aprils Geburtstagsfeier angefahren." Mein Herz pochte lautstark in meiner Brust. Gebannt verfolgte ich Hughs Worten über unsere Geschichte. Seine Variante kannte ich noch nicht, wie mir in diesem Moment aufgefallen war. „Als wir uns dann endlich wieder annähern konnten und alle Missverständnisse beseitig haben, konnte ich dich endlich meine Freundin nennen." Hugh runzelte die Stirn. „Aber genau da liegt das Problem." Mir schwante nichts Gutes. „Dich meine Freundin zu nennen, das passt einfach nicht Liv. Nicht, wenn ich so viel für dich empfinde. Und wären uns nicht dieser Einbruch und diese Drohungen an dich in die Quere gekommen, hätte ich das schon früher geändert." Machte Hugh gerade mit mir Schluss? Ich wollte ihn zum Schweigen bringen, aber Hugh nahm den Finger noch immer nicht von meinem Mund. „Ich möchte dich meine Frau nennen. Ich möchte, dass du meinen Namen trägst." Vollkommen perplex riss ich die Augen auf. Spätestens jetzt hatte mich Hugh ausgeknockt. „Darum frage ich dich jetzt. Liv Brewster, mein Licht. Möchtest du meine Frau werden?"

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Das wars dann heute mit der Lesenacht. Ich verabschiede mich jetzt. Wir sehen uns ja am Montag schon wieder mit einem neuen Kapitel! 

Vielen Dank an alle, die heute dabei waren! *-* Es macht wirklich Spaß, Kapitel zu veröffentlichen, wenn man weiß, dass andere sehnsüchtig darauf warten :)

Ciao.

C.N.

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