Kapitel 49
Vorletztes Kapitel der Lesenacht, das andere wird jetzt auch gleich veröffentlicht! :)
„Ich hasse dich doch nicht. Ich hasse mich selbst dafür, dich immer wieder wegzustoßen. Es ist ein Reflex. Ein Schutzmechanismus. Du hast dich so schnell in mein Herz geschlichen, dass ich vollkommen überfordert mit all den Gefühlen bin. Die sind komplett neu für mich. Dich mit meinem Leben unbedingt schützen zu wollen, immer zu wissen, dass es dir gut geht, neben dir zu schlafen, dein Lächeln zu sehen. Diese ganzen Bedürfnisse hatte ich bisher nie. Aber es ist, als wären sie existenziell, damit ich normal weiterleben kann. Ich brauche dich Liv und ich will alles dafür tun, dass du bei mir bleibst." Ich war sprachlos. Vollkommen sprachlos. Hugh ging einen Schritt auf mich zu und hob die Hand, als wollte er ein scheues Tier beruhigen. Ich trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Hugh blieb abrupt stehen. „Bitte, komm von den Klippen weg. Du bist schon einmal eine hinuntergestürzt." Hugh sah mich bittend an. Ich erwiderte seinen Blick einen Moment, bis ich schließlich langsam nickte. „Okay." Hugh atmete erleichtert aus. Ein Teil seiner Anspannung schien von ihm abzufanllen. Aber ich sah noch immer, wie verspannt seine Schultern waren.
Ich trat zögerlich auf Hugh zu und er ging ebenfalls ein paar Schritte rückwärts, weg von den Klippen. „Wie hast du mich gefunden?"
„Ich war erst bei dir zuhause. Dann auf deiner Arbeit. Schließlich war ich in der Kanzlei, weil ich dachte, dass du bei Logan bist. Als er merkte, dass ich dich suche, beschrieb er mir diesen Ort hier." Ich schmunzelte, aber mir verging das Lächeln wieder, als ich realisierte, dass Hugh den ganzen Tag nach mir gesucht hatte. „Es tut mir leid." Aber Hugh schüttelte nur den Kopf. „Du musst mir immer wieder hinterherlaufen. Auf Fuerteventura, nach dem Essen beim Italiener und jetzt."
„Ich will, dass du mir vertraust, Liv." Ich seufzte. „Ich weiß nicht, ob sich die ganze Mühe überhaupt lohnt."
„Sag das nicht. Liv, Ich habe dich gerade erst gefunden. Wie soll ich dich jetzt wieder gehen lassen? Du bist die erste Frau, die erste Person, für die ich alles tun würde." Hugh stockte. „Ich würde es dir sagen." murmelte er wahrscheinlich mehr zu sich selbst. „Was sagen?" hakte ich vorsichtig nach.
„Du willst wissen, warum ich vorhin so extrem reagiert habe." Hugh sah mir direkt in die Augen. Ich erkannte Entschlossenheit, Willenskraft aber auch Unsicherheit und Angst in ihnen. Wollte ich wissen, warum Hugh so war, wie er nun mal war?
Hugh öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ich hielt ihn auf. „Warte!" Er schloss seinen Mund wieder. Ich ging zu meiner Tasche holte einen Zettel und einen Kugelschreiber aus dem Seitenfach. Und schrieb etwas darauf. Dann faltete ich das Blatt und reichte es Hugh. „Du darfst es nicht öffnen. Nicht, bis ich es dir sage." Hugh nahm den Zettel skeptisch entgegen, steckte ihn aber in seine Hosentasche und nickte schließlich.
„Ich erzähle dir, warum ich bin, wie ich bin." Ich schwieg, weil ich nicht wusste was ich noch hätte sagen können. Stattdessen schniefte ich nur noch einmal. Hughs Blick wurde gleich noch eine Spur zärtlicher. Was war so schlimm, dass er es mir nicht erzählen wollte? Hatte ihm jemand etwas angetan? Hing das alles damit zusammen, dass Hugh so ein verschlossener Mensch war?
„Mein Vater ist Arzt." begann Hugh. Er war vollkommen verspannt und starrte auf das Meer hinter mir, während der Wind durch seine schwarzen Haare wehte. Verwirrt hörte ich ihm einfach zu, weil ich nicht wusste, was sein Vater mit alldem zu tun hatte. „Er war Chirurg besser gesagt. Vor einigen Jahren erkrankte er an Tremor. Dabei ziehen sich Muskeln immer wieder zusammen, weswegen seine Hände anfingen zu zittern. Es ist das Todesurteil für jeden Chirurgen. Daher schlug er eine andere Laufbahn ein und wurde Chefarzt vom St. Martins Hospital. Es ist eine Privatklinik, in der nur Menschen mit sehr viel Geld behandelt werden. Also Menschen wie mein Vater und meine Mutter." Ich brauchte einen Augenblick, bis ich Hughs Worte verstand. „Deine Eltern sind reich." Hugh nickte. „Seit drei Generationen sind die Männer unserer Familie Ärzte geworden. Ich bin die Ausnahme."
„Und das hat deinem Vater nicht gefallen." Hugh schnaubte. „Meinem Vater bin ich egal. Er hat mich schon sehr früh abgeschrieben. Meine Mutter hatte viele Tobsuchtanfälle deswegen. Wobei sie nur das hübsche Beiwerk meines Vaters war und nur gut darin ist, sein Geld auszugeben." Hugh hatte also auch nie wirklich Liebe von seinen Eltern erhalten. Auch, wenn ich mir das irgendwie schon denken konnte, stimmte es mich traurig. „Sie haben mich eher als Marionette gesehen, aber ich war nie gut genug. Es hieß andauernd 'immer weiter, höher und besser'. Außer zu Veranstaltungen. Wann immer sie in der Öffentlichkeit waren, haben sie ihr falsches Lächeln aufgesetzt, mich gelobt und den anderen vorgeführt, um den Schein der perfekten Familie zu wahren. Rückblickend glaube ich aber, dass das nie jemand wirklich geglaubt hat." Das erklärte, warum Hugh es hasste, wenn Menschen ein falsches Lächeln aufsetzten. Er brachte es immer mit seinen Eltern in Verbindung und an sie schien er keine guten Erinnerungen zu haben.
„Es tut mir leid, dass du unter solchem Druck aufwachsen musstest." Hugh sah mich an und erkannte, dass ich es wirklich ernst meinte, was ich sagte. Seine Augen, die sich, während er von seinen Eltern erzählt hatte, dunkler geworden waren, hellten sich für den Moment wieder ein Stück auf. Nun war ich es, die auf Hugh zuging, aber er wich im selben Moment einen Schritt zurück. Ich ließ die Hand, die ich gehoben hatte, wieder fallen.
„Ist dir aufgefallen, dass du mich nie wirklich unbekleidet gesehen hast?" Ich runzelte die Stirn. Er hatte recht. Wenn wir miteinander geschlafen hatten, war es immer dunkel im Raum gewesen und sonst auch hatte er immer etwas an, wenn ich ihn gesehen hatte. Und an dem Morgen, als er in sein Wohnzimmer gestürmt war, hatte er sich recht schnell zurückgezogen, nachdem er gemerkt hatte, dass ich noch da war. Ich hatte Hugh noch nie wirklich gesehen.
Hugh griff nach seiner Krawatte und löste sie. Achtlos ließ er sie zu Boden fallen. Dann knüpfte er sein weißes Hemd auf. „Was machst du?" fragte ich überflüssigerweise, aber es verwirrte mich, dass Hugh sich auszog.
Er öffnete den letzten Knopf und streifte dann das Hemd von seinen Breiten Schultern ab. Dann landete auch das Hemd im Gras. Ich betrachtete Hugh. Die breiten Schultern standen im perfekten Verhältnis zu seiner schmalen Hüfte. Seine Bauchmuskeln waren perfekt definiert und auch seine Brustmuskeln schien Hugh regelmäßig zu trainieren. Seine braune unbehaarte Brist schien einfach nur aus Muskeln zu bestehen. Ebenso wie Hughs Arme, die er einfach herunterhängen ließ. Ich konnte mich nicht erinnern, seine perfekten Unterarme je gesehen zu haben.
„Dir gefällt, was du siehst. Aber nur, weil du etwas noch nicht gesehen hast." Ich löste meinen Blick von Hughs perfektem Körper und sah ihm in die Augen. Sie wirkten betrübt. Er erwartete, dass ich mich von ihm abwenden würde. Aber warum? Ich wollte den leidenden Ausdruck aus Hughs Augen verschwinden lassen. Irgendwas hielt mich davon jedoch ab.
Dann hob Hugh seine Arme und streckte sie nach vorne. Ich verstand nicht, was er mir zeigen wollte, bis er seine Arme umdrehte, und die Innenseite seiner Arme nach oben zeigten. In mir zerbrach etwas und mein Herz zog sich so schmerzhaft zusammen, wie ich es noch nie erlebt hatte. Tränen schossen mir unmittelbar in die Augen. Auf Hughs gebräunten Unterarmen waren lange Narben zu sehen, die gute 10 cm lang waren und entlang seiner Pulsader verliefen.
Hugh hatte sich versucht das Leben zu nehmen.
Meine Beine gaben unter mir nach als sich mein Blick verschleierte. Bevor ich auf dem Boden aufkam, war Hugh bei mir, zog mich an sich und ließ sich mit mir zusammen langsam ins Gras sinken. Er hielt mich in seinen Armen während ich anfing zu schluchzen und die Tränen in Strömen über meine Wangen liefen. Ich weinte immer heftiger und Hugh hielt mich die ganze Zeit über fest. Irgendwann zog er mich auf seinen Schoß. Er murmelte zusammenhangslose Worte. Nach einer Weile ergaben sie schließlich einen Sinn. „Es tut mir leid. Bitte, Liv. Es tut mir so leid." Noch immer weinend und zitternd, löste ich mich aus Hughs Umarmung. Er gab mich nur widerwillig frei, wobei er es auch nicht ganz tat. Seine Arme lagen nun einfach locker um meine Hüfte.
Ich umfasste Hughs Gesicht mit meinen Händen. Hugh riss überrascht die Augen auf. „Bitte entschuldige dich nicht." murmelte ich. Ich konnte nicht lauter sprechen, weil ich Angst hatte, dass sich mein leises Schluchzen wieder in hemmungsloses Heulen verwandelte. „Bitte tu das nicht."
„Aber ich habe dir wehgetan." murmelte er und verzog das Gesicht. Ich schüttelte nur den Kopf. Es dauerte, bis ich meine Stimme wiederfand. „Du hast mir nicht wehgetan. Der Gedanke, dass du dir das Leben nehmen wolltest, nicht hier sein wolltest..." Ich brach ab, als die nächsten Schluchzer über mich hereinbrachen. „Das war lange, bevor ich dich getroffen habe. Ich werde es nie wieder tun, Liv. Weil ich jetzt dich habe. Weil ich jetzt einen Grund habe, glücklich zu werden." Ich versuchte meine Tränen zu trocknen. Hugh umfasste meine Handgelenke, senkte meine Arme und strich dann selbst mit seinen Daumen über meine Wangen. Dann legte er seine Arme wieder um mich und eine Weile saßen wir einfach nur beieinander, ohne etwas zu sagen. Irgendwann traute ich mich schließlich doch, die Frage aller Fragen zu stellen. „Warum wolltest du nicht mehr weiterleben?" Hugh sah mir kurz in die Augen, löste den Blick aber wieder von mir und sah wieder zum Horizont. Der Wind und das Geräusch der brechenden Wellen war alles, was uns in diesem Moment umgab.
„Ich war 15. Es war kurz nach Weihnachten als ich zu meinem Vater ins Krankenhaus sollte. Damals hatte er noch nicht aufgegeben mich zu überzeugen, Arzt zu werden. Ich wartete auf ihn an einem Seiteneingang. Er mochte er nicht, wenn ich über den Haupteingang ins Krankenhaus kam, weil er sich schämte, mich als Sohn zu haben. Einen, der nichts mit Medizin am Hut hatte. Plötzlich tauchte eine Frau mit einem kleinen Mädchen in den Armen vor mir auf. Beide waren blutüberströmt, aber das Mädchen war so blass und sah aus wie ein Geist, weil sie so viel Blut verloren hatte." Hugh erschauderte und ich legte meine Arme um ihn. Mein Gesicht schmiegte ich an seine Brust. Er sollte wissen, dass ich für ihn da war. „Sie bat mich, ihr zu helfen. Weinend, zitternd und traumatisiert. Ich wollte sie sofort reinholen, aber mein Vater tauchte in diesem Moment auf. Er sah die Frau abschätzend an und als sie auch ihn bat, ihrer Tochter zu helfen, lachte er nur kalt und sagte, dass sie sich noch nicht einmal einen Verband in seiner Klinik leisten könnte." Schockiert hörte ich Hugh zu. „Die Frau brach zusammen. Mein Vater drehte sich um und ging. Wahrscheinlich dachte er, dass ich ihm folgen würde. Geschockt von der Kälte dieses Mannes, ging ich zu der Frau und dem kleinen Mädchen, dass nicht älter als 4 sein konnte. Ich tat alles, was ich konnte, wirklich Liv. Aber das Mädchen starb noch an Ort und Stelle. Ich Mutter schrie laut und hatte einen Nervenzusammenbruch, während ich versuchte ihre Tochter wiederzubeleben. Aber alles, was ich tat, war noch mehr Blut aus ihren Wunden zu pumpen." Stumm drückte ich Hugh fester. Meine Tränen waren versiegt, viel zu sehr schockierte mich, was Hugh mir gerade erzählte. „Ich weiß, dass ich sie nicht getötet habe. Aber ich weiß, dass ich sie nicht gerettet habe." Hugh spielte mit meinen Haaren. Sie mussten durch den Wind schon vollkommen durcheinander sein. „Hugh..." Ich murmelte seinen Namen und als Antwort erwiderte er den Druck meiner Umarmung.
„An diesem Tag verlor ich jeglichen Respekt vor meinem Vater. Eine Schwester fand uns und als mein Vater zurückkam, heuchelte er Mitgefühl vor. Die Mutter des Mädchens war viel zu sehr von ihrer Trauer eingenommen, als ihn wiedererkennen zu können. Ich erzählte meiner Mutter alles, aber sie lachte mich nur aus und meinte, ich solle mein Mitgefühl hinter mir lassen. Mitgefühl würde mich schwach machen. Somit starb auch meine Mutter für mich. Bis heute verstehe ich nicht, wie ihnen das egal sein kann, was an diesem Tag passiert ist." Ich verstand vollkommen, warum Hugh seine Eltern so verabscheute. Ich empfand im Moment selber nichts anderes. Ich kannte sie nicht, und doch hatte ich jeglichen Respekt vor ihnen verloren. „Ich kam mit dem Wissen nicht zurecht, dass das Mädchen in meinen Armen gestorben ist. Wahrscheinlich hätte mein Vater sie auch nicht retten können, aber er hätte es versuchen müssen. Als Arzt hatte er einen Eid geschworen! Mir will nicht in den Kopf, wie jemand Arzt werden kann, wenn er Menschen nicht helfen will." Hugh schüttelte den Kopf. „Ich begann zu rebellieren. Rutschte irgendwie auf die schiefe Bahn für eine kurze Zeit. Sie war zu kurz, um mit harten Drogen in Kontakt zu kommen, oder Straftaten zu begehen, aber ich nahm fast täglich Einstiegsdrogen." Ich zog scharf die Luft ein und sah zu Hugh hoch. Er erwiderte meinen Blick. „Ich habe mich nie erwischen lassen, sonst wäre ich heute kein Anwalt, aber ich bin auch nicht stolz darauf."
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