Kapitel 37

Ich atmete zitternd ein und starrte auf mein Handy. Hugh und ich händchenhaltend hier im Restaurant, noch bevor das Essen gebracht worden war. Ich unterdrückte den Drang mich umzusehen und blieb ruhig, auch wenn mein Herz raste. Unter dem Bild fand ich wieder diese Nachricht. 'NICHT deine Klasse!' Langsam atmete ich aus.

„Stimmt etwas nicht?" Ich zuckte heftig zusammen. Erschrocken schaute ich zu Hugh herüber. Hugh richtete sich auf und wurde wachsam. „Liv, was ist los?" fragte er ernst. Ich sah auf mein Handy und dann wieder zu Hugh. „Ich weiß es nicht." sagte ich schließlich. „Was für eine Nachricht hast du bekommen?" hakte er nach. Alles in mir sträubte sich danach, ihm das Bild zu zeigen. Wieder vibrierte mein Handy. Wenn mich die erste Nachricht schon geschockt hatte, dann war die hier noch schlimmer.

„Lass gut sein, Hugh."

„Wie bitte?" Hugh starrte mich fassungslos an. Ich nahm meine Tasche und stand auf. Ich wusste nicht, was hier gespielt wurde, aber ich wusste, dass es etwas mit Hugh zu tun hatte, also musste ich gehen. „Du willst jetzt nicht wirklich gehen." Er schüttelte den Kopf und sah noch immer mit aufgerissen Augen zu mir rauf. Ich konnte ihm einfach nicht die Bilder zeigen.

„Danke Hugh. Wir sehen uns." Ich wollte ihn anlächeln, aber ich wusste, dass es kein echtes Lächeln sein würde und ich wusste auch, dass Hugh etwas gegen ein falsches Lächeln hatte.

Ich ging aus dem Restaurant heraus ohne Hugh noch einmal anzusehen und ging Richtung Blacktronic, wo mein Auto parkte. Mittlerweile ging die Sonne unter und sie blendete mich, während ich mich durch die Menschen schlängelte.

Es sollte kein Bild mehr geben. Ich dachte ich hätte alle gelöscht oder verbrannt. Ich schlängelte mich gedankenverloren durch die Menschenmenge. 

Es sollte einfach keines mehr da sein. Ich überlegte, wie die Person an dieses Foto gelangen konnte, aber ich fand keine logische Erklärung. Wer war diese Frau und was wollte sie von mir? Gerade jetzt? Und was hatte das mit Hugh zu tun?

Ein Ruck ging durch meinen Körper. Ich stolperte nach rechts, rutschte am Bordstein ab und fiel. Hart stieß ich auf dem Asphalt auf. Ich unterdrückte ein Stöhnen, als Schmerz von meinen Ellenbogen und Knien durch meinen Körper schoss, und sah ruckartig auf. Die Scheinwerferlichter, die auf mich zukamen, lähmten mich. Weg. Ich musste von der Straße weg! Aber ich konnte mich einfach nicht bewegen. Ich hörte einen Schrei, Hupen und quietschende Reifen und im nächsten Moment ging wieder ein Ruck durch meinen Körper.

Ich kniff die Augen zusammen, und wartete auf den Schmerz. Aber er kam nicht. Mein Körper hörte nicht auf sich zu bewegen. Alles drehte sich. „Liv!" Dumpf nahm ich eine Stimme wahr.

Ich kannte die Stimme. Zögernd öffnete ich die Augen und blickte auf eine breite Brust, bedeckt von einem weißen Hemd und einem dunkelblauen Jackett. Wieder dieses Drehen. „Liv, verdammt!" Erschrocken blickte ich auf und traf auf die weit aufgerissenen, mit Angst erfüllten, dunkeln Augen von Hugh.

Hugh griff nach meinen Händen, die ich an meine Brust gepresst hatte. Seine warmen Hände umschlossen meine und wärmten sie. Ich hatte das Gefühl, als wäre alles Blut in meinem Körper gefroren. Mir war unglaublich kalt und ich zitterte heftig. Dann umarmte mich Hugh und zog mich fest an sich. Wir knieten auf dem Asphalt und ich nahm nun auch wieder wage die starrenden Personen um uns herum wahr. Ich vergrub mein Gesicht an Hughs Brust und ließ mich von ihm hin und her wiegen. Immer wieder flüsterte er meinen Namen. Immer wieder strich er mir durch mein Haar und küsste meinen Scheitel.

„Hugh..." Nach einer Weile hatte ich mich wieder etwas beruhigt und wollte mich losmachen von Hugh, aber er zog mich als Antwort nur noch fester zu sich heran und flüsterte weiter meinen Namen. „Hugh, ich bin okay."

„Aber ich nicht." Und jetzt bemerkte ich es. Auch Hugh zitterte stark am ganzen Körper. Ich sah zu ihm auf und sah sein blasses Gesicht. Unsere Blicke trafen sich und ich erkannte wieder die nackte Angst in seinen Augen. Zögernd hob ich die Hand und berührte Hughs Wange. Sofort schmiegte er sich in meine Handfläche und schloss die Augen. Die Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen wollte aber nicht verschwinden.

Hugh öffnete die Augen wieder und sah mich noch immer aufgewühlt an. Im nächsten Moment vergrub er seine Hand in meinem Haar im Nacken, zog mich zu sich hoch und presste seine Lippen hart auf meine. Perplex riss ich die Augen auf. Unser erster Kuss war auch nicht zurückhalten gewesen, aber dieser hier war anders. Es war, als wollte Hugh wirklich prüfen, ob ich da war.

Ich schloss die Augen und fuhr mit der Hand entlang seiner Wange bis zu seinem Nacken, um auch Hugh weiter zu mir zu ziehen. Dass die ganzen Menschen um uns herum uns angaffen mussten, ignorierte ich einfach. Alles, was wichtig war, war Hugh. Einzig er allein zählte in diesem Augenblick.

Hughs Zunge forderte Einlass und strich forschend über meine Lippen. Ich öffnete sie und ließ ihn gewähren. Ich genoss das Gefühl vollkommen. Wie sehr ich Hughs Geschmack vermisst hatte, wurde mir erst jetzt bewusst. All die Zeit hatte ich mir immer gewünscht, von ihm wenigstens in den Arm genommen zu werden. Jetzt merkte ich, dass mir das nicht reichte. Ich wollte ihn ganz und gar.

Die Bilder, die mir heute als SMS geschickt wurde, tauchten vor meinem geistigen Auge auf. Zögerlich löste ich mich von Hugh. Auch er ließ widerstrebend von mir ab. Alles in mir wehrte sich dagegen, aber mein Kopf schrie mich an, aufzuhören. Ich blickte auf meine linke Schulter. Noch immer konnte ich den Druck spüren. Jemand hatte mich gestoßen. Jemand hat mich absichtlich auf die Straße gestoßen! Ein Schauder jagte über meinen Rücken.

Hugh merkte es und zog mich wieder zu sich heran. Ich umarmte ihn und sah noch immer auf meine Schulter. Jemand wollte mir wehtun! Wenn nicht sogar meinen Tod.

„Hier dein Tee. Der wird dich beruhigen." April reichte mir die Tasse und setzte sich dann neben mich. Liebevoll strich sie mir über den Rücken. Adam betrat den Raum wieder und hielt einen kleinen Erste-Hilfe-Kasten in der Hand. Er setzte sich gegenüber von mir auf den Tisch und öffnete den Koffer.

„Ihr müsste das wirklich nicht machen." versuchte ich Adam und April umzustimmen, mich weiter zu versorgen. Ich wollte sie nicht von der Arbeit abhalten und ihnen Umstände bereiten. „Liv. Hör auf. Lass dir helfen." tadelte April mich, aber die Sorge verschwand nicht aus ihrer Stimme. „Hugh hat dich hergebracht, damit wir dich versorgen. Mein Gott ich habe ihn noch sie so fertig gesehen." April schüttelte den Kopf, als konnte sie es noch immer nicht fassen.

Hugh hatte mich von dem Unfallort wieder zu Blacktower gebracht und April und Adam gebeten mir zu helfen. Abgesehen davon, dass mein Kleid hinüber war, hatte ich Schürfwunden an den Händen und Knien. Außerdem hatte konnte ich dieses Bild, wie das Auto auf mich zugefahren kam, nicht aus meinem Kopf bekommen.

„April hat Recht. So wie Hugh drauf ist, reißt er uns den Kopf ab, wenn wir dich nicht wieder zusammenflicken." Er lächelte mich kurz aufmunternd an. Dann tupfte er Alkohol auf meine Wunde und klebte ein Pflaster auf jedes Knie und meine beiden Handflächen. Es waren wirklich mehr Kratzer als alles andere, aber Hugh hatte darauf bestanden.

„So, fertig." Adam stand auf. Im selben Moment kam auf Hugh wieder in Adams Büro und ging sofort zu uns auf der Sitzgarnitur zu. „Wie geht es dir?" fragte er und ließ sich neben mir nieder. April stand parallel dazu auf und ging mit Adam zu seinem Schreibtisch. Sie wollten und wohl ein wenig Freiraum geben.

„Es geht wieder." antwortete ich ehrlich. Hugh zog mich ans Antwort wieder zu sich heran und wiegte mich hin und her. „Wo warst du überhaupt?" fragte ich zögerlich. „Ich habe Timothy gebeten zu checken, ob es Videokameras gibt, die zeigen, wer dich auf die Straße gestoßen hat, aber genau dort gibt es keine einzige." Ich sah überrascht zu ihm hoch.

„Ich habe die Person nicht gesehen, die dich gestoßen hat. Dafür war ich zu sehr damit beschäftigt, dich nicht aus den Augen zu verlieren. Aber ich habe gesehen, wie du auf einmal zu Seite getaumelt bist. Und dann-" Hugh brach ab.

„Hugh mir ist nichts passiert." Er schnaubte und nahm meine Hand, um meine Handfläche dann noch oben zu drehen. „Das ist nichts Hugh. Wirklich. Da war die Prellung schlimmer." Hugh schloss die Augen, als würde ihm die Erinnerung Schmerzen bereiten.

Ich trank einen Schluck von meinem Tee und April setzte sich wieder zu uns. „Wer sollte das tun? Gibt es jemanden, der dich nicht leiden kann?" Adam setzte sich neben April und legte einen Arm um sie, ähnlich wie Hugh mich festhielt, nur nicht ganz so zwanghaft, als hätte er Angst, dass April gleich etwas zustoßen würde.

Ich zuckte mit den Schultern. „Das kann ich dir wirklich nicht sagen." Ich sah auf meine Tasse.„Mein Vater..." murmelte ich dann.

„Du sagtest er sei gestorben." April sah mich aufmerksam an. Ich sah ein Aufblitzen in Adams Augen und auch Hugh schien es nicht gewusst zu haben. Woher auch? April schien nicht der Mensch zu sein, der gleich allen meine Geschichte erzählen würde.

Ich nickte. „Er starb bei einem Autounfall."

„Zufall?" fragte Adam. Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht, aber mein Vater ist damals stark betrunken durch die Gegend getorkelt. Dabei ist er auf die Fahrbahn gekommen und dann wurde er von einem Auto überfahren." erklärte ich nüchtern.

„Woher weißt du, dass es so passiert ist?" fragte Hugh neben mir. Ich seufzte. „Ich musste mir die Leiche ansehen, um sie zu identifizieren und die Polizei hat mir die Aufnahme einer Überwachungskamera gezeigt."

Schweigen. Ich sah auf und blickte in Adams und April verständnislosen Gesichter. Als ich zu Hugh blickte, erkannte ich einen Funken Wut in ihnen. „Wie alt warst du?" fragte er und wenn es jemand nicht in seinen Augen erkennen konnte, dann hätte man die Wut spätestens mit seinen Worten erkannt.

„Ich war 12." Verwirrt sah ich zwischen den drei hin und her. Warum reagierten sie so? „Liv, warum? Warum hat deine Mutter das nicht übernommen?" April hatte ihre Fände zu Fäusten geballt. Sie sah mich traurig an. Und jetzt verstand ich. Sie dachten, dass mich dieses Ereignis geschockt haben musste.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht sagen, dass ich meinen Vater hasste, aber geliebt habe ich ihn ganz bestimmt nicht. Die beste Zeit war die Zeit, in der er nicht zu Hause war und arbeitete."

April sah mich besorgt an. Ich erkannte Verwirrung und Unverständnis in ihren Augen. Als mein Blick kurz zu Hugh flog konnte ich sehen, dass er nachdachte. Er sah mich zwar an, aber schien mich doch nicht zu sehen.

„April, mein Vater war kein Familienvater. Er trank zu viel, schrie, schlug um sich und zertrümmerte regelmäßig unsere Einrichtung."

„Er hat dich geschlagen?" fragte sie fassungslos. Adam und Hugh schwiegen, aber ich war mir sicher, dass die beiden dieselbe Frage gestellt hätten, wenn April es nicht getan hätte.

„Nicht oft. Er hat eher meine Mutter geschlagen. Ich habe dann eine Ohrfeige bekommen, wenn ich um etwas bitten musste oder ich eine Frage hatte." April runzelte die Stirn. Sie schien das alles nicht zu verstehen. Es tat mir leid, dass sie ihre Eltern verloren hatte. Auch wenn ich nicht wusste warum, so war ich mir sicher, dass es für sie eine schwere zeit gewesen sein muss.

„Seid mir nicht böse, aber ich würde gern nach Hause. Ich bin müde." April und Adam nickten sofort. „Selbstverständlich."

„Ich fahre dich." erklärte Hugh. Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber bei Hughs resoluten Blick, der keinen Widerspruch duldete, fügte ich mich und nickte schließlich.

Wenige Minuten später saß ich bei Hugh im Wagen und wir fuhren zu mir nach Hause. Adam hatte mir angeboten, dass jemand meinen Wagen zu mir nach Hause fahren und die Autoschlüssel in den Briefkasten werfen würde. Ich hatte mich schließlich damit einverstanden erklärt und wir waren aufgebrochen. April hatte mich noch einmal in eine lange und feste Umarmung genommen. Auch Adam hatte mich kurz umarmt.

„Danke Hugh." Er warf mir einen kurzen Blick zu. „Für mich kam gar nichts anderes in Frage." sagte er nur und konzentrierte sich weiter auf die Straße.

„Lebt deine Mutter noch?" fragte Hugh mich schließlich irgendwann. Wir standen im Stau und Hugh beobachtete mich von der Seite. Ich nickte schließlich. „Ja, sie lebt noch zusammen mit ihrem neuen Mann in unserem Haus."

„Wo ist das?" fragte Hugh. Ich lächelte schwach. „Zum Glück ganz viele Meilen entfernt in New York." 

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