Kapitel 24


„Ähm...willst du reinkommen?" Ich hatte keine Ahnung, was er hier suchte, aber wenn er klingelte, dann wollte er wohl oder übel zu mir. Sein Nicken bestätigte es mir. Ich trat zurück und öffnete die Tür ganz, damit Hugh eintreten konnte.

Ich schloss die Tür wieder hinter Hugh und wartete ab, bis er seine Inspektion im Wohnzimmer beendet hatte. Sie endete bei der Kakaotasse von Tori, die neben meiner Kaffeetasse von heute früh stand.

„Hast du Besuch?" fragte Hugh und drehte sich zu mir um. Ich kam nicht dazu ihm zu antworten, denn Tori stürmte wütend aus dem Flur auf uns zu.

„Wieso hast du mir nichts gesagt?" schrie sie mich an. Verwirrt trat ich an Hugh vorbei, der seinerseits auch einen Schritt zu Seite machte, um mich durchzulassen. Tori schien ihn einfach zu ignorieren und funkelte mich wütend an.

„Was gesagt?".
„Du hast gesagt, dass Papa in keinen bösen Angelegenheiten steckt."
„Das tut er auch nicht." sagte ich ruhig.
„Aber du weißt woher das Geld kommt. Das ist nicht von ihm." schrie sie.
„Was hat er dir erzählt?" hakte ich nach.

„Du gibt's ihm das Geld! Du gibt's ihm das Geld für meine Schule, meine Sachen, Dinge, die ich haben möchte!" Tränen der Wut liefen ihr über die Wangen.

„Tori, ich..." Mir fehlten die Worte. „Ich kann dich so selten sehen, weil ich viel zu lange arbeiten muss, aber ich will trotzdem etwas für dich tun. Ihr seid meine Familie." sagte ich sanft. Ich ging langsam immer mal wieder einen Schritt auf sie zu.

„Aber du kannst doch nicht einfach dein Geld Papa geben, damit er genug für mich hat." widersprach sie weinend.

„Er hat leider nicht genug Geld. Nach deiner Geburt, hat er sich um dich gekümmert und hatte nicht die einfachsten Möglichkeiten einen Job zu finden, weil deine Oma keine große Hilfe ist. Als ich damals weggezogen bin, habe ich euch gesagt, dass es irgendwann besser werden wird. Und es ist besser geworden. Aber im Gegenzug muss ich dafür arbeiten und kann weniger Zeit mit euch verbringen."

Tori weinte hemmungslos und ließ sich auf den Boden fallen. „Du hast gesagt wir lügen uns nie an."

Die Ohrfeige, die den Tag komplett machte. Ich ließ mich vor Tori auf den Boden nieder. Zögerlich nahm ich sie in die Arme, da ich wartete, dass sie mich wegstoßen würde, aber sie tat genau das Gegenteil. Weinend klammerte sie sich an mich. Mein Herz blutete. Sie tat mir so unglaublich leid. Sie war so jung und musste schon so erwachsen sein. Auch sie hatte keine richtige Kindheit. Eine bessere als Joshua und ich, aber auch noch nicht die perfekte Kindheit, in der sich das Kind keine Sorgen um seine Eltern, Geld oder Ähnliches machen muss.

„Ich vermisse dich." Tori weinte in mein T-Shirt und umklammerte mich fest.

„Es tut mir leid." flüsterte ich. Ich merkte kaum, dass mir auch Tränen über die Wangen liefen. Langsam um sie und auch mich zu beruhigen wiegte ich uns hin und her. Nach einer Weile wurde ihre Atmung gleichmäßiger, bis ich mir irgendwann sicher war, dass sie eingeschlafen war. Wieder strich ich durch ihr Haar. Das war so ein Moment, wo ich Joshua den Kopf abreißen wollen würde. Wenn er schon mit ihr darüber reden wollte, hätte er es auch persönlich machen können. Über das Telefon solche Dinge vor allem mit einem Kind zu besprechen ging gar nicht.

Hugh tauchte plötzlich in meinem Blickfeld auf. Erschrocken hob ich den Kopf und zog die Luft lautstark ein.

„Soll ich sie ins Bett legen?" fragte er leise und deutete auf Tori. Ich zögerte kurz, nickte dann aber dankbar. Hugh nahm mir Tori vorsichtig ab. Ich ging vor zu ihrem Zimmer und klappte die Decke beiseite. Hugh legte Toris schlafenden Körper sanft auf dem Bett ab.

In meinem Herz zog sich etwas zusammen, als ich sah, wie vorsichtig und fürsorglich er mit ihr umging. Langsam zog er seine Arme unter ihrem Körper hervor. Dann strich er ihr noch die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Dieses Bild tat weh. Zum einen, weil ich wusste, dass Joshua Tori nie so ins Bett bringen würde oder könnte. Zum anderen, weil Hugh sich gerade noch tiefer in mein Herz geschlichen hatte, ohne dass er es selber gemerkt hat.

Wieder tauchte ein inneres Bild in meinem Kopf auf. Hugh, wie er ein kleines braunhaariges Mädchen mit Korkenzieherlocken ins Bett brachte. Er las ihr eine Geschichte vor, gab ihr danach einen Kuss auf die Stirn und wünschte ihr süße Träume.

„Liv?" Hugh holte mich aus meinen Gedanken. Dann nahm er mir die Decke ab, und deckte Tori zu. Er achtete darauf, dass sie richtig zugedeckt war, dann richtete er sich auf. Einen Moment ließ er noch den Blick auf ihr verweilen. Dann sah er mich an. Ich glaubte Schmerz in seinen Augen zu sehen. Genau konnte ich es aber nicht bestimmen, weil das Zimmer zu dunkel war durch die zugezogenen dicken Vorhänge.

Liese verließen wir das Zimmer. Ich schloss die Tür hinter mir und ging dann zu Hugh ins Wohnzimmer. Ich hob Toris Handy vom Boden auf. Dort, wo sie weinend zusammengebrochen war. Ich wischte mir die Tränenspuren weg. Toll, das war jetzt das dritte Mal, dass Hugh mich hat weinen sehen. Und dann hat er gleich noch das Familiendrama mitbekommen.

„Warum bist du eigentlich hier?" fragte ich leise. Ich setzte mich auf die Lehne von meinem Sofa und sah Hugh an. „Möchtest du was trinken?"

„Nein, danke." antwortete Hugh schlicht.

„Woher weißt du, wo ich wohne?" fiel es mir plötzlich ein.

„Timothy ist über deinen Computer ins System und hat als erstes deine Daten erhalten und ausgewertet." Ich nickte nur. Wenn Hugh etwas wissen würde, bezüglich des Diebstahls, würde er es sagen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er nicht hier war, um über Carters zu sprechen.

„Weswegen ich hier bin, hat sich wieder erledigt." sagte er daraufhin kalt. Ich hob den Kopf und sah Hugh prüfend an. Das nenne ich mal einen Stimmungswandel. „Warum?"

„Ist deine einzige Begründung, dass Tori bei ihrem Vater leben muss, weil du so viel arbeitest, damit es ihr gut geht?" fragte Hugh. Sein Blick war hart und ich glaubte auch Enttäuschung darin zu sehen, die ich aber nicht verstand. Ich verstand gerade sowieso nicht, warum er auf einmal so wütend war. Denn ich glaube, dass Hugh dann immer sehr kalt wurde, wenn er wütend war. Ähnlich wie ich, wenn ich ruhig und berechnend wurde.

„Das ist nicht der einzige Grund." erwiderte ich. Ich wollte fragen, warum ihn das interessierte, aber egal wie ich die Frage formulierte, sie klang immer danach, als müsste ich mich verteidigen. Dabei wusste ich gar nicht warum oder wovor.

„Wie kann es sein, dass ich zwei verschiedene Seiten von dir kennengelernt habe? Das lässt mir keine Ruhe." Hugh verschränkte die Arme und fixierte mich.

Ich verstand die Aussage nicht. „Was war an der Liv auf Fuerteventura so anders?"

Hughs Stimme war leise und kontrolliert. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, als ob er sich zusammenreißen musste. „Ich dachte sie wäre keine Frau, die man aus dem Unternehmen schmeißen möchte. Denn genau das versucht gerade jemand. Sie war ehrlich, liebevoll und aufrichtig."

Seine Aussage an sich war wieder ein voller Schlag in die Magengrube. Und ich dachte, dass das Leben mir heute schon genug Schläge verpasst hatte. Dennoch verkraftete ich diesen Schlag besser, als die Schläge, die Hugh vor seiner Kanzlei verbal verteilt hatte. Ich wusste, dass er mich mittlerweile in einem ganz anderen Licht sah, aber ich wusste nicht, wo sein Problem mit Tori lag.

„Was lässt dich annehmen, dass ich jetzt nicht mehr ehrlich, liebevoll und aufrichtig bin?" fragte ich leise. Ich hatte Angst vor der Antwort, aber ich wollte endlich wissen, was in Hughs Kopf vor sich ging.

„Die Frau, die hier vor mir steht, läuft einfach feige davon, sie betrügt ihren Freund, denkt darüber nach ihn für einen anderen Mann, den sie nicht kennt, zu verlassen, belügt ihre eigene Familie, lässt sie im Stich und täuscht somit scheinbar auch sich selbst."

Ich senke langsam den Blick. Das war also sein jetziges Bild von mir. Ich war feige, untreu, eine Heuchlerin, Lügnerin und eine Scheinheilige. Ich wollte wissen, was in seinem Kopf vor sich ging, aber damit hatte ich nicht gerechnet. Hugh hatte sich ein Bild von mir zusammengestellt, das im Grunde das genaue Gegenteil von mir war.

„Wenn das so ist, gibt es keinen Grund für dich, dass du dich mit einem Miststück wie mir abgibst." Ich deutete auf die Tür. Er musste gehen, sofort. 

In irgendeinem Film habe ich mal gehört, dass es im Leben nur zählt wie viele Schläge man einstecken kann, und trotzdem weitermacht. Hugh hatte mir eben nochmal ein halbes Dutzend weitere zugefügt und ich hatte mein Pensum erreicht. In mir starb etwas und es tat höllisch weh.

Vielleicht hatte ich mich in Hugh getäuscht. Ich glaubte zwar immer noch, dass er eine sehr gute Beobachtungsgabe hatte, aber ich war mittlerweile der Meinung, dass auch er zu vorschnellen Meinungsbildungen tendierte. Das hätte ich nie so von ihm gedacht.

„Ich habe nie gesagt, dass du ein Miststück bist." erwiderte Hugh ruhig. Ich deutete weiterhin stumm auf die Eingangstür. Meinen Blick hielt ich auf Hughs Brustkorb gerichtet, um ihn nicht in die Augen sehen zu müssen. Den Blick senken, wollte ich nicht. Nicht jetzt vor ihm.

Hugh verstand, dass für mich die Konversation beendet war. Er drehte sich um und verschwand einen Augenblick später hinter der Tür im Treppenhaus. Als die Tür leise ins Schloss fiel, gaben meine Beine nach und ich fiel zitternd auf den Boden. Wieder liefen mir Tränen über die Wangen, aber ich hatte noch nie das Gefühl gehabt, so verletzt gewesen zu sein. Außerdem fühlte es sich an, als hätte ich eben etwas unglaublich Wertvolles verloren und ich würde es nie wiederbekommen. Die ersten Schluchzer kamen aus meinem Mund. Ich bedeckte mein Gesicht mit meinen Händen und fing hemmungslos an zu weinen. Ich hatte versucht ihn zu verstehen. Ich wollte ihn wirklich verstehen. Noch immer war mir bewusst, dass er ein falsches Bild hatte, was Logan und mich anging, und mit dem feigen Weglaufen hatte er Recht, aber den anderen Kram hatte er sich selbst zusammengesponnen, weil er meinte Dinge zwischen den Zeilen zu hören, die so nicht wahr waren.

Eine sanfte Berührung ließ mich hochschrecken. Tori kniete neben mir und sah mich mit aufgerissenen Augen an. „Ich wollte dir nicht wehtun, Liv." flüsterte sie. Bevor sie Schuldgefühle bekam, nahm ich sie in den Arm. „Du hast mir nicht wehgetan. Ich habe dir etwas verheimlicht und das tut mir leid." Ich merkte wie die den Kopf schüttelte. „Schon gut. Du kümmerst dich um mich, auch wenn du nicht in der Nähe bist." Sie war so erwachsen. So reif für ihr Alter. Ich wünschte, sie könnte mehr Kind sein.

„Magst du heute bei mir im Bett schlafen?" fragte Tori und lehnte sich etwas zurück. Ich schmunzelte.

„Meinst du nicht, dass das etwas eng wird?" Sie runzelte die Stirn. „Stimmt."

„Möchtest du bei mir im Bett schlafen?" fragte ich sie und ein Leuchten erhellte ihr Gesicht.

Kurz darauf hatten wir und schon in meinem Bett verkrochen und kuschelten miteinander. Es war viel zu lange her, dass ich sie gesehen hatte. Viel zu lange her, dass ich ihr beim Einschlafen über den Kopf streichen konnte.

"Wer war der Mann eigentlich?" fragte Tori irgendwann in die Stille hinein. Ich schwieg einen Augenblick.

"Ich glaube er war jemand Besonderes." flüsterte ich. Tori hob den Kopf. "Ist er jetzt nicht mehr besonders?" Ich schüttelte den Kopf. "Er wird immer besonders sein." Auch nach ein paar Minuten konnte ich die drehenden Rädchen in Toris Kopf noch immer nahezu hören. "Schlaf Tori, er hat mir schon genug Kopfschmerzen bereitet. Du kannst dir in ein paar Jahren den Kopf über Männer zerbrechen." Sie kicherte und kuschelte sich dann näher an mich heran.

Kurz darauf war sie schnell wieder eingeschlafen, aber mir gingen immer wieder Hughs letzte Worte durch den Kopf. Nein, er hatte mich wirklich nicht Miststück genannt, aber all die Eigenschaften, die er aufgezählt hatte, trafen auf ein Miststück zu. Ich wollte mir einreden, dass Hugh jetzt einfach nicht mehr Teil meines Lebens war, aber ich hatte die Ahnung, dass ich ihm noch viel zu oft über den Weg laufen würde, als dass ich ihn wirklich vergessen konnte.

Auch in dieser Nacht schlief ich mit dem Bild von dunkelbraunen Augen ein, wobei mir dieses Mal eine Träne über die Wange lief und sich kein Lächeln auf meinen Lippen bildete. Dieser Tag hatte mir heute wirklich den Rest gegeben. Wenn ich dachte, dass unser Wiedersehen schon schlimm gewesen wäre, dann hatte der heutige Tag wirklich alles übertrumpft.

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Hallo alle zusammen :)

Ich verabschiede mich jetzt von euch mit diesem Kapitel. Ich dachte mir, zum Abschluss lade ich 2 Kapitel hoch, denn so wird auch Livs Horrortag endlich abgeschlossen. Da hat sich zwischen ihr und Hugh ja so einiges aufgetan und es wird sich wohl nicht gleich wieder lösen, aber irgendwann lässt sich alles regeln. :)

Also vielen Dank, dass ihr heute alle so fleißig mitgelesen habt. Am Donnerstag kommt dann wieder das nächste Kapitel. Dann wünsche ich euch jetzt noch eine gute Nacht und einen entspannten Sonntag.

Ciao

C.N.

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