Kapitel 23


Sie fing wieder an zu weinen. Ich setzte mich neben sie und nahm sie wieder in den Arm.

„Sei nicht böse Tate Liv." bat sie leise.

„Ich bin nicht böse. Ich war verdammt besorgt, als dein Vater mich angerufen hat. Mach Sowas nie wieder." sagte ich und drückte sie sanft von mir weg, damit sie mich ansah. Sie nickte und schniefte ein paarmal.

„Ist Papa böse?" Sie spielte mit dem Saum ihres T-Shirts und senkte den Blick.

„Nein, als er mich angerufen hat, habe ich gemerkt, wie viel Angst er hatte. Möchtest du einen Kakao?" fragte ich sie und strich durch ihre langen goldenen Locken, die meinen so ähnlich waren. Sie hatte die gleichen Gesichtszüge wie ich. Der einzige richtige Unterschied war unsere Augenfarbe. Ich hatte dunkle grüne Augen, aber Tori hatte hellblaue. Die hatte sie von Joshua geerbt.

„Ja, bitte." sagte sie schüchtern.

„Alles klar. Mach es dir gemütlich. Schalt den Fernseher an, wenn du willst. Ich bin gleich wieder da."

„Seit wann hast du einen Fernseher?" fragte Tori erstaunt, drehte sich auf dem Sofa um und lehnte ihre Arme und die Rückenlehne, um mir zuzusehen, wie ich ihren Kakao in der Küche zubereitete.

„Seitdem du das letzte Mal gemeckert hast, deine Serie nicht sehen zu können, wenn du hier bist." erklärte ich lachend.

„Du hast den für mich gekauft, obwohl du gar kein Fernsehen schaust?" fragte sie ehrfürchtig. Ja, Sowas kannte Tori nicht. Joshua arbeitete auf dem Bau und verdiente nicht allzu viel Geld. Nach Toris Geburt hatte sich vieles verändert in seinem Leben und als er merkte, dass er es Zuhause nicht mehr aushielt, ist er an den Stadtrand von San Francisco gezogen. Einmal quer durchs Land, wie ich, weil wir beide trotz der großen Entfernung, immer engen Kontakt hatten.

Joshuas und ich hatten schon immer eine enge Bindung, die zwar in der Pubertät etwas gelitten hatte, aber als ich damals New York verlassen hatte, um zu studieren, tat es mir am meisten weh, meinen kleinen Bruder und meine Nichte zurückzulassen. Tori wuchs bei ihm auf, da ihre Mutter sie nicht bei sich haben wollte. Ihre Eltern hatten ihr gedroht sie zu verstoßen, wenn sie das Kind mit nach Hause bringen würde. Und da auch sie sich nicht wirklich um das Kind kümmern konnte, übernahm Josh die Aufgabe.

Er war am Anfang ziemlich überfordert gewesen. Naja, das waren wir alle, aber wir hatten uns recht schnell an die Situation gewöhnt. Es bedeutete damals einen radikalen Umbruch in unserem Leben, so wie der Tod unseres Vaters, dennoch stand für Josh und mich fest, dass wir Tori immer lieben würden. Hätte Toris leibliche Mutter das Geld gehabt, hätte sie eine Abtreibung bezahlt, aber so gab sie das Kind nach der Geburt einfach Josh und verschwand aus seinem Leben.

Tori weiß, dass ihre Mutter einige Probleme hat, weswegen sie nicht bei ihr wohnen kann. Wir sind immer recht offen mit der Situation umgegangen, da wir nicht wollten, dass sie uns irgendwann mal dafür hasste, ihr verschwiegen zu haben, wer ihre wahre Mutter ist. Wir hatten ihr keinen Namen gesagt, aber Joshua hatte ihr früher öfters mal von ihr erzählt. Auch wenn ich der Meinung war, dass er damals etwas übertrieben hatte, aber Tori war damit glücklich gewesen, dass wir ehrlich zu ihr gewesen sind.

Ich finanzierte Toris Schulbildung und einen großen Teil von Dingen die sie brauchte. Kleidung, Schulsachen, sogar mal ein Kinobesuch mit Freunden. Dennoch achtete ich genau darauf, dass das Geld auch für Tori wirklich verwendet wurde. Mein Bruder würde es im Eifer des Gefechts für anderes ausgeben. Aber ich wusste, dass er Tori mehr als alles auf der Welt liebte und nur das beste für sie wollte.

Joshua und ich hatten schon einmal darüber gesprochen, ob Tori nicht bei mir wohnen sollte, aber wir waren beide zu dem Ergebnis gekommen, dass sie zu ihrem Vater gehört. Ich arbeitete oft sehr lange und ich wollte Tori nicht den ganzen Tag allein wissen. In gewisser Weise war Josh noch für sie da am halben Tag. Außerdem gehörte ein Kind zu seinen Eltern, auch wenn es nur ein Elternteil war. Und Josh machte seine Sache gar nicht so schlecht. Bei unseren Eltern hatte er kein wirklich gutes Vorbild gehabt. Eher das, was man nicht machen sollte. Darum glaubte ich, dass Tori bei ihrem Vater am besten aufgehoben war.

Er wollte immer, dass Tori stolz auf ihren Vater sein kann, und dass sie sich nicht für ihn schämen müsste. Darum riss er sich so gut es ging zusammen. Wenn Tori nicht mehr bei ihm leben würde, würde er diese Aufgabe verlieren und damit vielleicht auch den Fokus in seinem Leben.

Ich stellte Tori eine Tasse mit kaltem Kakao auf den Tisch und holte mein Handy aus meiner Tasche. „Liv, hast du sie?" fragte Joshua gleich nachdem er abgenommen hatte. „Ja, sie sitzt hier und trinkt gerade einen Kakao." sagte ich und ging in mein Schlafzimmer. „Gott sei Dank." Der hatte damit nicht viel zu tun, aber ja, wir konnten froh sein, dass es ihr gut ging.

„Kann sie heute bei dir bleiben?" Ich seufzte. Toris Schule war genau auf der anderen Seite der Stadt von meiner Arbeit. Dennoch erhob ich keine Einwände.

„Sicher. Hol du sie morgen aber von der Schule ab. Ich rede mit ihr nachher nochmal. Keine Ahnung, was zwischen euch vorgefallen ist, aber ihr müsst das klären. Wenn es nicht anders geht, komme ich morgen Abend nach der Arbeit bei dir vorbei."

„Danke, Liv. Du bist die Beste." Ich brummte eine Zustimmung und legte dann auf. Dann öffnete ich meinen Kleiderschrank und zog ein Top und eine dreiviertellange Sporthose heraus. Ich schmiss meine Bluse, den Rock und den Blazer auf mein großes Bett und zog mir meine bequemen Sachen an.

Mein Schlafzimmer war abgedunkelt durch die Jalousien. In der Mitte stand unter den Fenstern mein Doppelbett. Links daneben stand mein weißer Kleiderschrank und auf der anderen Seite stand eine Kommode auf der ein paar Bilder von Josh, Logan, Tori und mir standen.

Ich ging wieder in mein etwas größeres Wohnzimmer. Tori saß mit dem Rücken zu mir auf dem Sofa und sah sich eine Zeichentrickserie an. Der Fernseher stand auf einem flachen weißen Sideboard vor den Fenstern. Da ich normalerweise einfach aus den Fenstern gesehen habe und die Menschen in dem Park hinter dem Haus beobachtete, musste der Fernseher da hin, aber man könnte, wenn es zu hell war, die Jalousien herunterlassen.

Im Grunde war meine ganze Einrichtung hauptsächlich weiß. Das bedeutete zwar viel Pflege, aber mir gefielen diese Möbel am besten, als ich meine Wohnung eingerichtet hatte. Links von mir war der schmale Flur, der ins Band und in ein kleines Gästezimmer, das hauptsächlich Tori bewohnte, führte. Rechts war die offene Küche. Meine Wohnung war angenehm groß, aber nicht zu weitläufig um es nicht kuschelig zu haben.

„Du kannst heute hier schlafen, wenn du das möchtest." sagte ich und ließ mich neben Tori auf das Sofa fallen. Tori fiel mir im nächsten Moment um den Hals. „Danke, danke, danke." Freudenstrahlend drückte sie mir einen Schmatzer auf meine Wange und wendete sich dann den Fernseher wieder zu.

Zeichentrickserien schienen auch nicht mehr das zu sein, was sie mal waren. Ich hatte früher, wenn ich mal Fernsehen gucken durfte, die Gummibärenbande, Chip und Chap oder die große Pause gesehen. Da waren Joshua und ich uns auch immer einig gewesen. Die heutigen Trickfilme, waren aber nur noch für den Müll. Halbnackte Tiere in Unterwäsche, sinnfreie Geschichten und Serien, wo selbst die bösen Kinder Recht bekommen und den Kindern ein vollkommen falsches Bild von Anstand gaben, standen heute im TV Programm. Ziemlich traurig meiner Meinung nach.

„Warum habt ihr zwei euch gestritten?" fragte ich irgendwann. „Hat Papa sicherlich schon gesagt."

„Nein hat er nicht. Ich habe ihn nicht gefragt, weil ich es von dir wissen wollte." Ich drehte mich meiner Nichte zu und sah mir ihr Profil an. Als sie merkte, dass ich sie weiterhin anstarren würde, seufzte sie, schaltete den Fernseher auf stumm und drehte sich auch mir zu.

„Ich habe Papas Gehaltschecks gefunden." Beichtete sie schließlich und ließ den Kopf hängen. „Erst habe ich mir nichts bei gedacht, aber dann fiel mir auf, dass das sehr wenig ist. Zu wenig für all das, was er für mich ausgibt." Das war nicht gut. Tori musste nicht erfahren, dass ich den Großteil ihres Lebens finanzierte.

„Was hat er gesagt, als du ihn darauf angesprochen hast?" fragte ich.

„Er meinte, dass er genug Geld bekommen würde. Dass die Schecks nur ein Teil von dem Geld sind, das er zur Verfügung hat. Liv, was ist, wenn Papa irgendwelche bösen Geldsachen am Laufen hat?" fragte Tori mich ängstlich.

Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Es ging Tori in dem Streit also darum, dass ihr Vater vielleicht krumme Dinger drehte und sie das nicht wollte, nur damit sie ihr Leben leben konnte, wie sie es wollte.

„Ich glaube, dass dein Vater genau weiß wofür er Geld hat du wofür nicht." sagte ich und strich Tori eine Strähne hinter ihr Ohr. Dann nahm ich eine zweite und rollte sie an meinem Finger auf. Ein Bild von Hugh, der neben mir lag und genau das gleiche tat, wie ich gerade, schoss mir durch den Kopf. Ich verdrängte das Bild und die Wärme, die mir bei Hughs Augen durch meinen Körper fuhr und konzentrierte mich wieder auf Tori.

„Also glaubst du nicht, dass er was Böses tut?" Ich lachte. „Dein Vater ist gar nicht schlau genug, um etwas Böses zu tun, ohne erwischt zu werden." Tori fiel in mein Lachen mit ein. Ich wollte meine Nichte nicht belügen. Wir hatten immer ein ehrliches, inniges Verhältnis gehabt und das wollte ich nicht zerstören. Aber ich wusste auch, dass es sie stören würde, wenn sie herausfinden würde, was ich alles für sie zahlte.

Plötzlich umarmte mich Tori. „Danke." Ich strich durch ihr goldenes Haar und atmete den vertrauten Duft ein. Es roch nach Zuhause. Nach Familie. Denn das war Tori. Sie und Josh und Logan. Wir vier waren eine eigene kleine sehr verrückte Familie, aber genau das machte uns so einzigartig und unseren Zusammenhalt so stark. Auch wenn ich Joshua regelmäßig den Kopf abreißen könnte.

„Willst du baden gehen?" fragte ich irgendwann in die Stille hinein. Im selben Augenblick sprang Tori auf. „Ja, bitte!" Ich nickte. „Ruf aber vorher noch deinen Vater an und sag, dass es dir gut geht und ihr morgen darüber reden werdet, okay?" Tori dachte kurz nach, ergab sich dann schließlich und nickte. Sie verschwand kurz darauf im Flur.

Ich ließ mich erschöpft in die Kissen meines Sofas sinken. Ich merkte, wie meine Lider schwer wurden. Das Türklingeln riss mich aber aus meiner Einschlafphase. Erschrocken setzte ich mich auf und sah zur Wohnungstür. Dann drehte ich mich um und sah zum Flur, der zum Bad führte. Wollte Joshua herkommen? Irritiert ging ich zu der Haustür, die gleich ins Wohnzimmer führte und öffnete die Tür. Mein Blick glitt an der Person hoch und mir klappte der Mund auf.

Niemand anderes als Hugh Martins persönlich stand vor mir und sah mich mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an. „Ist etwas passiert?" fragte ich irritiert. Hugh sah mich einfach nur schweigend an. Träumte ich gerade? Oder war das nur ein schlechter Scherz meines Unterbewusstseins?

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