Kapitel 1 - Teil 1

Als ich ihn das erste Mal wieder gesehen hatte, habe ich ihn nicht wieder erkannt. Selbst als man seinen Namen vor der ganzen Klasse verkündete nicht. Er hatte sich verändert.

Jeder in der Klasse starrte den schlaksigen Jungen mit dem ungewöhnlichen Stil an. Seine schwarzen Haare verdeckten einen Großteil von seinem Gesicht und ließen seine Haut ziemlich bleich wirken. In fast seinem ganzen Gesicht steckten Piercings, soweit man das erahnen konnte und sein Auge war stark geschminkt (man sah auch nur eines, das andere verbarg sich hinter seinen Haaren), wie man es von einem Emo erwarten würde.
Er ließ den Blick durch den Raum schweifen und schien die Mädchen abzuchecken. Play Boy, war mein erster Gedanke auch wenn er überhaupt nicht so wirkte. Sein Blick blieb kurz an mir hängen und ich zog fragend die Augenbrauen hoch. Was wollte er von mir?
Seine Mundwinkel zuckten kaum merklich nach oben und er wandte den Blick ab. Sichtlich verwirrt ließ er mich zurück.
„Das ist Lewis Smith. Aufgrund eines Umzugs wechselte er an unsere Schule. Bitte seit nett zu ihm“, rief unser Klassenlehrer Herr Brett.
Unterm Tisch stieß mich Emily mit dem Fuß an und nuschelte: „Hey, hast du Mathe gemacht?“
„Ja, irgendwie“, antwortete ich ihr und schob ihr meinen Ordner hin. Emily war eine totale Niete in Mathe und so ließ ich sie oft mal abschreiben, aber dafür half sie mir in Englisch aus.
„Lewis, du kannst dich nach hinten zu Isabelle setzen“, sagte Herr Brett, deutet auf mich und schlug das Deutschbuch auf. Mit den Händen in den Hosentaschen machte sich der Neue auf den Weg zu mir. Irgendwas an ihm sagte mir, dass ich ihn kannte, aber ich kam einfach nicht drauf. Er setzte sich neben mich auf den Stuhl und packte einen Block und einen Kulli aus.
Ich wandte mich ihm zu und begann mich vorzustellen: „Hallo, ich bin Isabelle Miller. Du kannst mich ruhig Isa nennen.“ Emily hob den Kopf und stellte sich ebenfalls vor: „Ich bin Emily. Nett dich kennen zu lernen, Lewis.“
„Lewis“, schloss er die kurze Vorstellungsrunde und wandte seinen Blick auf das Papier vor sich. Er begann kleine Dreiecke und Vierecke auf den Rand zu kritzeln.
Was auch immer es war, er wirkte ungemein interessant.

Schnell verabschiedete ich mich von meinen Freunden und machte mich auf den Weg ins Zentrum des kleinen Örtchens. Normalerweise würde ich den Bus nehmen, aber da ich zu früh dran war wegen einer ausgefallenen Stunde, beschloss ich den Weg zu Fuß zurückzulegen, aber auch aus dem Grund, dass um die Uhrzeit kein Bus fuhr. Zum Glück war es heute nicht ganz so unerträglich kalt, wie die letzten Tage. Der Winter stand vor der Tür, trotzdem pendelten die Temperaturen zwischen warm und kalt.
Ich packte meine Kamera aus und versuchte ein gutes Bild zu finden, um meine Langeweile zu vertreiben.  Doch nichts weckte mein Interesse.
Als ich an der Bushaltestelle ankam, stand dort wer und wartete scheinbar auf den Bus. Es war Lewis, der Neue. Sofort erwachte in mir die Neugierde. Er war ein Rätsel, da niemand ihm während der Schulzeit auch nur eine Information entlocken konnte. Die Leute hatten sich in den Pausen und zwischen den Stunden auf ihn gestürzt, wie die Geier auf ein totes Tier. Jeder wollte den ungewöhnlichen neuen kennenlernen, doch Lewis hatte sie entweder eiskalt ignoriert oder sie angemeckert, dass sie sich verpissen sollten. Freunde zu finden stand also definitiv nicht als Punkt 1 auf seiner Liste. Ich hob die Kamera und hockte mich leicht versteckt ins Gebüsch. Sobald ich den richtigen Winkel gefunden hatte schoss ich ein Bild von ihm. Sein düsteres Äußere stand in einem starken Kontrast zu den leuchtenden und strahlend bunten Bäumen hinter ihm. Es wirkte als passe er nicht hier her, als würde er einen Riss in der Idylle des Ortes bedeuten. Meine Faszination an ihm hatte seit der ersten Stunde nicht nachgelassen und wurde von Sekunde zu Sekunde größer, je länger ich ihn durch die Kamera beobachtete.
„Ist es wirklich so interessant mich heimlich zu fotografieren?“, fragte plötzlich eine mir nur allzu bekannte Stimme. Zu Spät hatte ich bemerkt, dass Lewis gar nicht mehr an der Bushaltestelle stand, sondern genau neben mir hockte. Vor Schreck wollte ich einen Schritt nach hinten machen, aber da ich hockte, landete ich nur auf meinem Hintern. Bevor ich noch mit dem Kopf auf dem Pflaster aufschlagen konnte, packte Lewis meinen Arm und zog mich wieder hoch.
„Danke“, murmelte ich und rieb mir das Handgelenk, wo Lewis mich gepackt hatten. Durch den plötzlichen Ruck schmerzte es ein wenig.
„Gern geschehen.“
„Wofür war das bitte?“, fragte ich ihn trotzig und setzte mich in den Schneidersitz.
„Keiner konnte damit rechnen, dass du dich so dermaßen erschrecken würdest und außerdem hast du doch angefangen“, schmunzelte er.
„Womit habe ich denn bitte angefangen?“
„Du hast mich doch heimlich fotografiert.“ Er legte leicht den Kopf schräg und zog eine Augenbraue hoch. Da seine Haare nun anders fielen, konnte man unter seinen Haaren an der anderen Augenbraue ein Piercing sehen. Mensch, wie viele hatte der bloß?, fragte ich mich.
„Na und? Was geht das dich an?“, erwiderte ich und merkte noch im selben Moment, wie dämlich diese Antwort war.
Verdammt, am liebsten würde ich jetzt im Erdboden versinken.
„Warum?“, fragte er plötzlich und kaute auf einem der vielen Lippenpiercing rum. Verwirrt sah ich ihn an. „Was warum?“
„Warum hast du mich fotografiert?“, fragte er und sah mir direkt in die Augen.
„Nur so“, log ich und stand auf. Er folgte mir und sagte plötzlich: „Du lügst.“ Herausfordernd sah er mich an und seine Lippen verzogen sich zu einem süffisanten Grinsen.
„Und jetzt sag es mir“, forderte er mich auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Keine Ahnung, du bist halt interessant“, murrte ich und ging weiter Richtung Innenstadt. Lewis folgte mir und harkte nach: „Warum?“
„Weil... weil ich das Gefühl habe, dich irgendwoher zu kennen, aber keine Ahnung habe, okay? Ich finde es nun mal interessant, wie du dich kleidest und wie dein Charakter sich quasi um hundertachtzig Grad wenden kann. Du bist neu in der Stadt und fast das erste, was du machst, ist deine Mitschüler anzukacken, dass sie sich verpissen sollen. Ich meine, wer macht sowas. Man möchte doch eigentlich von den Leuten gemocht werden und nicht gehasst, oder?“, platzte es alles aus mir heraus und ich könnte schwören, dass ein ehrliches und warmes Lächeln um seine Lippen herum huschte, keins von denen die nur künstlich wirkten.
„Okay.“
„Wie jetzt? Nur ein Okay? Das war alles?“, sichtlich verwirrt wandte ich mich ihm zu und blieb genau vor ihm stehen.
„Was soll ich denn dazu sagen? Soll ich mich erklären oder was?“ Er schien wirklich auf eine Antwort zu warten. Genervt drehte ich mich wieder um und ging weiter.
„Nervensäge“, murmelte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Hinter mir fing Lewis an zu lachen und ich konnte es mir nicht verkneifen ihm den Mittelfinger zu zeigen. Das brachte ihn nur noch mehr zum lachen. Eigenartigerweise machte es mich nicht stinksauer, dass er so rotzfrech war. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart lebendig, als hätte ich ewig geschlafen und würde nun aus einem langen Traum aufwachen. Etwas das die ganze Zeit gefehlt hatte, war wieder an seinen Platz zurück gekehrt. So gut hatte ich mich schon seit Jahren nicht mehr gefühlt und dieses Gefühl hätte mich fast dazu gebracht lauthals loszulachen. Doch ich verkniff es mir, es musste ein Grinsen genügen. Ich packte die Kamera wieder in meine Tasche.
In meinem Blickfeld erschien wieder Lewis. Für ihn war das Gespräch scheinbar nicht vorbei.
Was wollte er von mir? Schon in der Klasse hatte er mich beobachtet und seine Blicke im Unterricht waren mir auch nicht entgangen.
„Wo gehen wir eigentlich hin?“, fragte er und jetzt war ich damit dran los zu lachen.
„Du folgst mir die ganze Zeit und hast eigentlich keine Ahnung, wo wir hingehen?“, prustete ich und hielt mir vor lachen den Bauch.
„Ja und? Ich kenne mich hier nun mal nicht aus und da kein Bus kam, obwohl er auf dem verflixten Plan stand. Und du kennst dich hier aus, also folge ich dir.“
„Und was ist, wenn ich nach Hause gehe und du mir bis vor die Haustür folgst, wie ein streunender Hund?“, fragte ich ihn und sah zu ihm hoch.
„Tja, dann habe ich wenigstens mal die Umgebung gesehen und vielleicht auch einen neuen Besitzer“, frotzelte er.
„Haha.“ Danach gingen wir eine Weile schweigend weiter. Es war komisch, dass er so total anders war, als noch heute Vormittag. Jetzt war er total nett und witzig und heute Vormittag ein Eisklotz. Was stimmte bloß mit ihm nicht?
Fast waren wir an dem Café, wo ich mich mit meiner Mutter und alten Freunden treffen sollte, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wer das sein sollte. Lewis und ich überquerten die Straße und standen nun davor.
„Also, wenn du nichts dagegen hast, würde ich dich jetzt bitten zu gehen, weil ich jetzt eine Verabredung habe“, wandte ich mich an ihn und sah wieder zu ihm hoch. Es ist ein Fluch so klein zu sein, murrte ich in Gedanken. Lewis war fast anderthalb Köpfe größer als ich und es war anstrengend ihm in die Augen zu sehen, wenn er sich nicht runter beugte oder ich ‘nen halben Meter Abstand halten müsste, damit es nicht ganz so sehr im Nacken weh tat.
„Ich weiß“, murmelte er und lehnte sich gegen die Hauswand des Cafés. Ich tippte ihn an und deutete ihm, dass er sich zu mir runter beugen sollte. Ein wenig verwirrt tat er das auch und ich flüsterte ihm ins Ohr: „Gehörst du zu den Men in Black?“ Er musste sich das Grinsen verkneifen und flüsterte mir verschwörerisch ins Ohr: „Vielleicht. Aber sag’s nicht weiter sonst werde ich gefeuert und die Aliens übernehmen die Weltherrschaft.“
„Und warum beschatten Sie mich?“, fragte ich ihn. Einen Augenblick schwieg er, als würde er abwägen müssen, ob er mir die Wahrheit erzählen dürfe oder nicht. Dann beugte er sich wieder zu mir runter und flüsterte in mein Ohr: „Das darf ich dir eigentlich gar nicht erzählen, aber eine unbekannte Kreatur hat Kontakt zu dir aufgenommen und um ein Treffen gebeten. Da wir die Gefahr nicht abschätzen können und vermuten, dass diese Kreatur, sich alles mit Lug und Betrug unter den Nagel reißen wird, lassen wir dich beschatten, um mögliche Folgen und die Opferzahlen gering zu halten.“ Mir fiel es unglaublich schwer nicht laut los zu lachen und auch Lewis musste sich auf die Unterlippe beißen.
„Und wer ist diese unbekannte Kreatur? Hat sie einen Namen?“, kicherte ich leise und hielt mir die Hände vor den Mund.
„Ja, hat sie.“
„Und der wäre?“
„Wir nennen Sie das Mutterschiff, weil ...“ Plötzlich wurde Lewis unterbrochen, als sich eine sehr junge Frau zu uns stellte und uns freudig begrüßte.
„Naa, wie ich sehe hast du schon eine Freundin gefunden, Lewis. Das ging ja aber wirklich schnell“, sagte sie zu ihm und schien ihm durch die Haare wuscheln zu wollen, doch Lewis trat einen Schritt zur Seite und fing die Hand der Frau in der Luft ab. Verdutzt sah sie ihn einen Augenblick an und wandte sich dann wieder mir zu.
„Ich bin Lily Smith“, stellte sie sich vor und streckte mir die Hand hin. Automatisch ergriff ich ihre Hand, auch wenn ich noch immer nicht begriffen hatte, wer sie war und in welcher Beziehung sie zu Lewis steckte. Lily war unglaublich jung; ich würde sie auf Anfang dreizig schätzen. Sie hatte den Körper eines Models, schlanke lange Beine, die in teuren Jeans und High Heels mit Riemchen steckten, zudem hatte sie einen unglaublich flachen Bauch und einen üppigen Busen, was beides von einem weißen Topp mit Spaghettiträgern bedeckt wurde. An ihren Handgelenken baumelten filigrane Bändchen, die verdammt teuer aussahen, ebenso hing eine teure Kette um ihren Hals und verschwand in ihrem üppigen Ausschnitt. Über ihre Schulter hing eine Handtasche, die nur für das Nötigste hinhalten konnte. Ihre blond-braunen Haare waren zu einem unordentlichen Dutt gebunden, wo mehrere Strähnen das Weite gesucht hatten. Sie sah aus, wie aus einem Modelmagazin entsprungen.
Lewis verdrehte genervt die Augen und seine Miene wurde eiskalt. Wer auch immer sie war, er stand auf Kriegsfuß mit ihr.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top