20 - Das Tor der Transformation
In den nächsten drei Tagen verbringen Chester und ich viel Zeit miteinander. Wir frischen alte Erinnerungen auf, lachen viel und genießen es einfach nur, uns wiedergefunden zu haben.
Während mir Chester die verschiedenen Stationen in der Hölle zeigt, klage ich ihm mein Leid bezüglich Lucifer. Auch wenn Chester meine Enttäuschung und Wut nachvollziehen kann, ist er derselben Meinung wie Lucifer: Ich sei die perfekte Frau, um den toten Seelen Hoffnung zu spenden und sie zu einem besseren Leben zu animieren.
Ich wünschte, ich würde das genauso sehen, doch der Tornado aus Zweifeln, der täglich durch meinen Körper fegt, ist einfach zu groß.
Ich bin ein Mensch und mein Leben spielt sich auf der Erde ab. Nicht in der Hölle bei dem Teufel höchstpersönlich.
„Es ist so weit, Hails." Chester schaut mich mitleidig aus seinen blauen Augen an. Obwohl sein Blick von Tränen verschleiert wird, lächelt er.
„Nein", wispere ich leise und schüttele ängstlich den Kopf. „Kannst du nicht noch einen Tag warten? Bitte!" Mein Herz schlägt schneller und poltert unangenehm gegen meinen Brustkorb.
Dieses Mal ist Chester derjenige, der ein „Nein" von sich gibt. Er tätschelt vorsichtig meine Schulter und erklärt mir währenddessen: „Ich spüre, dass es an der Zeit ist, zu gehen. Zwei Jahre lang habe ich für diesen besonderen Moment gekämpft."
Die ersten Tränen lösen sich aus meinen Augenwinkeln und kullern stumm und verloren über meine Wangen. „Aber ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll", schluchze ich aufgewühlt. „In den letzten Tagen hast du mich so gut von meinen Problemen abgelenkt, dass ich kaum an Lucifer denken musste. Wenn du weg bist, falle ich bestimmt in ein Loch!"
Chester wischt mir die Tränen von den Wangen und sucht meinen Blick. „Du bist so viel stärker als du denkst, Hailee", lächelt er mich aufmunternd an. „Mein Tipp? Rede nochmal mit Lucifer und finde einen Kompromiss, wie du dein Leben auf der Erde mit deinem neuen Leben in der Hölle vereinbaren kannst."
Ich weiß, dass Chester Recht hat und ich mit Lucifer sprechen sollte, aber ich laufe lieber vor meinen Problemen davon, statt mich ihnen zu stellen.
Seit vier Tagen habe ich kein einziges Wort mehr mit Lucifer gewechselt. Nicht mal gesehen oder gehört habe ich ihn. Wahrscheinlich haben Heiß und Heißer ihm gesagt, dass ich etwas Freiraum brauche, und diesen Wunsch akzeptiert er nun.
Apropos Heiß und Heißer ... Die beiden Drachen verfolgen mich natürlich auf Schritt und Tritt, damit mir bloß nichts passiert. Zwar haben sie genug Anstand, um Chester und mich nicht bei unseren persönlichen Gesprächen zu belauschen, aber sie sind immer irgendwo in der Nähe. Meistens in einem Radius von zehn Metern.
„Kopf hoch, Hails." Chester legt liebevoll seine Finger unter mein Kinn und drückt sanft mein Gesicht nach oben. „Du packst das, okay? Auch ohne meine Hilfe." Er boxt mir spielerisch gegen den Oberarm. „Außerdem gibt es Brieftauben, die zwischen dem Himmel und der Hölle hin und her fliegen. Wir können uns also regelmäßig Briefe schreiben."
Obwohl es mir verdammt schwerfällt, nicke ich.
Ich muss Chester gehen lassen und darf mich seinem Glück nicht in den Weg stellen. Nur weil er mich erfolgreich von Lucifer abgelenkt hat, habe ich keinen Anspruch auf ihn und seine Nähe. Mein eigenes Wohl über seins zu stellen, wäre egoistisch und falsch!
„Komm her, Hails."
Chester breitet seine Arme aus, sodass ich mich an seinen Oberkörper kuscheln kann. Wir krallen uns aneinander fest und lassen nochmal die Erinnerungen aus unserer Jugend Revue passieren.
„Danke für alles!" Chester ist der Erste, der sich schniefend aus der Umarmung löst. Ein ehrliches Lächeln umspielt seine Lippen, als er behauptet: „Du bist der faszinierendste Mensch, der mir jemals begegnet ist, und ich weiß, dass du deinen Weg gehen wirst, Hailee."
Ich bin so überfordert, dass ich nichts erwidern kann. Zu gerne würde ich Chester sagen, dass er ein toller junger Mann ist und ein gutes, reines Herz besitzt, aber meine Kehle ist wie zugeschnürt. Hoffentlich sprechen die Tränen in meinen Augen für sich ...
Ganz langsam kehrt mir Chester nun den Rücken zu. Tiefe Atemzüge verlassen seinen Mund, während er sich Schritt für Schritt einem goldenen Torbogen nähert. Die helle Farbe bildet einen starken Kontrast zu der düsteren Umgebung und blendet mich.
Obwohl ich nicht weiß, inwiefern Chester seine Dämonen tatsächlich besiegt hat, bin ich optimistisch, dass er in den Himmel aufsteigen wird. Oder zunächst einmal in das Zwischenreich Limbus gelangen wird.
Kurz bevor er den Torbogen erreicht hat, bleibt er nochmal stehen und dreht sich ein allerletztes Mal zu mir um.
„Mach's gut, Hailee", lächelt er mich mit einer Mischung aus Wehmut und Vorfreude an.
„Mach's besser, Chester", erwidere ich mit Tränen in den Augen.
Wie in Zeitlupengeschwindigkeit tritt Chester durch den Torbogen hindurch. Sein Körper wird daraufhin von goldenen Sternen umhüllt, bis er irgendwann nicht mehr sichtbar ist.
Sekunden verstreichen und verwandeln sich in Minuten.
Wie gebannt starre ich auf den Torbogen, doch Chester kehrt nicht zu mir zurück.
Er hat es tatsächlich geschafft! Er hat nicht nur seine Dämonen besiegt, sondern für seine Fehler aus der Vergangenheit Verantwortung übernommen. Jetzt ist er bereit, in ein neues Leben zu starten und sein neues Ich unter Beweis zu stellen.
Dass ihm das mit Bravour gelingen wird, steht für mich außer Frage!
***
Auch wenn ich mich für Chester freue, dass er in die Zwischenwelt Limbus gelangt ist, frisst sich ein nagendes Gefühl der Trauer durch mein Herz. Plötzlich fühle ich mich wieder einsam und verlassen. Total fehl am Platz.
„Ach, Hails", seufzt Heiß mitleidig, „bitte sei nicht traurig."
„Du hast doch immer noch uns!", versucht Heißer, mich aufzumuntern. „Wir sind genauso cool wie Chester."
„Sogar noch viel cooler!", behauptet Heiß voller Selbstbewusstsein.
Sein Bruder möchte ihm wahrscheinlich zustimmen – zumindest ist sein Mund geöffnet – allerdings erfüllt plötzlich eine fremde Mädchenstimme die Luft. „Hailee?", ertönt mein Name. „Du bist doch die Frau von Lucifer, oder?"
Ich wirbele herum und entdecke ein junges Mädchen, das kaum älter als 16 Jahre sein kann. Sie hat kastanienbraune Augen, wilde rote Locken und niedliche Sommersprossen, die wie kleine Farbkleckse über ihre Wangen tanzen.
„Äh, ja", stammele ich überfordert, nachdem ich meine Stimme wiedergefunden habe.
In den letzten Tagen ist es immer mal wieder vorgekommen, dass mir die toten Seelen neugierige Blicke zugeworfen haben, doch angesprochen hat mich keiner von ihnen. Dementsprechend bin ich gerade auch total neugierig und gespannt, was das Mädchen wohl von mir möchte.
„Darf ich dich mal etwas fragen?" Ihre kastanienbraunen Augen leuchten hoffnungsvoll.
„Äh", stottere ich erneut, da ich vollkommen überrumpelt bin, „na klar."
Das Mädchen lächelt erleichtert und quetscht sich dann zu Heiß und Heißer auf die Sitzbank. Kurz kichert sie leise, weil die Drachen Rauchwölkchen aus ihren Nasen pusten, ehe sie wieder ernst wird und von mir wissen möchte: „Wie schaffe ich es, mir selbst zu verzeihen?"
Ihre Frage trifft mich unvorbereitet. „Worum genau geht es denn?", hake ich vorsichtig nach.
Das Mädchen seufzt. Dann vertraut sie mir an: „Ich bin vor ungefähr fünf Monaten in der Hölle gelandet. Nachdem ich mich selbst vor lauter Schuldgefühlen umgebracht habe."
Was?! Mir entgleisen nicht nur die Gesichtszüge. Mein Herz bleibt stehen und ich habe das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können.
„Ich musste damals auf meine kleine Schwester aufpassen", murmelt das Mädchen schuldbewusst und voller Reue. „Sie war noch ein Baby und hat den ganzen Abend geheult und geschrien. Irgendwann war ich so genervt, dass ich zu ihr gegangen bin und ihr ein Kissen auf das Gesicht gedrückt habe. Ich wollte sie doch nur zum Schweigen bringen und sie nicht gleich töten. Wirklich, das musst du mir glauben, Hailee. Ich bin keine Mörderin!"
Eine eiskalte Gänsehaut zeichnet sich auf meinem Rückgrat ab.
Ich selbst habe fünf Geschwister, doch ganz egal, wie sehr sie mich genervt haben, ich wäre nie auf die Idee gekommen, ihnen mit Absicht zu schaden.
Erst jetzt wird mir so richtig bewusst, dass die meisten Menschen in der Hölle eine düstere Vergangenheit haben. Viele von ihnen haben Blut an den Händen kleben oder verbotene Sachen gemacht.
Also was genau soll ich jetzt dem Mädchen raten? Sie hat schließlich ihre eigene Schwester umgebracht!
Trotzdem darf ich nicht vergessen, dass kein Mensch mit einem bösen Herzen geboren wird. Irgendwo schlummert in jedem ein guter Kern.
Ein riesiger Kloß bildet sich in meinem Hals und meine Stimme zittert gefährlich, als ich ihr antworte: „Ich denke, du solltest erstmal damit anfangen, deine Handlung zu reflektieren. Was genau hat dich dazu gebracht, deiner Schwester das Kissen ins Gesicht zu drücken? Du hättest sie bestimmt auch anders beruhigen können ... War es vielleicht Verzweiflung? Oder Überforderung? Oder Wut?"
Das Mädchen schaut mich aus großen Augen an. Obwohl ich noch weitere Ratschläge für sie habe, schenkt sie mir ein ehrliches Lächeln, erhebt sich von der Sitzbank und verkündet aufgeregt: „Du hast Recht, Hailee! Ich werde jetzt sofort damit anfangen, mich selbst und meine Tat zu hinterfragen. Danke!"
Mit diesen Worten dreht sie sich um und läuft schnellen Schrittes aus dem Café Hölle auf Tassen.
Und ich? Ich spüre ein warmes Kribbeln in meiner Magengegend, weil ich einer weiteren Seele helfen konnte.
***
Es ist schon spät am Abend, als ich durch Lucifers Schloss tigere, um mir noch eine Flasche Wasser aus der Küche zu stibitzen. Natürlich könnte ich auch einfach Heiß und Heißer darum bitten, aber ich möchte die beiden Drachen nicht ausnutzen. Außerdem funktionieren meine eigenen Beine noch einwandfrei.
Gerade als ich an Lucifers Schlafgemach vorbeitapsen will, halte ich mitten in der Bewegung inne.
War das etwa ein Schluchzen?
Obwohl ich genau weiß, dass es falsch ist, lege ich vorsichtig mein Ohr an die Türoberfläche und konzentriere mich darauf, möglichst leise zu atmen.
„Was soll ich bloß machen, Pinkabella?", höre ich Lucifers verzweifelte Stimme wie durch Watte gedämpft. „Sie hasst mich. Und weißt du was? Ich kann es ihr nicht mal verübeln, immerhin habe ich ihr ganzes Leben zerstört. All ihre Träume und Wünsche, die sie hatte."
Ob er über mich spricht? Wahrscheinlich schon.
„Gib ihr noch ein bisschen Zeit." Pinkabellas Stimme ist in Mitleid getränkt. „Sie hat in den letzten Tagen gemeinsam mit Heiß und Heißer die Hölle erkundet und der ersten Seele dabei geholfen, durch das Tor der Transformation zu gehen. Das ist seit mehreren Monaten nicht mehr passiert."
„Echt?" Lucifer klingt überrascht. Und auch ein bisschen glücklich.
„Ja", bestätigt Pinkabella. „Ich bin mir sicher, dass sich Hailee bald mit ihrem neuen Leben arrangieren wird. Wie du schon gesagt hast: Sie passt perfekt zu dir in die Hölle."
Mein Herz wird schwer und schickt elektrische Stromstöße durch meinen Körper.
Tatsächlich habe ich mich so langsam damit abgefunden, in der Hölle gefangen zu sein – vielleicht auch, weil mir Chester versichert hat, dass nur Lucifer einen Ausweg in die reale Welt kennt – aber das bedeutet nicht, dass es mir hier gefällt. Ich wäre gerade viel lieber bei Kinsley und würde mir sogar freiwillig einen ihrer gruseligen Dämonen-Filme anschauen.
„Ich hoffe es", seufzt Lucifer. „Sie bedeutet mir nämlich mehr, als sie denkt, und ich möchte, dass es ihr gutgeht."
Dieses Mal ist Pinkabella diejenige, die seufzt. „Hailees Herz muss erst noch heilen, Lucifer. Erst danach kann es anfangen, für dich und die Hölle zu schlagen."
Ich habe keine Ahnung, warum sich ihre Worte so tief in meiner Seele verankern, doch in diesem Moment nehme ich mir fest vor, morgen das Gespräch mit Lucifer zu suchen.
Schlimmer kann es ja nicht mehr werden, richtig?
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