08. So nützlich wie eine Solaranlage im Luftschutzkeller
ㅤ
ㅤ
┌────────────┐
a c h t
SO NÜTZLICH WIE EINE SOLARANLAGE IM LUFTSCHUTZKELLER
꿈
└────────────┘
ㅤ
ㅤ
ㅤ
Minho sieht sich um. Er sitzt inmitten der schattigen Kühle eines tiefgrünen Nadelwaldes. Tannen und Fichten stehen dicht beieinander und Minho weiß nicht, wie er hierher gekommen ist. Er erinnert sich bloß an die Kälte der Keramikplatten in seinem Bad und den Geschmack von Kotze. Alles riecht mittlerweile ständig nach Kotze. Minho kann keinen Bissen länger als ein paar Stunden im Magen behalten. Er hat binnen drei Wochen über fünf Kilo abgenommen. Es macht ihm Angst. Aber mit der Angst kann er nicht umgehen, also versucht er sie zu ignorieren wie alle anderen Emotionen auch. Bis er kotzt und sie wieder hochkommen. Er ist nicht mehr besonders gut darin Emotionen zu unterdrücken.
Mit zittrigen Beinen steht er auf. Der Waldboden ist komplett mit Moos bedeckt und nur spärliches Licht dringt durch die üppigen Tannen. Minho hat das vage Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein, aber er kann den Gedanken nicht einordnen. Verdammt.
8321, ermahnt er sich. Er kennt die Zahlen noch, die ihn zu einem Menschen machen, aber alles andere ist wirr. Sein Gehirn ist zur Zeit so nützlich wie eine Solaranlage in einem Luftschutzkeller.
"Minho-Hyung?", fragt eine weiche Männerstimme. Minho sieht auf, kann aber niemanden erkennen. Da sind nur Tannen hinter Tannen hinter noch mehr Tannen.
"Wo bist du?", fragt er die schöne Stimme.
"Ich verstecke mich."
Minho nickt, als würde das einleuchten. Tut es auch, irgendwie. Wenn er könnte, würde er sich sofort vor sich selbst verstecken.
"Geht es dir gut?", fragt die Stimme.
Minho entfährt ein Schnauben. Vor zwei Wochen hätte ihn diese Frage zum Weinen gebracht, aber mittlerweile hat er so viel geheult, dass er keine Tränen mehr übrig hat. Sein Körper ist leer – alles, was noch bleibt, ist eine Hülle aus bleicher Haut und mageren Muskeln. Dahinter ist nichts. Kein Herz, keine Seele und ganz bestimmt keine Freude.
"Mir geht es nicht so gut", fährt die Stimme fort, als Minho nicht antwortet.
"Es tut mir leid", sagt Minho, ohne es ernst zu meinen. Obwohl er jetzt fühlen kann, ist er zu beschäftigt mit sich selbst, als dass er zusätzlich Trauer für andere empfinden könnte.
"Mir auch", sagt die Stimme. Sie zögert einen Moment und fügt dann hinzu: "Versprichst du, mir nichts zu tun, wenn ich mich dir zeige?"
Minho fragt sich, wieso er ihm etwas antun sollte, sagt aber: "Ich verspreche es", weil Neugier in ihm haust.
Eine Weile geschieht nichts oder zumindest nichts, was Minho wahrnähme. Er sieht sich um und sucht nach dem Mann, dem die Stimme gehört, entdeckt aber nur weitere Tannen hinter Tannen. Für einen kurzen Moment ist er unsicher, ob es nicht doch unvernünftig ist, an einem fremden Ort auf eine fremde Person zu treffen - aber bevor sich der Gedanke setzen kann, tippt ihm jemand auf die Schulter. Minho fährt herum und steht direkt vor einem jungen Mann mit schulterlangem, schwarzem Haar und einem unschlüssigen Gesichtsausdruck.
"Hyunjin?", fragt er und sobald er den Namen ausgesprochen hat, verschwindet der Nadelwald im Nichts und weicht einer frühlingshaften Blumenwiese. Es duftet frisch und ist angenehm warm, aber Minho kann sich nicht darauf konzentrieren, denn alles, was er sieht, ist der junge Mann aus der Oper.
8321, ruft sich Minho ins Gedächtnis, um sich nicht in Hyunjins Anblick zu verlieren. Er ist wunderschön.
"Minho", grüßt Hyunjin zurück. Er lächelt zögernd und beobachtet Minhos Gesichtszüge genauestens. Als würde er darin etwas suchen. Minho fragt sich, was es wohl ist.
"Bist du diesmal echt?", fragt Minho. Erinnerungen an ein feuchtes Gewächshaus flattern durch Minhos Gedanken. An schwarze Laken, dunkle Gassen, glänzende Gletscher und kuschelige Waldhütten. Minho hat vermehrt von Hyunjin geträumt, aber nie hat Hyunjin mit ihm gesprochen. Minho ist davon ausgegangen, dass er ein Konstrukt seiner Fantasie war.
"Ich war jedes Mal echt", gibt Hyunjin zu.
Minho runzelt die Stirn.
"Es tut mir leid", sagt Hyunjin. "Ich wollte früher mit dir sprechen, aber..."
Die Szenerie verschwimmt. Die Süße der Blumenwiese verschwindet und macht klarer Bergluft unter einem nächtlichen Himmelszelt Platz. Minho liegt neben Hyunjin auf einer Decke im Gras und starrt in den schwarzen Himmel mit den funkelnden Sternen. Sie funkeln in etwa so wie Hyunjins Augen, wenn er von seinen Träumen spricht. Es ist schön. Minho schluckt leer und versucht keine weiteren Emotionen aufkommen zu lassen, aber wie all die Male davor gelingt es ihm nicht. Eine Art Nostalgie, gemischt mit Zufriedenheit sprudelt in ihm auf und es macht ihn so unglaublich traurig zu wissen, dass es nicht anhalten wird. In seiner kleinen Wohnung in Seoul gibt es nämlich keinen Raum zum Träumen.
Hyunjin greift nach Minhos Hand und verschränkt ihre Finger miteinander. Minho erschrickt, lässt es aber zu, denn Hyunjins Hände sind unglaublich warm und sanft. Die Berührung fühlt sich gut an. Wie Balsam für die Seele.
"Willst du mir erzählen, was passiert ist?", fragt Hyunjin.
"Nein", antwortet Minho. Und dann: "Vielleicht."
Hyunjin summt zustimmend. "Soll ich dir zuerst erzählen, was mir passiert ist?"
Minho nickt.
Hyunjin denkt einen Moment lang nach, um seine Worte präzise zu wählen. Im Hintergrund zirpen Zikaden und eine Sternschnuppe schnellt über das schwarze Firmament. Minho entspannt sich und konzentriert sich auf den warmen Körper neben ihm. Es fühlt sich surreal an. Vertraut. So als würde Minho Hyunjin noch aus einem anderen Leben kennen, ohne wirklich zu wissen, wer er ist.
"Ich habe aufgehört zu träumen", beginnt Hyunjin schließlich. "Nachdem du mich... nachdem du mich aus der Oper verjagt hast, habe ich mich nicht mehr getraut zu träumen, weil ich Angst hatte, dass nochmals so etwas passiert."
Minho verkrampft sich bei der Erinnerung an diese Nacht und schließt die Augen in der Hoffnung, dem Gefühlsanflug zu entkommen, der auf ihn niederdrückt.
Hyunjin schmunzelt humorlos. "Was wirklich fürchterlich ist, weil ich nichts lieber tue als zu träumen. Manchmal", er leckt sich über die Lippen, "manchmal habe ich das Gefühl, dass ich in der realen Welt fehl am Platz bin. Dass man mich nicht braucht oder nicht versteht - aber hier ist das anders. In meinen Träumen bin ich frei."
Minho versteht, was Hyunjin meint. Er fühlt sich ähnlich. In der Traumwelt sind seine Gefühle nicht besser, aber zumindest besser ertragbar. Die Supermarktregale und der Opernsaal scheinen dann unglaublich weit entfernt und nur noch wie eine Illusion - so als wäre der Traum die Realität und die Realität der Traum.
"Dass ich nur träumen kann, wenn ich Live-Musik höre, habe ich dir ja schon erzählt. Und dass ich deswegen oft in die Oper einbreche auch. Was jedoch neu ist...", Hyunjin legt eine Gedankenpause ein, bevor er sagt: "Was jedoch neu ist, bist du." Er drückt Minhos Hand fester, so als wollte er sich vergewissern, dass Minho wirklich da ist. "Ich habe noch nie zuvor meine Träume mit jemandem geteilt, aber seit ich dich kennengelernt habe, tauchst du in jedem einzelnen auf."
Also sind die Begegnungen doch real gewesen. Die unzähligen Nächte in denen Minho an den skurrilsten Orten geweint und geschluchzt hat, bis ihm alles weh tat und er sich nicht mehr bewegen konnte. Begegnungen zwischen schwarzen Laken, in dunklen Gassen, auf glänzenden Gletschern und in kuscheligen Waldhütten. Er weiß nicht, ob es ihn tröstet oder ängstigt, dass Hyunjin ihn in diesen verletzlichen Momenten gesehen hat.
"Ich mache es nicht absichtlich", sagt Minho im Versuch einer Erklärung. "Ich tauche einfach auf. Ich weiß nicht einmal, wie ich herkomme oder ob ich überhaupt schlafe. Ich bin plötzlich da."
"Es tut mir leid", entschuldigt sich Hyunjin schon wieder. Minho ist sich nicht sicher, warum. Es ist ja nicht so, als würde Hyunjin das steuern. Oder etwa doch?
"Zwingst du mich hier zu sein?", fragt Minho neugierig. Er dreht den Kopf zu Hyunjin und öffnet die Augen, um Hyunjins Reaktion zu sehen. Dabei fällt ihm jedoch nur auf, wie unglaublich schön Hyunjins Seitenprofil im Glanz des Sternenlichts wirkt.
"Ich denke nicht", sagt Hyunjin. "Zumindest nicht absichtlich."
"Mhm."
"Ich kann es auf jeden Fall nicht steuern. Glaub mir, wenn ich könnte, würde ich dich sofort von mir befreien."
"Bitte nicht", entweicht es Minho, bevor er die Worte zurückhalten kann.
Hyunjin dreht überrascht den Kopf zu ihm. Minho wendet den Blick ab - er kann Hyunjins Blick nicht standhalten. Er kann ja nicht einmal sich selbst standhalten. Er ist ein Versager.
8321. Zumindest ist er noch funktionsfähig.
"Nach diesem ersten Traum", beginnt er zu erzählen, "damals, in der Oper, als wir... als ich..." Minho schaudert bei der Erinnerung. Er kann Hyunjin noch vor sich sehen. Wir er jammert und schreit und sagt, dass Minho ihm weh tut. Wie er kurz zuvor komplett losgelöst unter Minho gelegen hat.
"Ja?"
"Ich habe in diesem Traum das erste Mal seit 16 Jahren wieder etwas gefühlt", presst er hervor. "Ich... ich weiß nicht warum oder wie, aber nach diesem Traum sind plötzlich meine Gefühle zurückgekommen und... und jetzt kann ich sie nicht mehr ausschalten. Sie sind einfach da und... und..."
"Es sind keine guten Gefühle?", fragt Hyunjin und Minho schüttelt mit zusammengepressten Augen den Kopf. Er darf seine Gedanken nicht wandern lassen, denn sobald sie wandern, dringen sie zu tief in die Vergangenheit. Immer weiter und weiter, bis sie hinter einer Schranktür gefangen sind und durch einen dünnen Spalt das Blut seiner Mutter spritzen sehen.
"Ich hasse es zu fühlen. Ich will, dass es wieder aufhört."
Statt etwas zu sagen rutscht Hyunjin näher, sodass sein Oberkörper sich an Minhos Seite presst und Minho Hyunjins Atem in seinem Nacken spüren kann. Die Körperwärme ist nicht perfekt, aber sie ist gut genug, um die Gedanken an den Türspalt verblassen zu lassen.
"Es gibt auch gute Gefühle", flüstert Hyunjin gegen Minhos Haut, sodass sich die Härchen dort aufstellen und ihm ein Schauder über den Körper fährt.
"Ich kann nicht."
"Was kannst du nicht?"
"Gutes fühlen. Ich weiß nicht wie. Da ist bloß Dunkelheit."
Hyunjin überlegt einen Moment, bevor er sagt: "Wo es Dunkelheit gibt, gibt es auch Licht. Du musst es nur finden."
Minho schnaubt. Wie bescheuert. Nur jemand, der von saftigen Frühlingswiesen und feuchten Tannenwäldern träumt, würde solch einen Scheiß von sich geben.
"Ich meine es ernst", sagt Hyunjin und bevor Minho widersprechen kann, löst sich die Decke unter ihnen auf und der Nachthimmel verschwindet. Sie sind in einem Bällebad. Ballons, Girlanden und Laternen hängen von der Decke und Lichter spiegeln sich in einem Regenbogen auf Hyunjins blasser Haut. Sie verwandeln sein schwarzes Haar in ein farbiges Meisterwerk – und für einen kurzen Moment vergisst Minho, was es bedeutet zu fühlen und staunt.
Hyunjin lächelt und streichelt Minho über die Hand. "Lass mich dir den Weg zum Licht zeigen", flüstert er. Genauso wenig wie Minho sonst die Wut und Trauer unterdrücken kann, kann er die Freude aufhalten, die bei diesen Worten in ihm aufsteigt. Sie fühlt sich fremd an. Wie Worte in einer Sprache, die Minho bloß aus Fernsehreportagen kennt, jetzt aber aus unerklärlichen Gründen verstehen kann.
"Aber ich habe deine Träume ruiniert", widerspricht er schwach.
"Du hast einen Abend in meinem Leben ruiniert und mir weh getan", sagt Hyunjin, "und dafür möchte ich noch eine Entschuldigung. Aber ich verstehe auch, wieso du gehandelt hast, wie du gehandelt hast und ich möchte dir helfen, dich zu bessern. Weil du es genau wie jeder andere Mensch verdienst, glücklich zu sein und weil ich...", Hyunjin hält kurz inne und weicht Minhos Blick aus. Ein violettes Licht tanzt über seine Wangen, dicht gefolgt von einem orangen, bevor er sagt: "Weil es sich gut anfühlt, nicht mehr allein hier zu sein. Meine Träume sind das beste, was mir je passiert ist, aber sie haben sich noch nie so echt angefühlt, wie wenn du hier bei mir bist."
Minho lächelt zum ersten Mal seit 16 Jahren aufrichtig und gerührt.
"Lass mich dir helfen", wiederholt Hyunjin.
Und Minho nickt und sagt: "Okay." Denn vielleicht gibt es ja eine Welt, in der zu fühlen nichts Schlechtes ist.
ㅤ
ㅤ
ㅤ
꿈
ㅤ
ㅤ
ㅤ
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top