07. Bin ich kaputt?
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s i e b e n
BIN ICH KAPUTT?
꿈
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"Fuck ist das ecklig", sagt eine tiefe Stimme. "Ich glaub, ich kotz gleich."
"Dann wirds nicht weniger eklig", entgegnet eine weibliche Stimme. "Das ist absolut grotesk. Ich glaube, ich hab noch nie so viel Blut auf's Mal gesehen."
"Das liegt nur daran, dass du erst seit zwei Jahren im Außendienst bist. In ein paar Jahren..."
"Choi."
"Huh?"
Schritte kommen näher. Schwarze Lackschuhe treten in das Sichtfeld. Direkt neben der Blutlache.
"Scheiße", flucht Choi. "Woher kommt das Kind?"
Eine Frau kniet sich hin. Sie ist verschwommen und wirr, als wäre sie nur ein Schatten im Nebel. "Hey du", sagt sie. "Meine Name ist Kim Jaemin. Ich bin von der Polizei."
"Ich glaub, der ist nicht bei Sinnen", kommentiert Choi.
"Halt die Klappe", zischt Jaemin. Sie kommt näher und verdeckt die größte Blutlache mit ihrem Körper. Allerdings bringt das nicht viel, denn es gibt noch mehr Blut. An den Wänden. Auf dem Bett. Die vergilbten Tapeten sind nicht mehr beige, sondern rot und riechen nach Eisen und Tod. Und wenn man ganz leise ist, kann man die Schreie der Sterbenden noch nachhallen hören.
"Warst du hier, als es passiert ist?", fragt Jaemin das Kind und Choi schnaubt.
"Du kannst doch kein scheiß Kind fragen, ob es einen Massenmord mit angesehen hat." Ein weiteres Paar Schuhe treten in das Sichtfeld. An den Sohlen klebt Blut. Das Blut der Eltern. Eine klobige Hand wedelt vor dem Gesicht des Kindes herum. Sie verzerrt die verschwommene Umgebung, bis nur noch Blut und hautfarbige Flecken zu sehen sind.
Ist das hier real? Oder ein Traum. Ein Alptraum?
"Der ist hinüber", stellt Choi fest. "Ich informiere die Kinderpsychiatrie." Mit diesen Worten verlässt er das Sichtfeld und geht. Das Blut im Schlafzimmer wird wieder deutlicher.
Ich sehe es spritzen. Durch den Spalt einer Tür. Es schmatzt und knackst und im Sachkundeunterricht sehen Eingeweide irgendwie viel schöner aus. So rosa und unschuldig.
Eine Hand greift nach der Hose des Kindes. "Hast du einen Ausweis dabei?"
Die Klinge rammt sich in die Brust meiner Mutter. Sie keucht auf und hustet und ihre weiße Bluse färbt sich dunkelrot. Tropfen rinnen ihr aus dem Mundwinkel, während sie wie ein Sack Kartoffeln auf das Bett meiner Schwester fällt.
"Lee Minho?"
Das Kind sieht auf. Dunkle Augen blicken ihm entgegen. Sie sind genauso unergründlich wie die seiner Mutter. Sie stechen aus der roten Umgebung hervor. So als wollten sie das Kind durchbohren. Wie ein Dolch. Wie ein fremder Mann, der ins Haus eindringt und alle tötet, die sich ihm in den Weg stellen.
Jaemin blinzelt und ihr Ausdruck wird weich.
Wieso ist alles rot? Wieso wacht das Kind nicht auf?
"Ein Psychiater ist auf dem Weg", sagt Choi, als er wieder kommt. "Der Rest des Hauses ist gesichert. Es gibt keine weiteren Opfer und der Täter ist schon über alle Berge. Hwang vernimmt gerade die Nachbarn."
"Sein Name ist Lee Minho", sagt Jaemin und greift nach der Hand des Kindes. Das Kind sieht dies, kann es aber nicht spüren. Es ist, als wäre sein Körper nicht existent und bloß die Seele anwesend. Oder die Leiche. Ist das Kind tot?
"Lee?"
"Ja", sagt Jaemin und reicht Choi den Ausweis des Kindes. "Wahrscheinlich ist er das vierte Kind."
"Fuck", murmelt Choi. "Na wenn das Mal keine Prädestination für das Trauma des Jahrhunderts ist."
"Sag sowas nicht", fährt sie Choi an, bevor sie an das Kind gewandt hinzufügt: "Hör nicht auf ihn. Er weiß nicht, wovon er spricht. Alles ist gut, hörst du? Du bist in Sicherheit und wir werden von nun an für dich sorgen."
Alles ist gut. Alles ist gut?
Dem Kind ist übel. Und kalt. Es glaubt, dass sein Herz gerade zerreißt. Kann ein Herz überhaupt reißen? Die Taubheit weicht langsam und der Eisen-Geruch wird stärker. Das Kind will nicht, dass das dumpfe Gefühl vergeht. Das Kind will nicht, dass das Herz zerreißt.
Sie wollten doch heute in den Zoo gehen. Zu den Schimpansen. Die Schwester liebt Schimpansen. Und das Kind liebt seine Schwester. Oder liebte? Kann man Liebe töten? Mit Messern und Dolchen?
Da ist ein Schmerz. Er kommt immer näher. Er frisst sich vom Blut durchtränkten Bett über die klebrigen Holzdielen zu den Füßen des Kindes und klettert an ihm hoch.
"Komm mit, ich bring dich weg von hier", sagt Jaemin und zieht das Kind im letzten Moment von dem Schmerz weg. Er streckt seine Klauen aus, aber kriegt das Kind nicht zu fassen und fällt zurück in die Blutlache.
Jaemin führt das Kind an den Leichen der Mutter, der zwei Schwestern und der Großmutter vorbei aus dem Zimmer. Der Vater liegt enthauptet im Korridor und der Bruder entkleidet daneben. Jaemin verdeckt dem Kind die Augen, aber es hat sich den Anblick bereits eingeprägt – durch den Spalt einer Schranktür. 20 Millimeter dicke Schranktüren und ein paar alte Sonntagskleider haben dem Kind das Leben gerettet. Faszinierend. Wie Popcornmaschinen. Oder Flamingos.
Jaemin und das Kind gehen die Treppe hinunter und während der Schmerz im Schlafzimmer zurückbleibt, wird die Taubheit wieder stärker. Sie schmiegt sich an das Kind wie eine warme Decke und dämpft alle Geräusche um es herum.
"Ist das der Junge?", fragt eine weitere Frauenstimme auf der Straße.
Blitze gehen los und wirre Stimmen brüllen Dinge. Choi brüllt zurück. Noch mehr Blitzgewitter erfolgt und Jaemin scheucht das Kind in die Arme einer fremden Frau, um den Paparazzi zu entkommen.
"Seine Name ist Lee Minho, wir gehen davon aus, dass er einen Großteil der Morde mitangesehen hat. Er spricht nicht."
Die Frau beugt sich runter. Sie hat graumeliertes Haar und sanfte Gesichtszüge. "Hallo Minho", sagt sie mit freundlicher Stimme. "Ich bin Jeong Minji. Ich werde dich an einen besseren Ort bringen, okay?"
Einen besseren Ort? Wie kann ein Ort gut oder schlecht, geschweige denn besser sein? Das Kind starrt ins Leere. Die Kameras klicken und blitzen weiter. Es schmiegt sich tiefer in die Decke der Taubheit und schaltet seine Gedanken aus.
"Vielleicht beginnt er in der Psychiatrie zu sprechen", schlägt Jaemin vor.
"Er kann dich verstehen", sagt Minji. "Nicht wahr, Minho?"
Ihre Blicke treffen aufeinander und das Kind nickt.
"Oh scheiße", flucht Jaemin.
Minji lächelt. "Komm, Minho, lass uns gehen." Sie greift nach der Hand des Kindes und zieht es mit sich.
"Wir werden ihn verhören müssen", merkt Jaemin an und eilt ihnen nach.
"Nicht mehr heute."
"Ja, aber wahrscheinlich morgen."
"Ich glaube nicht."
"Wir sprechen hier von sechsfachem Mord. Er ist wahrscheinlich der einzige Augenzeuge und er..."
"Ist ein Kind", unterbricht Minji. "Und er wird wahrscheinlich nie wieder wie eines leben können. Also sei so gut und suche deine Beweise anderswo."
"Aber..."
"Die Klinik meldet sich bei euch, sobald wir etwas Relevantes herausgefunden haben. Bis dahin wünsche ich einen schönen Tag", sagt Minji und wendet sich endgültig von Jaemin ab. Sie führt das Kind zu einem schwarzen Mercedes, auf dem das Logo einer psychiatrischen Einrichtung abgedruckt ist und öffnet dem Kind die Tür.
"Was soll das?", fragt Choi im Hintergrund. "Wo bringt sie den Jungen hin?"
Jaemin seufzt. "Vergiss den Jungen, Choi. Er ist zu kaputt, um uns zu nutzen. Wir müssen den Täter auf traditionelle Art und Weise finden. Ist Hwang schon mit den Nachbarn durch?"
Die Autotür fällt ins Schloss und eine unangenehm klare Stille legt sich um das Kind. Minji sitzt neben ihm und hält es an der Hand, während ein schwarz gekleideter Mann den Wagen zum Rollen bringt.
Er ist kaputt, hallt es in den Gedanken des Kindes nach und es fragt sich sogleich, wie ein Mensch kaputt sein kann. Es atmet und sein Herz schlägt. Muss der Körper des Kindes mehr als das tun?
Die Uhr des Vaters kann zugleich die Uhrzeit zeigen und stoppen. Die Mikrowelle der Mutter kann Fisch grillen und Nudeln wärmen.
Was kann das Kind?
Es sieht aus dem Fenster. Reklamen für neue Mode und große Autos ziehen vorbei. Ein Suchplakat für eine weiße Katze hängt an einem Pfosten und über einem Fenster stehen die Ziffern 8321 geschrieben. Jemand hat sie an die Fassade gesprüht. 8321. Die Zahlen scheinen bedeutungslos. Wahllos. Unnütz. Kaputt?
8321.
Ergeben zwei kaputte Dinge ein ganzes? 8321. Das Kind prägt sich die Ziffern ein. Denn das Gehirn funktioniert, obwohl sich das Gemüt taub anfühlt und die polsternde Decke nicht verschwindet. 8321. Das Kind wird sich diese Zahl merken und wenn es das letzte ist, was bleibt.
Denn wer denken kann, ist nicht kaputt.
8321. Lee Minho ist nicht kaputt.
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