06. Suboptimal kantig
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SUBOPTIMAL KANTIG
꿈
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Als Chan von seiner Masterarbeits-Abgabe nach Hause kommt, sieht er dermaßen erleichtert aus, dass Hyunjin direkt warm ums Herz wird. Es ist kurz nach elf Uhr mittags. Hyunjin sitzt mit dem Laptop auf den Knien im Bett und tippt demotiviert an einem Aufsatz für die Uni, der sofort unwichtig wird, als Chan in sein Zimmer tritt.
"Ich hab's geschafft", sagt er und kommt auf Hyunjin zu.
"Natürlich hast du das."
"Es fühlt sich an, als wäre ich 100 Kilo leichter."
Hyunjin schmunzelt. "Ich glaube, das ist physikalisch nicht ganz korrekt."
"Ich studiere Musik, keine Naturwissenschaft", entgegnet Chan und pflanzt sich neben Hyunjin aufs Bett. Er schmiegt sich an ihn und legt ihm den Kopf auf die Schulter und obwohl Chans Körper suboptimal kantig ist, ist seine Körperwärme unglaublich wohltuend.
"Was schreibst du?", nuschelt er gegen Hyunjins Schulter.
Hyunjin seufzt und sagt: "Einen Haufen Scheiße", bevor er den Laptop zuklappt und zur Seite legt. "Willst du zur Feier des Tages was unternehmen? Wir könnten was trinken gehen. Oder Eis essen."
"Ich will einfach nur schlafen."
"In meinem Bett? Um 11 Uhr mittags?", neckt Hyunjin und macht es sich neben Chan gemütlich. Hyunjin hat Chan vor drei Jahren per Zufall bei der Suche nach einem WG-Zimmer kennengelernt und er ist bis heute dankbar dafür. Es ist schwer von Heimat und Familie getrennt zu sein, aber mit den richtigen Freunden wird alles bestreitbar.
"Jinnie?"
"Mhm?"
"Du sprichst jeden Morgen mit deinen Zimmerpflanzen übers Wetter. Ich denke nicht, dass du mich dafür verurteilen darfst, dass ich um 11 Uhr kuscheln und schlafen möchte."
"Es hilft ihnen beim Wachsen!", entgegnet Hyunjin empört, dreht sich aber inkonsequenter Weise zu Chan und schlingt einen Arm um ihn. Unter seinen Berührungen kann er spüren, wie Chan schmunzelt - und Hyunjin wird es warm ums Herz. Jemanden im Arm zu halten ist fast so schön wie zu träumen.
Als könnte Chan Gedankenlesen, sagt er leise gegen Hyunjins Brust: "Du hast in den letzten Wochen schlecht geschlafen." Er formuliert es nicht als Frage und Hyunjin hasst, wie ertappt er sich davon fühlt.
"Sehen meine Augenringe so schrecklich aus?"
"An dir sieht nichts je schrecklich aus", entgegnet Chan. "Hat es was mit den Träumen zu tun? Du weißt, dass ich dir was vorspiele, wenn du mich fragst."
Ja, das weiß Hyunjin. Aber wie selbstsüchtig wäre das denn bitte? Einen im Abschlussstress ertrinkenden Mitbewohner zum Gitarre spielen zu nötigen? Für ein paar Träume.
Hyunjin schluckt schwer. Er hasst es, wie sehr er das Träumen vermisst. Etwas an der Art, wie frei und losgelöst er darin ist, stellt alles und jeden im echten Leben in den Schatten. Zumindest bis er damit Menschen aus dem echten Leben tangiert und verletzt. Hyunjin mag es nicht, wenn andere Personen seinetwegen wütend sind. Das stört sein Bedürfnis nach Harmonie.
"Mein letzter Traum war anders", gibt Hyunjin zu. Er hat lange darüber nachgedacht, was es bedeutet und was er tun soll, ist aber zu keinem brauchbaren Schluss gekommen. Wie auch? Träume lassen sich nicht mit logischen Konzepten erklären.
"Was ist passiert?", fragt Chan.
"Da war ein Mann. In meinem Traum, meine ich."
"Ein Mann?"
"Mh-mh", stimmt Hyunjin leise zu. Allein die Erinnerung an Minho lässt ihn traurig werden. "Einer, der auch in der echten Welt existiert. Er ist irgendwie in meinen Traum hineingelangt."
"Okay", akzeptiert Chan. Er hat Hyunjins Eskapaden nie in Frage gestellt oder ihn für dumm verkauft. Ob er ihm wahrhaftig glaubt, weiß Hyunjin nicht - er hört auf jeden Fall immer zu und verurteilt ihn nicht dafür.
"Es ist kein sehr glücklicher Mann. Ich kann es schlecht erklären, aber er wirkt irgendwie..." Hyunjin verliert sich in seinen Gedanken. Bei ihrem ersten Treffen hat Minho kein Wort mehr gesagt als nötig. Er hat sich unglaublich steif und monoton bewegt. Beinahe als wäre er ein Roboter ohne Gefühle. Und dann beim zweiten Mal...
"Er wirkt wie...?", fragt Chan.
"Als würde er nichts fühlen. Als wäre ihm alles egal."
"Und seit du ihn getroffen hast, kannst du nicht mehr träumen?"
Hyunjin schweigt einen Moment. Kann er noch träumen? Will er noch träumen? Was, wenn er Minho wieder trifft? Was, wenn er ihn wieder verletzt?
"Ich weiß es nicht", gibt er leise zu. "Ich habe es seither nicht mehr probiert."
"Aber du liebst das Träumen!", entgegnet Chan schockiert. Er löst sich abrupt aus ihrer Umarmung und setzt sich auf. Hyunjin öffnet blinzelnd die Augen, weicht Chans bohrendem Blick aber aus.
"Schon..."
"Aber?"
Hyunjin zuckt mit den Schultern. Chan scheint das nicht zu gefallen, denn er steht auf und verlässt das Zimmer.
"Hyung?", fragt Hyunjin verunsichert. Bevor er jedoch panisch werden kann, ist Chan wieder zurück. Er hat seine Gitarre dabei. "Hyung", jammert Hyunjin.
"Keine Widerrede", sagt Chan und setzt sich zu Hyunjin aufs Bett. Er legt sich die Schlinge der Gitarre um und macht es sich gemütlich. "Was soll ich spielen?"
"Was wenn der Mann wieder kommt? Er war so wütend."
"Der Mann ist nicht hier, Jin. Niemand wird dich beim Träumen stören."
Hyunjin will Chan glauben, aber er kann Minhos wütenden Ausdruck nicht vergessen. Wie er ihn angeschrien und zum Teufel geschickt hat. (Wie er ihn in schwarzen Laken geküsst hat, wie es niemand im echten Leben je getan hat.)
Chan hält inne. "Hat er dir wehgetan?", fragt er. Hyunjin hat ihm mal erklärt, dass Dinge, die er in seinen Träumen erlebt, die Realität nicht beeinflussen – und das stimmt auch! Manchmal schwimmt Hyunjin mit Delfinen durch den Pazifik, nur um dann trocken in seinem Bett aufzuwachen. Einmal – als Kind – ist er sogar versehentlich von einer Klippe gestürzt. (Frag nicht, die Kobolde waren Schuld.) Er hat sich dabei mehrere Rippen gebrochen, ist aber fit und kerngesund wieder aufgewacht.
"Ich glaube, ich habe ihm mehr weh getan", antwortet Hyunjin schuldbewusst.
"Man kann Schmerzen nicht gegeneinander aufwiegen. Schmerz ist Schmerz, egal was davor oder danach passiert."
Hyunjin nickt und sagt so leise, dass er es selbst kaum hört: "Er hat mich verletzt."
"Oh Jin, du..."
"Nein. Nein, du hast recht", unterbricht Hyunjin. "Er kann mich hier nicht stören. Spiel Misty Mountains." Er kann es nicht erklären, aber über Minhos Wut zu sprechen fühlt sich falsch an. Als würde man mitten in der Nacht heimlich zum Vorratsschrank der Eltern schleichen und Kekse stehlen.
Hyunjin legt sich hin und presst die Augenlider zusammen. Er ist nicht besonders müde, aber er weiß, dass ihn Musik in den Schlaf lullen kann, wenn er es nur zulässt.
"Sicher? Es tut mir leid, dass ich dich gedrängt habe. Du musst..."
"Chan?"
"Mhm?"
"Spiel einfach. Und danach kuschel dich bitte an mich. Wir haben beide eine Pause verdient."
Chan zögert eine Weile, bevor er schließlich nachgibt. Sie werden noch darüber sprechen, da ist sich Hyunjin sicher. Chan ist niemand, der seine Freunde still leiden lässt. Aber gerade gewinnt Hyunjin die Diskussion. Denn Chan seufzt, streicht ein paar Mal über die Saiten und beginnt dann leise Misty Mountains zu spielen.
Instinktiv entspannt sich Hyunjins Körper und seine Gedanken werden ruhig. Eine vertraute Taubheit legt sich über seine Glieder und lockt ihn langsam in die Irrealität. Hyunjin lässt es zu. Er stellt sich einen fantastischen Ort voller Blumen und satten Farben vor, bis Chans Stimme im Hintergrund verstummt und er in einem dicht bepflanzten Gewächshaus steht. Vögel schwirren fröhlich um ihn herum und ein wunderbarer Frühlingsduft liegt in der Luft.
Alles ist perfekt. Nach mehreren Wochen der Abstinenz fühlt sich das Träumen noch bezaubernder an als sonst. Wie die Umarmung einer liebenden Mutter. Hyunjin könnte vor Freude weinen. Niemals hätte er versuchen dürfen sich selbst klein zu machen, um anderen gerecht zu werden. Es ist...
"Hyunjin?", fragt eine raue Stimme.
Hyunjin zuckt zusammen und fährt herum. Er will etwas sagen, aber alle Worte bleiben ihm im Hals stecken. Der Anblick ist grauenhaft. Minho sitzt auf dem Boden, komplett in Schwarz gekleidet. Seine Augen sind dunkel unterlaufen und seine Statur ist komplett in sich eingefallen. Er zittert wie ein geschlagener Hund und wirkt, als hätte er seit Wochen nicht mehr das Licht der Sonne erblickt.
"Bist du es wirklich?", fragt Minho. Er sieht mit glasigen Augen zu Hyunjin auf, so als könne er es nicht wahrhaben. So als wäre Hyunjin nichts als eine Fata Morgana, die jeden Moment wieder zu verschwinden droht.
Als Hyunjin nicht antwortet, wendet Minho den Blick ab und beginnt zu weinen. Er bewegt sich dabei kaum und macht keine Geräusche. Er sitzt bloß da, in Hyunjins Traumlandschaft voller Blumen und weint, als wollte er ein Meer mit seinen Tränen füllen.
Und Hyunjin weiß nicht, ob er Mitleid oder Ehrfurcht verspüren soll.
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