05. Machen Tampons glücklich oder lügt diese Werbung?
ㅤ
ㅤ
ㅤ
┌────────────┐
f ü n f
MACHEN TAMPONS GLÜCKLICH ODER LÜGT DIESE WERBUNG?
꿈
└────────────┘
ㅤ
ㅤ
ㅤ
Minhos Morgenroutine besteht normalerweise aus 8.5 Schritten. Heute verbringt er alle damit, sich zu übergeben.
Er ist zum ersten Mal seit Jahren zwei Stunden vor dem Weckerklingeln mit Schüttelfrost, Kopfschmerzen und Fieber aufgewacht. Sein Bett ist nass vor Schweiß und er schafft es gerade noch so bis zur Toilette, um nicht seinen Boden vollzukotzen. Logisch betrachtet ist das hier wahrscheinlich eine Lebensmittelvergiftung oder eine Grippe, aber Minho weiß, selbst als er zitternd auf den kalten Fliesen sitzt, dass nichts an dieser Krankheit logisch ist. Absolut gar nichts.
Fuck.
Er würgt und krallt sich am Keramik der WC-Schüssel fest, so als könne ihm das Ding helfen. Tränen rinnen ihm die Wangen herunter und seine Brust schmerzt vor Qual und Trauer. Minho hat Angst. Noch nie in seinem Leben hat er so viel Angst verspürt. Als hätten sich alle Gefühle zusammengeballt, die er in den letzten 16 Jahren nicht gefühlt hat, um nun über ihn hereinzubrechen.
Irgendwo spürt er eine feine Note Glück, ein klein bisschen Liebe und Freude - aber vor allem ist da Panik und Angst so pur, dass Minho vielleicht gar nicht wegen dem Schüttelfrost zittert, sondern weil er das Gefühl hat, jeden Moment zu sterben.
"Bitte nicht", jammert er und stützt seinen Kopf auf das Keramik. Er will nicht sterben. Er hat doch kaum gelebt. Er weiß noch nicht einmal was Freundschaft ist, geschweige denn Liebe. Alles, was er weiß, ist, wie man effizient seinen Morgen gestaltet und Dinge auswendig lernt. Was wirklich ironisch ist. Denn obwohl er sein ganzes Leben damit verbracht hat Nummern, Reihenfolgen und Bilder auswendig zu lernen, ist das einzige, was er weiß, dass keine einzige Sekunde davon einen Wert gehabt hat.
Nach etwa dreißig Minuten hat sich sein Magen beruhigt und das Zittern aufgehört. Minho fühlt sich nach wie vor scheiße, aber fit genug, um mehr als zwei Sekunden auf den Beinen zu stehen. Also duscht er, putzt sich die Zähne und zieht sich an, bevor er verloren in der Küche steht und sich nicht mehr erinnern kann, was Schritt 5.5 und 6.5 seiner Morgenroutine sind. Er sitzt zehn Minuten verloren am Küchentisch und starrt die Holzplatte an, bevor er beschließt, dass es keine Rolle spielt, sich die Schuhe anzieht und zur Arbeit fährt.
Heute muss er Regale im Supermarkt einräumen. Wie in Trance stapelt er Kisten aufeinander, sortiert Produkte, räumt leere Kartons weg. Ein Schleier legt sich über seine Wahrnehmung. Er dämpft die enormen Gefühle, die in seiner Brust wüten, damit er gerade so funktionieren kann, lässt ihn aber keinen klaren Gedanken fassen. Es fliegen bloß wahllose Fetzen in seinem Gehirn herum, die keinen Anfang und kein Ende haben.
Machen Tampons glücklich oder lügt diese Werbung?
Ist Schokolade schon immer so günstig gewesen?
Wenn ich mich lange genug konzentriere, juckt mein linker Nasenflügel.
Magensäure schmeckt ähnlich wie schimmlige Äpfel.
War ich schonmal verliebt und habe es nicht bemerkt?
Ich glaube, ich hasse mich.
(Wieso ist meine komplette Familie tot?)
(Kann ein 8-jähriges Kind jemanden umbringen?)
"Lee?", fragt Miyeon besorgt. Sie steht vor Minho im Pausenraum und beobachtet ihn dabei, wie er reglos auf einem Stuhl sitzt und einen ungegessenen Apfel anstarrt. Stellt sich heraus, dass Minho keine Lust hat Äpfel zu essen, wenn er den Konsum nicht rational als Vitaminzufuhr ansieht.
"Huh?", fragt er, nur halb bei der Sache.
Miyeon ist jünger als er, arbeitet aber schon zwei Jahre länger hier. Sie hat ihm alles beigebracht, was sie über die Kunst des Regaleinräumens weiß. Sie hat kurze Haare, ist klein und trinkt viel zu viel Kaffee. Außerdem ist sie grob im Bett. Letzteres weiß Minho, weil er sie einmal an einem Sex-Samstag im Club getroffen und mit nach Hause genommen hat.
"Du siehst nicht gut aus", kommentiert sie. "Bist du krank?"
Minho schüttelt den Kopf. Ihm ist nicht mehr schlecht und sein Fieber hat sich beruhigt. Der Schleier hält alles im Zaun und solange Minho nicht auf die Gedankenfetzen in seinem Kopf eingeht, fühlt er sich, als könnte er weitermachen.
"Bist du dir sicher?", fragt Miyeon und legt ihm eine kühle Hand auf die Stirn. Es tut unglaublich gut. Es ist, als würde jemand Eis über seine brennende Seele kippen. Minho entspannt sich unter der Berührung und schließt die Augen. Er stellt sich vor, wie Miyeon ihn in den Arm nimmt und massiert. Wie mit magischen Händen ziehen sie das Unbehagen aus Minhos Knochen und lassen ihn wieder Mensch werden.
(Ist das Liebe?)
Minho öffnet die Augen und verspürt ein drängendes Bedürfnis, Miyeon zu küssen. Sie ist nicht speziell schön. Sie hat eine kastige Figur und ein ziemlich langweiliges 0815-Gesicht, aber sie ist nett und Minho hat noch nie in seinem Leben außerhalb seines Sex-Tages Sex gehabt. Fickt es sich an Montagen besser?
Minho steht abrupt auf und Miyeons Hand fällt von seiner Stirn. Sie ist gut einen Kopf kleiner als er und muss zu ihm aufsehen, um...
Minho greift nach ihrem Nacken, beugt sich hinunter und küsst sie. Miyeon keucht erschrocken auf, während er seine Hand in ihren kurzgeschorenen Nackenhaaren vergräbt und sich an sie presst. Ihr Körper ist angenehm warm und weich und ihre Lippen schmecken nach Kaffee und...
Und sie stößt Minho entrüstet von sich?
"Was zum Teufel, Lee?", schnauzt sie ihn an.
Das gute Gefühl des Küssens ebbt sofort wieder ab und wird von Enttäuschung abgelöst. Oder ist es Verletztheit? Es fühlt sich auf jeden Fall nicht gut an abgewiesen zu werden. So absolut gar nicht. Es ist, als würde dir jemand eine Schelle verpassen. Weil du fühlst, wie du fühlst. Weil du scheiße bist. Jämmerlich. Unbrauchbar.
Minho schnieft. Er kann es nicht steuern. Geräuschlose Tränen rinnen ihm die Wangen runter, während er hilflos versucht, einen Anschein von Neutralität aufrechtzuerhalten.
"Scheiße, Lee, was ist denn heute los?", fragt Miyeon besorgt, als sie begreift, dass Minho komplett neben sich steht. Sie wischt ihm die Tränen von den Wangen und entscheidet für ihn, dass er heute nicht mehr weiterarbeiten wird.
"Geh nach Hause. Ich sage Choi bescheid und übernehme deine Arbeit, ja? Dann kannst du dich erstmal erholen."
Minho will widersprechen, aber er kriegt es nicht hin, also nickt er.
"Sehr schön", sagt Miyeon und streichelt ihm über den Oberarm. "Alles wird wieder gut, okay? Und wenn du's allein nicht aushältst, meldest du dich bei mir und wir suchen gemeinsam eine Lösung."
Minho weicht ihrem Blick aus und nickt nochmals, bevor er seine Sachen packt und nach Hause geht. Angekommen starrt er eine Viertelstunde die Wand in seinem Wohnzimmer an, bevor er kurz vor zwei Uhr nachmittags ins Stadtzentrum fährt und in eine Bar geht (die Clubs haben montags um diese Zeit nicht auf). Er greift sich dort den erstbesten Typen, den er finden kann. Es ist kein schöner Mann. Er ist knapp vierzig, hat tiefe Geheimratsecken und einen grimmigen Ausdruck im Gesicht, egal was Minho zu ihm sagt. Allerdings spielt das keine Rolle, denn Minho nimmt ihn mit zu sich nach Hause und lässt sich so lange ficken, bis er sich absolut sicher ist, dass "Liebe machen" ein fürchterlicher Euphemismus und Montags-Sex keinen Deut besser als Samstag-Sex ist.
Abends fährt er in die Oper, um Tickets zu kontrollieren und Leuten ihre Plätze zu zeigen. Allerdings kann er sich an keinen einzige Sitzplatz erinnern, weswegen er die Leute bloß in der Gegend herum scheucht, bis er erwischt und in die Pause geschickt wird, damit er keinen Unfug mehr anstellen kann.
Ein Gefühl von Nutzlosigkeit nistet sich dabei tief in seiner Brust ein. Es ist ätzend und stachelig und stört ihn beim Atmen. Schon wieder verspürt er das Bedürfnis zu weinen – so als ob sein Körper nachholen möchte, was er die letzten 16 Jahre verpasst hat –, aber er unterdrückt es. Er ist nicht schwach und keine scheiß Memme und er wird nicht weinen, weil er nutzlos ist.
8321. Er ist nicht kaputt.
Als er sich beruhigt hat, steht er auf und geht zurück zum Saal. Die Zuschauer sitzen bereits und die Lichter werden gedimmt – und Minho sollte es nicht tun, aber er setzt sich zu ihnen, auf einen freien Platz in der letzten Reihe. Er hat noch nie im Leben eine Oper gesehen – immerhin ist es nicht besonders logisch oder produktiv anderen Menschen beim Singen zuzuhören, oder? –, aber bekanntlich gibt es für alles ein erstes Mal.
Das Ensemble spielt Figaros Hochzeit von Mozart und Minho weiß nicht, was er erwartet hat, aber als ihm nach nicht einmal fünf Minuten schon wieder die Tränen über die Wangen laufen (verdammte Scheiße!), gibt er sich geschlagen. Alle Spannung weicht von ihm. In der Hoffnung Trost zu finden, schlingt er sich die Arme um den Körper und weint. Und weint. Und hört nicht mehr auf, bis der letzte Gast den Opernsaal wieder verlassen hat.
Irgendwann an diesem Abend erinnert sich Minho an Hyunjin, den verwahrlost wirkenden Studenten mit den langen Haaren und der Traumlosigkeit. Im Grunde genommen sind sie sich ähnlicher, als Minho anfangs gedacht hat. Sie leben beide im Durchschnitt und haben ihren Platz auf dieser Welt noch nicht gefunden.
Er sieht die flehenden Augen und die eingezogenen Schultern vor sich. Wie Hyunjin hinter der Glastür steht und Minho bittet, ihn in der Oper schlafen zu lassen. Und obwohl Minho in dieser Nacht nichts gefühlt hat, ist er jetzt, fast eine Woche später, von Reue und Panik erfüllt. Minho hat Mitgefühl immer für ein Ammenmärchen gehalten, aber es scheint, als hätte er sich getäuscht.
Minho hat sich in so vielem getäuscht. Er ist gar nicht in der Lage, sich das Ausmaß dessen vorzustellen, was er alles verbockt hat. Geschweige denn, was das für ihn bedeutet. Ist auch nur irgendetwas, was er in den vergangenen 16 Jahren getan hat, von Belangen? Zeitspannen berechnen und Telefonnummern auswendig lernen ist keine Kunst. Jemandem eine Welt zu zeigen, die nach frischen Flieder und Tannenwald riecht, schon.
Ob Minho Hyunjin je wieder sehen wird?
Der Opernsaal ist leer, die Vorstellung vorbei und Minho schläft ein. Niemand verscheucht ihn und niemand sagt ihm, dass er hier falsch ist. Allerdings taucht auch kein Hyunjin auf.
Alles ist unglaublich trostlos.
ㅤ
ㅤ
ㅤ
꿈
ㅤ
ㅤ
ㅤ
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top