04. Das Schattenmonster





┌────────────┐
v i e r
DAS SCHATTENMONSTER

└────────────┘


Hyunjin liegt in seinem Bett und starrt die dreckige Decke an. Düstere Schatten bilden sich darauf ab. Wie Klauen, die Hyunjins Sichtfeld verzerren und ihm seine Unschuld entreißen wollen. In der Theorie weiß Hyunjin, dass es sich bei besagten Klauen lediglich um Schatten seiner Monstera-Zimmerpflanze handelt, aber in der Praxis spielt das keine Rolle. Hyunjin schaudert voller Angst davor, was die Klauen ihm antun könnten.

Er hasst es nicht zu träumen. Es fühlt sich falsch an. Als würde jedes Mal, wenn er schläft und nicht träumt, ein Teil von ihm sterben. Die Ärzte sagen, sein Zustand sei unbedenklich, aber Hyunjin ist vom Gegenteil überzeugt. Jemand, der sich so nutzlos fühlt wie er, kann nicht gesund sein.

Stöhnend presst er sich die Handballen auf die Augen. Er wünschte, er könnte aufhören zu denken. Denn wenn er noch lange diese Gedankenspiralen hinab tanzt, wird er niemals einschlafen. Und egal ob mit oder ohne Träume, ohne Schlaf funktioniert gar nichts. Hyunjin schielt auf den Wecker neben seinem Bett. Es ist kurz nach drei Uhr früh und er hat morgen um acht Uhr eine Vorlesung. Viel schlimmer kann es nicht mehr werden.

Obwohl, was wenn ihn das Schattenmonster seiner Monstera bei lebendigem Leib auffrisst? Wie eine Raubkatze schleicht es sich an, klettert den Wänden runter zu Hyunjin ins Bett und zerreißt ihm mit einem Schlag die Halsschlagadern.

Hyunjin schaudert. Seine Kopfhaut brennt vor Schmerz, aber er stammt nicht von einem Monster, sondern von einem Menschen, der Hyunjin an den Haaren durch die Gegend gezogen hat. Die Erinnerung lässt ihm schlecht werden. Es ist bereits zwei Tage her, aber seine Kopfhaut ist immer noch gereizt und...

Die Wohnungstür geht auf und Hyunjin schnaubt leise. Natürlich. Der einzige Mensch, der noch weniger schläft als Hyunjin, der Traumlose ist Chan, der Schlaflose. Hyunjin wohnt seit Studienbeginn mit dem zwei Jahre älteren Musik-Major zusammen in einer WG und hat es bislang noch kein einziges Mal erlebt, dass Chan vor ihm schlafen gegangen ist.

Dankbar für die Ablenkung schlägt Hyunjin die Decke zur Seite und schlendert in den Flur, wo Chan gerade dabei ist seine Schuhe abzustreifen.

"Oh", sagt er, als er Hyunjin entdeckt. "Du bist noch wach."

"Mhm", antwortet Hyunjin undefiniert. "Magst du eine Tasse Tee?"

"Gern."

Hyunjin nickt und geht in ihre kleine, hellgrün gestrichene Küche. Sie ist potthässlich, hat aber eine funktionierende Spülmaschine und einen Backofen. Im Grunde genommen leben Hyunjin und Chan im Luxus.

Hyunjin bereitet zwei Tassen Tee zu und Chan nimmt sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank, bevor sie sich an den winzigen Zweiertisch direkt neben der Küchenzeile setzen.

"Wie läuft's mit dem Master?", fragt Hyunjin.

Chan zuckt mit den Schultern. Seine Augenringe reichen ihm bis tief ins Gesicht und seine Locken sind matt. Chan ist muskulös gebaut, aber seine Haltung ist dermaßen jämmerlich, dass er eher wie ein gebrechlicher alter Mann wirkt. Es ist genau wie mit Hyunjins Schattenmonster: in der Theorie ist Chan ein schöner Mann, es hapert bloß in der Praxis.

"Soll ich dir nachher was vorspielen?", fragt er, während er von seinem Joghurt löffelt.

Hyunjin schüttelt den Kopf. Das Angebot ist verlockend, aber Hyunjin kann nicht zulassen, dass Chan in seiner ohnehin schon knapp bemessenen Freizeit für ihn spielt. Und das nur damit Hyunjin träumen kann. "Lass mal", sagt er. "Ich komm schon klar."

Chan schnaubt. "Natürlich", sagt er belustigt. Er meint es nicht böse. Um genau zu sein weiß Hyunjin nicht einmal, ob Chan überhaupt in der Lage ist, böse zu sein. Egal ob müde oder wach: Chan ist so gut wie die Sonne hell.

Das Wasser kocht und Hyunjin füllt ihre Tassen auf. Der Minutenzeiger rückt auf halb vier und Hyunjin gibt es insgeheim auf, sich vor seinen Vorlesungen noch erholen zu wollen.

"Du kannst mit mir reden, wenn du willst", bietet Chan plötzlich an.

"Ich weiß?", fragt Hyunjin zögerlich.

Chan nimmt einen Schluck Grüntee, bevor er sagt: "Du warst die letzten Tage unruhig. Außerdem warst du nicht mehr in der Oper."

Ah. Hyunjin weicht Chans Blick aus. Er hat ihm nicht von dem neuen Angestellten und dessen Eskapaden erzählt. Um ehrlich zu sein, hat er es selbst noch nicht so wirklich verarbeitet, geschweige denn begriffen. Unbewusst fährt er sich über die empfindliche Stelle am Hinterkopf.

"Das neue Ensemble spielt nicht so gut, wie das alte." Hyunjin zuckt mit den Schultern. "Es inspiriert mich weniger, also bleibe ich lieber zu Hause."

Chan isst den letzten Löffel Joghurt und stellt den leeren Becher zur Seite, bevor er sagt: "Du lügst."

Hyunjin schnaubt, wird aber rot.

"Du musst es mir nicht erzählen, ich meine nur: ich bin da, wenn du mich brauchst."

"Solltest du dich nicht auf deine Masterarbeit konzentrieren?"

"Ich sollte auch Gemüse essen, genug schlafen und aufhören meine Trainingseinheiten ausfallen zu lassen." Chan zuckt mit den Schultern. "Solche Dinge sind relativ."

Hyunjin lächelt. "Wohl wahr." Er nimmt einen Schluck Tee und fügt dann hinzu: "Ich weiß selbst nicht, was los ist. Es geht mir eigentlich gut." Chan wirft ihm einen pointierten Blick zu, worauf Hyunjin nuschelnd meint: "So gut es gerade geht. Auf jeden Fall geht es mir nicht schlecht."

Damit scheint Chan zufrieden zu sein. "Okay", sagt er und steht auf. "Danke für den Tee. Ich geh dann mal schlafen. Bleib nicht zu lange wach, ja?"

"Mh-mh."

Chan lässt Hyunjin allein und Hyunjin versucht nicht direkt wieder in ein Loch zu fallen. Immerhin gibt es in der Küche keine monsterhaften Schatten. Dafür erinnert ihn das Hellgrün der Küchenzeile an die Blumenwiese aus seinem Traum. An das Gold der Sonne und den frischen Blumenduft. Die Grashalme kitzeln seinen nackten Oberkörper und Minhos Wärme türmt sich über ihn.

Hyunjin ist 22 Jahre alt und hat schon immer ausschließlich zum Klang von live gespielter Musik träumen können. Noch nie hat er jedoch gemeinsam mit jemand anderem geträumt. Zumindest nicht bis vor zwei Tagen. Was fürchterlich ist. Denn während Hyunjin immer geglaubt hat, dass es nichts Besseres als die unendlichen Möglichkeiten einer Traumlandschaft gibt, hat es schon immer etwas Perfekteres gegeben. Etwas Unantastbares. Plötzlich eröffnen sich neue Türen und unendliche Möglichkeiten, Gefühle und Orte neu zu entdecken. Nichts hat sich je so echt angefühlt wie Minho in einem schwarzen Bett, das nach Flieder duftet und dessen Imagination entspringt.

Und das ist schrecklich, denn wie soll Hyunjin nun je wieder normal schlafen, wenn er weiß, dass es da draußen mehr gibt? Viel mehr.

Wieder fährt sich Hyunjin über den Hinterkopf. So lange der Schmerz noch anhält, weiß er, dass Minho real ist. Hyunjin hat ihn sich nicht eingebildet. Er existiert und atmet und lebt und träumt. Ohne Hyunjin.

Hyunjin ist vor diesem Tag noch nie absichtlich körperliches Leid zugefügt worden, aber er ist sich nicht sicher, ob es wirklich die groben Hände oder doch eher die Abweisung ist, die ihn gerade leiden lässt.

Sein Leben lang hat Hyunjin geglaubt, er sei absonderlich und allein. Jetzt weiß er, dass er es nicht ist. Er ist nicht allein. Er ist allein gelassen worden.







Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top