03. Das letzte, was er noch tun muss




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DAS LETZTE, WAS ER NOCH TUN MUSS

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Eine warme Brise geht. Es ist hell und riecht nach frisch gemähtem Gras und Blumen.

Minho sieht sich um. Er runzelt die Stirn und versucht sich zu erinnern, wie er hergekommen ist, aber die Gedanken entwischen ihm. Alles, was er wahrnimmt, ist die endlose Blumenwiese mitten im Nirgendwo und die strahlende Sonne am Horizont. Der Himmel färbt sich in allen Farben des Regenbogens und dicke Hummeln summen an ihm vorbei.

Eine tiefe Zufriedenheit breitet sich in Minho aus. Wie aus einer heißen Quelle sprudelt sie durch seinen Körper und lässt ihn lächeln.

"Hyung?", fragt eine Stimme, die ihm bekannt vorkommt. Minho dreht sich um und erblickt den wohl schönsten Mann, den er je gesehen hat. Er ist groß und schlank, hat dunkles, langes Haar und ein so strahlendes Lächeln, dass all die Blumen um ihn herum im Vergleich öde wirken.

"Hyunjin", sagt Minho.

Der schönste Mann der Welt nickt und kommt auf Minho zu. Er greift nach Minhos Händen und verschränkt ihre Finger miteinander. Sie sind überraschend warm und zart – und Minho möchte am liebsten nie wieder loslassen.

"Du bist gekommen", sagt Hyunjin.

Minho nickt, auch wenn er nicht weiß, was Hyunjin damit meint.

"Ich bin froh. Zu zweit macht es mehr Spaß hier zu sein."

"Ach ja?"

"Aber natürlich", lacht Hyunjin und ein warmes Kribbeln sprudelt durch Minhos kompletten Körper. Er festigt seinen Griff um Hyunjins Hände, um sicherzugehen, dass ihm der schönste Mann der Welt unter gar keinen Umständen entwischt und dieses Gefühl von reinem Glück mit sich nimmt.

"Wo sind wir hier?"

"Wo auch immer du willst."

Minho runzelt die Stirn. Er blickt über Hyunjins Schulter zum Sonnenuntergang weit hinten, am Horizont, aber gerade als er fragen will, was Hyunjin damit meint, verschwindet das goldene Gelb und wird von einem satten Dunkelgrün ersetzt. Minho verliert das Gleichgewicht und stolpert nach vorn. Hyunjin hält ihn fest und stabilisiert ihn und als er das nächste Mal aufsieht, befindet er sich mitten in einem dichten Tannenwald. Es riecht nach Harz und Moos und eine frische Taunässe hängt in der Luft.

"Wie hast du das gemacht?", fragt Minho perplex.

"Ich hab es mir einfach vorgestellt", meint Hyunjin und zuckt mit den Schultern. "Wie gesagt, wir sind, wo auch immer wir wollen."

Minho sieht sich weiter um. Ein paar Vögel fliegen über ihre Köpfe hinweg und irgendwo im Dickicht raschelt ein Nagetier.

"Egal wohin?", fragt Minho fasziniert.

Hyunjin nickt und Minho lässt sich das nicht zweimal sagen. Er beugt sich vor, greift nach Hyunjins Nacken und küsst ihn. Hyunjin schnauft erschrocken auf und noch bevor er irgendetwas tun kann, verschwimmt die Waldlandschaft und der frische Harzgeruch und wird von der stillen Kulisse eines Schlafzimmers ersetzt. Minho drückt Hyunjin nach hinten und lässt ihn auf ein schwarz bezogenes Bett plumpsen. Es riecht nach Flieder und Waschmittel und ist so weich wie das Fell einer Babykatze.

Minho klettert über Hyunjin auf die Matratze und stützt sich neben seinen Schultern ab.

"Du begreifst schnell", bemerkt Hyunjin belustigt. Er hat seinen anfänglichen Schock überwunden und streckt seine Hand nach Minhos Wange aus, um ihn zu sich zu ziehen.

"Ich bin intelligent", bestätigt Minho und Hyunjin lacht gegen seine Lippen. Sein Atem ist warm und vertraut und so gut, dass Minho nicht mehr klar denken kann. Er überbrückt die Distanz zwischen ihnen und küsst Hyunjin, als wäre es das letzte, was er noch tun muss, bevor er diese Welt für immer verlässt. Der Gedanke verängstigt ihn, treibt ihn aber auch an. Ist das die Vorhölle? Oder das Tor zum Himmel? Es fühlt sich nicht wie die Realität an - aber auch nicht wie das Jenseits.

Minho hat sich noch nie im Leben so lebendig gefühlt. Er löst sich von Hyunjin, um ihm sein Shirt auszuziehen und die Hitze seiner nackten Haut unter sich zu spüren. Sie ist im Kontrast zu den schwarzen Laken weiß wie Schnee und Minho küsst jede freie Stelle davon. Er kann kaum genug bekommen. Er ist kein besonders Sex vernarrter Mensch, weil er nie genug fühlt, um wirklich geil zu werden, aber...

"Hyunjin?", fragt Minho plötzlich schockiert. Die schwarzen Laken verschwinden und Hyunjin liegt mit einem Mal wieder auf der süß duftenden Blumenwiese im Sonnenuntergang. Seine Haut glänzt golden und sein schwarzes Haar fällt ihm seidig über die Stirn.

"Was ist?", fragt er schwach.

Minho starrt ihn an. Hyunjins Oberkörper hebt und senkt sich mit seinen schweren Atemzügen und er beobachtet Minho neugierig und fasziniert zugleich.

"Wie spät ist es?", fragt Minho, während ihn pure Zuneigung durchströmt. Er hasst es, Hyunjin nicht zu berühren und seine Wärme nicht zu spüren. Und er liebt es, wie wunderschön der Junge aussieht, während das ganze Universum in seinen Augen zu tanzen scheint.

"Ich weiß nicht", sagt Hyunjin verwirrt. "Ich glaube, es gibt hier keine Uhrzeit."

"Aber es gibt immer eine Uhrzeit", protestiert Minho und versucht seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Er versucht sich zu erinnern, wann er Hyunjin getroffen und wie viel Verzögerung Minhos Alltag durch ihn erlitten hat, aber Minho kann sich nicht erinnern. Er spürt nur Zuneigung. Verlangen. Liebe?

Minho fühlt nichts. Minhos sollte nichts fühlen. Seit seinem achten Lebensjahr.

8321.

Ist er noch ganz?

"Hyung?", fragt Hyunjin besorgt und streckt eine Hand nach ihm aus. Er streichelt ihm über die Wange und die Berührung ist so sanft, dass ein kaum spürbares Prickeln über Minhos Körper fährt.

Dann wird ihm schlecht.

"Du verdammter Wichser", stößt er hervor und reißt sich von Hyunjin los. Und noch bevor er sich aufgerichtet hat, verschwinden die Wiese und der goldene Sonnenaufgang und machen roten Klappstühlen aus Samt und einer pompösen Opernbühne Platz. Minho stolpert und versucht schwer atmend die Kontrolle zu behalten. Seine Ohren dröhnen und seine Hände zittern. Er versucht sich auf seinen Pragmatismus zu konzentrieren, aber es gelingt ihm nicht. Überall sind Emotionen. Geilheit, weil Hyunjin so gut ausgesehen hat. Zuneigung, weil er für Minho da gewesen ist. Und Grauen, weil er mit ihm gespielt hat, wie mit einer Schachfigur.

"Minho-Hyung?", dringt vage Hyunjins Stimme in Minhos Gedanken vor. Sanfte Hände umfassen seine Oberarmen und versuchen ihn zu stabilisieren. Der Hyunjin aus dem realen Leben trägt einen grünen Strickpullover und hat seine Haare zusammengebunden. Er sieht besorgt auf Minho herunter und allein die Tatsache, dass er es wagt Minho nochmals anzusehen, macht Minho dermaßen rasend, dass er ihn am Kragen packt und von sich schubst.

"Du verfickter Hurensohn", brüllt er. Hyunjin stolpert überrascht nach hinten und fällt beinahe über die samtigen Klappstühle. Wie vom Teufel besessen, eilt Minho ihm nach und stößt ihn weiter von sich weg.

"Was fällt dir ein? Wer denkst du..."

"Es tut mir leid, Hyung, aber du musst..."

"Unterbrich mich nicht!"

Minho packt Hyunjin an den Haaren und Hyunjin schreit so elendig, dass es Minho glatt selbst weh tut. Der Schrei zieht sich durch seine Brust wie der Schnitt eines frisch geschliffenen Messers und legt der ganzen Welt sein Herz offen, um darauf herumzuhacken. Minho kann nicht mehr atmen. Und ihm ist immer noch schlecht. Er muss hier weg. Er muss Hyunjin loswerden und er muss... er muss...

"Hör auf, Hyung, du tust mir weh", jammert Hyunjin und Minhos Wut wird zu Verzweiflung. Er lässt los und Hyunjin fällt keuchen zu Boden. "Fuck", flucht er und hält schmerzverzerrt seinen Hinterkopf.

Alles in Minho dreht sich.

"Verschwinde", presst er hervor. "Verschwinde und komme nie wieder. Sonst mach ich dich fertig", sagt Minho, ohne zu wissen, was er wirklich damit meint.

"Hyung, du..."

"Verschwinde!", brüllt Minho und sieht gerade im rechten Moment auf, um eine funkelnde Träne Hyunjins Wange hinunter rinnen zu sehen.

Fuck. Wieso tut das so weh? Es sollte nicht weh tun, jemanden heulen zu sehen. Es sollte nicht weh tun, jemanden leiden zu sehen. Gar nichts sollte weh tun. Wieso tut alles weh?

8321. 8321. 8321.

"Es tut mir leid", jammert Hyunjin und rappelt sich auf. Auf zittrigen Beinen stolpert er Richtung Ausgang und lässt Minho allein im leeren Opernsaal zurück, während Minho in sich zusammensackt und zum ersten Mal seit 16 Jahren weint. Er weint so laut, dass der ganze Saal von den Geräuschen erfüllt wird und hört nicht auf, bis die Sonne aufgeht und das Putzteam ihn findet. Sie rufen besorgt den Notarzt, aber bevor sie ihn aufgabeln und in ein Krankenhaus verfrachten können, haut Minho ab und rennt nach Hause. Er legt sich ins Bett und starrt die Decke an, aber egal wie lange er sich auf die Nuancen des Weißputzes fokussieren möchte, er schafft es nicht. Alles, was er wahrnimmt, ist Schmerz und Liebe und Angst und Hoffnung und Hass und Freude und Minho übergibt sich neben sein Kissen, bis sein Magen nur noch Magensäure hoch würgt und er vor Erschöpfung endlich einschlafen kann.





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