People are strange ♠
Doktor Harsen führte meine Eltern und mich in den Anmeldebereich. Ich wurde hinter einer knallgrünen Plastikblume abgestellt und war froh darüber, dass mir die riesigen Blätter für einen kurzen Moment ein Versteck boten. Ich war gerade in den Anblick eines abstrakten Gemäldes vertieft, als ich etwas hinter mir rascheln hörte.
»Maybee, zusammen mit Frau Harsen haben wir beschlossen, dass ein Einzelzimmer das Beste für dich sein wird.« Ich nickte abwesend. Meine Eltern wussten ja immer was das Beste für mich war. Der einzige Vorteil, den ich aus einem Einzelzimmer schloss, war, dass ich mit niemandem wie Rachel rechnen musste.
»Dann begleite ich Sie mal nach oben.« Doktor Harsen deutete auf eine große, weiße Holztür. Wir setzten uns in Bewegung und ich fühlte mich augenblicklich wie ein Goldfisch im Glas. Sämtliche Augenpaare richteten sich auf mich.
»Verflucht!«, schrie meine Mutter hinter mir, nachdem mein Schminkkoffer krachend auf die Fliesen gefallen war. Der Rollstuhl kam zum Stehen und ich fühlte mich der gaffenden Menge gänzlich ausgesetzt.
»Kommt nur her ihr Piranhas und fresst den kleinen Goldfisch«, dachte ich grimmig. Unter den eindringlichen Blicken hatte sich mein Gesicht bestimmt goldrot verfärbt. Der kleine Goldfisch hätte die Möglichkeit einfach unter zu tauchen, doch die hatte ich leider nicht. Auf der linken Seite entdeckte ich eine Gruppe von vier Mädchen, dessen Getuschel deutlich zu mir herüberdrang.
»So, der Koffer liegt wieder auf den anderen.«
Wie in Zeitluppe wurde ich weitergeschoben und vor uns tauchten zwei große Fahrstuhltüren auf. Wie unpassend, dass in einer Rehaklinik, wo der größte Anteil der Bewohner sich nicht alleine auf den Beinen halten konnte, die Zimmer im ersten Stock untergebracht waren. Mein Vater drückte auf einen runden Metallknopf und auf der Anzeige begannen die Zahlen langsam nach unten zu zählen. Eigentlich froh darüber, die glotzende Meute hinter mir gelassen zu haben, drehte ich mich noch einmal nach hinten. Die meisten hatten sich wieder ihren eigenen Beschäftigungen zugewendet und das Interesse an mir verloren. In der halben Umdrehung nach vorne, fingen meine Augen den kalten Blick eines schwarzhaarigen Jungen auf, der alleine in seinem Rollstuhl an einem klapprigen Holztisch kauerte. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas verachtendes an sich, das mir sofort Unbehagen in mir verbreitete. Ich war noch keine zehn Minuten in diesem Gefängnis und hatte mir anscheinend schon eine Menge Feinde gemacht.
Trotzig starrte ich die aufgehende Metalltür an und konnte mit Mühe die Tränen zurückhalten, die sich in meinen Augen angesammelt hatten. Nach einem lauten Pling erreichten wir einen schmalen Gang, der von unzähligen Türen gesäumt war. Unsere Haltestelle war Nummer 42.
Kahle, gelbgestrichene Wände, an denen die Abnutzungserscheinungen mehr als deutlich zu sehen waren und ein roter Gummiboden empfingen mich. Ein Uralt-Fernseher und billige Holzmöbel machten mein neues Zuhause keineswegs wohnlicher. Das Zimmer besaß kein bisschen Persönlichkeit.
»Was für ein grandioser Ausblick auf die Berge!« Euphorisch stöckelte meine Mum auf das große Fenster zu. Ich folgte ihr, aber verstand ihre Euphorie nicht. Vor mir breitete sich ein trostloses braun in grau- Bild ab. Selbst der Himmel wollte mir an diesem Tag kein Stück Blau schenken.
»Gegen Abend wird eine Mitarbeiterin vorbeischauen und dir beim Kofferauspacken behilflich sein.« Doktor Harsen hatte bereits drei Schritte auf die Tür zugemacht.
»Für uns wird es auch langsam Zeit. Wir müssen leider los, Maybee.« Mein Vater drückte mich in einer flüchtigen Umarmung und meine Mutter drückte mir einen feuchten Kuss auf die Stirn. Kurz darauf war ich alleine. Die Arbeit der beiden war mal wieder wichtiger gewesen, als ihre Tochter. Und auf Erin und Tedd war auch kein Verlass. Ich hatte wirklich tolle Freunde, die nicht einmal wussten, wo ich mich gerade befand.
Deprimiert starrte ich weiterhin aus dem Fenster und wünschte mir, dass die dunklen Wolken der Sonne Platz machten. Ich fühlte mich einsam in dem kahlen Raum. Es würde einige Zeit dauern, überhaupt Kontakt zu den Leuten hier aufzubauen. Bevor ich einen endlosen Heulkrampf bekam, suchte ich die Flucht nach draußen, um den Park zu erkunden.
Die frische Luft tat mir gut. Ich folgte einem gepflasterten Weg. Ringsherum hatte man lieblos irgendwelches Grünzeug in die Erde gestopft und dann verwahrlosen lassen. Einige Meter vor mir kam ein Teich in Sicht. Ich wollte meine Armbewegungen beschleunigen, bewegte mich aber keinen Zentimeter.
»Du hast dich zwischen zwei Kantsteinen verhakt.« Noch bevor die Stimme weitersprechen konnte, bekam ich einen Wutanfall.
»Die wissen doch, dass wir hier mit unseren Rollstühlen langfahren müssen! So dämlich kann man doch nicht sein!« Neben mir tauchte ein blondhaariges Mädchen auf, das sich mit den Armen auf zwei Krücken abstütze.
»Oh doch, das kann man. Ich bin hier sogar schon mal ganz umgekippt.« Freundlich streckte mir die Blondhaarige ihre Hand entgegen. »Ich bin Hanna. Du scheinst neu hier zu sein oder?«
»Ja, das stimmt und mein Name ist Maybee.« Hanna war mir auf Anhieb sympathisch, auch wenn sie überhaupt nicht der Kategorie meiner sonstigen Freunde entsprach. Sie war ungeschminkt, ein wenig fülliger und hatte ihre Haare zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengesteckt, aus dem einige Strähnen wirr hervorstanden. Ganz sicher ging sie auch nicht in den Läden einkaufen, mit deren Sachen ich meinen Kleiderschrank füllte. Das alles war mir in diesem Moment egal, da ich endlich jemanden getroffen hatte, der mich nicht böse anguckte.
»Aus welchem Grund bist du hier gelandet, wenn ich fragen darf?« Ihre Direktheit überraschte mich und ich überlegte kurz, ob ich ihr antworten sollte, entschied mich schließlich dafür.
»Vor einigen Wochen hatte ich einen Surfunfall.« Ganz sachlich schilderte ich ihr die wichtigsten Dinge.
»Mhm, verstehe. Bei mir war es auch ein Sportunfall. Ich wollte meinen Klassenkameraden beweisen, dass ich auch eine gute Turnerin am Reck bin. Tja, das ging leider nach hinten los. Statt auf dem Reck, bin ich jetzt hier.« Hanna grinste mich schief an und ich konnte mein Erstaunen nicht verbergen, wie gelassen sie ihr Schicksal nahm.
»Du hast doch bestimmt auch Hunger oder?« Sie beugte sich zu mir herunter, wobei ihre Haare sanft auf meiner Schulter landeten.
»Wenn du schon so fragst, muss ich ja mitkommen«, gab ich mich geschlagen und erwiderte ihr dickes Grinsen.
Ich wusste zwar nicht wie, aber es gelang ihr mich trotz ihrer zwei Krücken in den geräumigen Speisesaal zu schieben. Wir suchten einen freien Tisch und begaben uns anschließend in die Warteschlange. Es roch nach gebratenem Fleisch und frischem Gemüse. Mein Kopf wanderte nach oben. Eine riesige Glasfront ersteckte sich über dem gesamten Saal und gab die Sicht auf den mittlerweile nicht mehr ganz so dunklen Himmel frei. Wir nahmen das dampfende Essen entgegen und machten uns auf den Rückweg zu unseren Tischen, was gar nicht so einfach war. Mit einer Hand balancierte ich mein Tablett, während ich mit der anderen versuchte, vorwärts zu kommen.
»Das ganze Theater tun sie, damit wir unsere Selbstständigkeit nicht verlieren.« Hanna hatte meine Überforderung bemerkt und war stehen geblieben. Ich machte leider den Fehler und konzentrierte mich ganz auf sie. Zu spät registrierte ich, dass mein Tablette gegen etwas stieß.
»Kannst du nicht aufpassen!?«, fauchte mich jemand von der Seite an. Es war kein geringerer, als der schwarzhaarige Junge von vorhin. Abfällig zog er seine Augenbrauen nach oben und seine Augen funkelten genauso wie der Labret-Piercing an seiner Lippe. Ehe ich etwas sagen konnte, kehrte er mir den Rücken zu, so als wäre nichts gewesen.
»Komischer Zeitgenosse«, ging mir durch den Kopf, während mir Hanna an den Tisch half.
»Wer ist der Typ?«, wollte ich wissen.
»Sein Name ist Tristan. Er redet so gut wie mit keinem. Zu mir ist er aber ganz nett.«
»Ahja, zu mir offensichtlich nicht«, brachte ich auf den Punkt und schenkte meine Aufmerksamkeit dem Essen vor mir. Vor einigen Stunden hatte ich noch damit gerechnet, ganz alleine am Tisch sitzen zu müssen. Jetzt war ich glücklich, so einen offenen Menschen wie Hanna kennengelernt zu haben. Sie schien beinahe eine Art Freundin für mich zu sein.
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