#Out from Under
»Maybee Clark!« Eine tiefe Stimme schrie meinen Namen und ihr Klang schien sich in weite Ferne zu verlieren, wurde immer undeutlicher, bis nur noch ein Flüstern zu hören war. Sämtliche Sinne in mir spannten sich an und mein Herz fing an wie wild zu pochen. Die Schläge wurden langsamer und verwandelten sich in ein beständiges Rauschen. Mein Körper befand sich am Surfrider Beach. Die ausgebrannten Autowracks waren ein unumgängliches Indiz dafür. Von ihren Bewohnern war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Die gesamte Strandgegend war leergefegt. Trotzdem fühlte ich mich nicht einsam, denn das Rauschen entpuppte sich als der dunkelblau glitzernde Ozean. Und plötzlich wusste ich, was die Stimme, die meinen Namen rief von mir gewollt hatte. Es war ein Aufruf gewesen. Der Aufruf zum Wettkampf meines Lebens. Automatisch ergriffen meine Hände das Surfboard, welches neben mir am Boden lag. Meine Füße steuerten auf das Wasser zu, ehe sie von dem kühlen Nass tosend empfangen wurden. »Life is too short to waste. Go surfing!«, brüllte ich mir von der Seele und wollte mich in die Fluten stürzen. Meine Reaktionen liefen wie in Zeitlupe ab. Ich schien wie eingefroren zu sein, während sich die Wolken über mir zusammenzogen und alles unter ihnen in ein düsteres Licht rückten. Ich war nicht in der Lage mich zu bewegen und verfolgte entsetzt, wie blaue Schlingen aus dem Wasser krochen und sich tentakelartig um meine Knöchel schlangen. Mein Brett wurde mir entrissen. Am nächstgelegenen Felsen wurden die Delphine darauf getrennt und schließlich in tausend einzelne Stücke zertrümmert. Ich wollte um Hilfe schreien, doch ich bekam keine Chance mehr dazu, da sich etwas glitschiges um meinen Mund windete. Stück für Stück verlor ich an Halt und wurde in die erbarmungslose Dunkelheit entrissen.
Als ich meine Augen wieder öffnete, starrte ich an meine, in der Schwärze grau gefärbte Zimmerdecke. Ein erschöpfter Atemzug entwich meiner Lunge. Seit dem Vorfall im Schwimmbad plagten mich diese Albträume. Mittlerweile hatte ich mich zwei Personen anvertraut, die davon wussten. Doktor Shumway und Hanna, die mich stundenlang überzeugt hatte, zu der Psychologin zu gehen. Ich schätzte diese auf Grund des kindlichen Gesichtes und der blonden Engelslocken, die sie meist in einem Pferdeschwanz versteckte, auf Mitte bis Ende zwanzig. Gleich nach Abschluss ihres Studiums hatte sie sich auf Unfalltraumatologie spezialisiert und war wohl die richtige Ansprechpartnerin für mich. Trotzdem war es anfangs sehr schwer, mich ihr zu öffnen. Die Vorurteile, dass solche Ärzte meistens selbst einen Schaden hatten, konnte ich erst nach einigen Therapiestunden ablegen.
Seit meiner Panikattacke waren inzwischen drei Wochen vergangen. Fast jede Nacht hatte ich mit der Rückkehr an den Ort meines Unfalls zu kämpfen. Meine Psychologin beschrieb das als natürlichen Prozess des Gehirns, das Geschehene zu verarbeiten. Nur wenn ich alles noch einmal durchlebte, konnte ich irgendwann mit der ganzen Sache meinen Frieden schließen. Indes hatte ich mich an das graue und trübe Regenwetter, das in Bakersfield eingetroffen war und an den Klinikalltag gewöhnt. Bei meinem Trainingsprogramm machte ich kaum Fortschritte, nur meine Arme hatten an Muskelmasse zugelegt. So konnte ich mich immerhin von alleine aus dem Rollstuhl befreien und hatte damit ein Funken Selbstständigkeit zurückgewonnen. Mit Hanna und auch mit Tristan verstand ich mich immer besser. Die meisten Dinge unternahmen wir fortan als Dreierclique. Anscheinend war Tristan über seinen Schatten gesprungen und war mir weitaus sympathischer als zu Anfang. Zu den restlichen Patienten hatte ich nur oberflächlich Kontakt. Hier ein überfreundliches Hallo, aufgesetzt mit einem breiten Grinsen und da ein Flüstern hinter meinem Rücken.
Mühsam quälte ich mich aus dem Bett und platzierte meinen Körper in den Rollstuhl. Die Dunkelheit im Zimmer engte mich ein und ich beeilte mich die schweren Vorhänge zur Seite zu reißen und das Fenster zu öffnen. Überrascht sog ich eine frische Morgenbrise ein, während warme Sonnenstrahlen mein Gesicht umspielten. Meine Kehle entließ ein freudiges Lachen. Dies schien seit langem ein guter Tag zu werden.
Beim Frühstück stieß ich auf Hanna, die gierig eine Portion Knusperflocken verschlang.
»Morgen«, rief ich ihr zu. Sie stand auf und kam auf mich zu. Hanna hatte reichlich Fortschritte gemacht und konnte sich ohne Krücken auf den Beinen halten. Ich freute mich für sie, spürte aber auch ein bisschen Neid, da es bei mir nicht so gut voranging.
»Guten Morgen, Maybee!« Sie umarmte mich flüchtig und schob mich neben ihren Holzstuhl. »Ich besorge dir schnell dein Frühstück. Denn ich habe etwas wichtiges mit dir zu besprechen.«
Meine Neugier war geweckt und ich hielt sie nicht davon ab, mich zu umsorgen als wäre ich ein kleines Kind. Wenig später stieg mir der Geruch frisch aufgebrühten Zitronentees in die Nase. Tristan hatte sich auch zu uns gesellt und trank wie jeden Morgen nur ein Glas Wasser.
»Leute, wir müssen mal raus hier!«, brachte Hanna auf den Punkt. »Etwas anderes sehen, als immer die polierten Gänge und unsere trostlosen Zimmer.«
Mit einem Nicken gab ich ihr Recht. Bisher hatte ich nur an wenigen Ausflügen teilgenommen. Stattdessen war ich hier im Center fast eingegangen wie eine kleine Blume.
»Wie wär es mit einem Ausflug in die Innenstadt?«, wollte Hanna wissen.
»Also, ich bin dabei«, gab Tristan ihr mit einem Zwinkern zu verstehen, das ich nicht richtig deuten konnte.
»Ohne mich geht ihr nirgendwohin«, warf ich ein und wir drei grinsten uns voller Vorfreude an.
Gegen Mittag saß ich festgeschnallt zwischen meinen Freunden in einem geräumigen Van. Der Fahrer und ein Pfleger des Klinikpersonals waren als Begleitung mitgeschickt worden.
Mein Blick wanderte aus dem Autofenster und passierte zahlreiche Häuser, die durch das Sonnenlicht golden schimmerten. Viele Menschen waren auf den Straßen unterwegs und hetzten mit Taschen beladen die Bürgersteige entlang. Ich genoss den Hauch Normalität, der sich draußen abspielte. Kilometer für Kilometer wurde die Kleidung der Leute luftiger und wechselte schließlich zu Bikini und Badeshorts. Auf der rechten Straßenseite tauchte das Schild nach Huntington Beach auf. Mir wurde klar, dass wir nicht auf dem Weg in die Innenstadt von Bakersfield waren. Das glitzernde Blau des Ozeans raubte mir für einen Moment die Sprache. Wir befanden uns inmitten der Surfstadt der USA. Tausende Touristen kamen jeden Tag hierher, belegten sämtliche Zimmer in den zahlreichen Hotels und besuchten Surfwettkämpfe. Sie spielten Volleyball oder fuhren mit dem Fahrrad an der Strandpromenade entlang, den ganzen Tag begleitet von einer frischen Seebriese.
»Wieso habt ihr mich angelogen?«, fand ich meine Stimme wieder und schaute in die Gesichter meiner Freunde. Der erste Zauber des Ozeans war verflogen und hatte einer aufkeimenden Panik Platz gemacht.
»Weil wir wussten, dass du nicht mitkommen würdest, wenn wir dir unser wahres Ziel genannt hätten«, versuchte es Tristan mit einer Erklärung.
»Nach dem Vorfall in der Schwimmhalle, haben wir nach einer Möglichkeit gesucht, dir deine Angst zu nehmen«, fügte Hanna hinzu.
»Und das habt ihr alles hinter meinem Rücken getan?« Ich war ziemlich aufgebracht und fuchtelte wild mit den Armen herum.
»Du kannst dich nicht dein ganzes Leben lang vor einem Besuch am Strand drücken. Irgendwann musst du dich deinem Schicksal stellen, Maybee. Wir wollen nur dein Bestes.« Hanna bemühte sich, mich zu beruhigen.
Irgendwo hatten sie Recht. Ich konnte nicht für immer davon laufen. Das Surfen war ein Teil meiner Selbst gewesen, das konnte man nicht von heute auf morgen ablegen. Aber, was wenn ich nicht bereit dafür war?
Tristan schien meine Gedanken gelesen zu haben. »Was soll dir heute schon passieren. Wir sind bei dir und unterstützen dich. Sieh es als einen Anfang.«
Ich ließ mir ein wenig Zeit zum Nachdenken und stimmte schließlich beiden zu. Das Meer, das die ganze Windschutzscheibe des Autos eingenommen hatte, strahlte eine beruhigende Friedlichkeit aus. Es wirkte ganz natürlich und nicht so bedrohlich wie das Wasser in der Schwimmhalle.
Fünf Minuten später machten wir auf einem überquellenden Parkplatz Halt. Ganze Horden an Familien strömten in Richtung Wasser, angezogen wie von einem großen Magneten. Dieser hatte auch meine Gedanken in seinen Bann gezogen. Unter dem sanften Rascheln der Palmenblätter warteten wir darauf, dass die Reifen der Rollstühle ausgewechselt wurden. Man konnte sich nur mit extra breiten Rädern auf dem weichen Sand fortbewegen.
Und plötzlich sehnte ich mich nach dem leichten Kitzeln der kleinen Sandkörner. Nur würden meine Beine das nicht mehr spüren können. Schnell verwarf ich die deprimierenden Gedanken wieder. Ich wollte Hanna und Tristan nicht den Tag verderben. Sie hatten das alles nur für mich getan. Mein Ego konnte ich später wieder herausholen.
Zu dritt suchten wir uns einen freien Platz zwischen den bunten Sonnenschirmen. Tristan holte seinen Zeichenblock heraus und war anschließend in seine Arbeit vertieft. Neben uns stritt ein junges Ehepaar darüber, wer das Essen vom Imbiss besorgen sollte, während der andere auf die tollenden Kinder aufpasste. Belustigt lauschte ich den beiden eine Weile. »Die haben Probleme.« Kopfschüttelnd sah ich, wie der Mann wütend Richtung Essensquelle davon stapfte. Auf seinem Rücken hatte sich ein heftiger Sonnenbrand breit gemacht. Meine Finger glitten durch den aufgeheizten Sand und streiften ein paar Muscheln und ausgedörrte Holzstücke. Ich beschloss die Dinge in meiner Tasche zu sammeln. Es war nicht abzusehen, wann ich wieder die Möglichkeit hatte an einen Strand zu kommen.
Hanna schlug vor, uns eine Erfrischung am Uferrand zu gönnen. Tristan lehnte geistesabwesend ab und ich bewunderte ihn für seine starke Konzentration, mit der er sein größtes Hobby verfolgte.
»Meinetwegen können wir es versuchen.« Blinzelnd schaute ich zu Hanna auf, die mich sofort unter den Armen packte und zurück in den Rollstuhl hievte. Langsam näherten wir uns dem Pazifik. Ich hatte mit einem mulmigen Gefühl gerechnet, doch mein Inneres blieb erstaunlich gelassen. An der Schwelle zum Wasser brachte mich Hanna zum stehen. Ich genoss den Ausblick auf die unendliche Weite, die sich vor mir erstreckte. Am Horizont verfärbte sich die Nachmittagssonne langsam orange. Kindergeschrei drang vom angrenzenden Pier zu uns herüber und mischte sich in den lauten Gesang der Möwen. Ich beschloss den Moment zu genießen.
»Maybee, pass auf!« Hanna riss mich von dem traumhaften Anblick los. Doch zu spät, eine kleine Welle kam drohend auf meinen Rollstuhl zu. Ich fürchtete, dass mich die Angst zurückergriff, aber mein Unterbewusstsein vermutete wohl, dass keine Gefahr ausging.
Mit einem unerwarteten Reflex, versuchten meine linken Zehen der kalten Berührung mit dem Wasser auszuweichen.
»Du hast deinen Zeh bewegt!, kreischte Hanna aufgebracht und tanzte einmal um mich herum. Völlig perplex starrte ich weiter auf meine rot lackierten Nägel. Ich hatte es mir nicht nehmen lassen während dem Aufenthalt in der Klinik auf den Lack zu verzichten.
Die Bewegung war bestimmt nur Einbildung gewesen. Ein Hirngespinst, das mir einen Streich spielen wollte.
»Versuch es nochmal«, forderte Hanna mich auf. Meine Muskeln gehorchten ihr und meine Zehen wanderten auf und ab. Das aufkommende Glücksgefühl trieb mir die Tränen in die Augen.
»Ich kann sie bewegen.« Stotternd stieß ich einen Jubelschrei aus. Hanna lächelte mich an. Aber ich hatte den Eindruck, als beschäftigte sie etwas. Sie wirkte auf einmal ziemlich ernst.
»Was ist los?«, fragte ich sie.
»Bee, wir müssen reden.«
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