○ If you go away ○
Auf dem Rückweg zum Van hatte Hanna mir alles erzählt. Während der Heimfahrt klärte sie schließlich auch Tristan auf. Bereits morgen würde sie das Kern Medical Center verlassen und damit auch uns. In den ersten Minuten konnte ich ihr kaum zuhören. Zu tief saß der Schock. Auch die Tatsache, dass ich meine Zehen wieder bewegen konnte, trat in den Hintergrund. Warum konnte es nicht so unbeschwert bleiben, wie es in den letzten Stunden der Fall gewesen war. Neben meiner guten Laune hatte sich gegen Abend auch das schöne Sommerwetter zwischen den Wolken verzogen. In meinem dünnen, weißen T-Shirt begann ich zu frieren und verfluchte mich dafür, keine Strickjacke eingepackt zu haben.
»Ich weiß, es ist nicht gerade fair, euch mit dieser Nachricht vor den Kopf zu stoßen. Jeden verdammten Tag habe ich es vor mir hergeschoben«, sagte Hanna zu uns.
»Warum musste es ausgerechnet heute sein? Der ganze Nachmittag war so schön und jetzt hast du alles kaputt gemacht.« Ich gab mir keine Mühe, meine Enttäuschung zu verbergen und wusste, dass ich ungerecht war. Hanna war schließlich schon lange vor mir Patientin in Bakersfield gewesen. Ich hoffte auf Tristans Unterstützung, doch seine Miene blieb die gesamte Fahrt über verschlossen. Vielmehr schien er mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.
»Bee, für mich ist das alles auch nicht leicht. Aber du musst mich verstehen. Seit meiner Ankunft vor vier Monaten habe ich jede einzelne Minute auf die Nachricht gewartet, dass mich Doktor Harsen gehen lässt. Endlich wieder nach Hause, zu meiner Familie und meinen Freunden.«
»Du hast ja Recht, aber«, begann ich und knetete den rauen Anschnallgurt zwischen meinen Fingern. Ungewollt stiegen mir die Tränen in die Augen. Mit einer schnellen Bewegung versuchte ich sie zu verbergen. Zu spät. Hanna hatte mir ihre Hand aufs Knie gelegt und schaute mich traurig an.
»Wir bleiben in Kontakt«, sicherte sie mir zu.
Ich brachte daraufhin nur ein kurz angebundenes Nicken mit einem leisen »Hm« zustande. Auf der restlichen Strecke herrschte Schweigen, dem keiner ein Ende bereiten wollte. Hanna schielte mich noch einmal unsicher an, als wir aus dem Auto stiegen und anschließend das Gebäude betraten.
»Ich brauche jetzt Zeit für mich.«
»Das kann ich verstehen.« Wie ein Flüstern drangen ihre Wort hinter mir her, als ich mich zum Fahrstuhl aufmachte.
In meinem Zimmer angekommen, verbrachte ich die ersten Augenblicke mit einem heftigen Heulkrampf. Ich musste mich wie ein kleines Kind aufführen, doch es war mir egal. Mit Hanna hatte ich endlich jemanden gefunden, der mich hier unterstützte und mir neuen Mut zusprach. Sie war zu einer richtigen Freundin geworden. Bei ihr ging es nicht darum, wer besser angezogen war oder die meisten Facebookfreunde hatte. Für so etwas hatte sie im Gegensatz zu Erin nichts übrig.
»Du denkst schon so, als wäre sie tot.« Wütend schmiss ich meine Handtasche in die Zimmerecke, woraufhin sich das gesammelte Strandgut auf dem Teppichboden verteilte.
»Na toll!«, ging mir durch den Kopf. Ich wandte mich dem Chaos da unten zu. Als ich gerade eine Handvoll Muscheln zurück in die Tüte gestopft hatte, klopfte es zaghaft an der Tür.
»Hanna, lass mich in Ruhe!«, schrie ich ungehalten.
»Ich bin's«, drang Tristans Stimme zu mir durch.
Ruckartig stieß ich die Tür auf und funkelte ihn böse an. Ich wollte ungestört sein, konnte es denn keiner verstehen?
Tristan quetschte sich in seinem Rollstuhl durch die enge Tür. Ich hatte sie vorher nicht vollständig geöffnet.
»Was soll das Kindertheater?«, kam er gleich zum Punkt. »Einmal an Hanna gedacht, wie sie sich jetzt fühlt? Sicher nicht, denn sonst würdest du hier nicht so mitleidig in deinem Zimmer ein riesen Theater aufführen.«
Leider kam mir keine schlagfertige Antwort in den Sinn und musste ich ihn wohl oder übel weiterreden lassen.
»Maybee, du musst endlich lernen dich auch mal hinten anzustellen. Du bist erst wenige Wochen hier. Gegen Hannas Aufenthaltszeit ist das nichts.«
»Ist ja schon gut. Du musst hier nicht den Moralapostel spielen. Ich werde sie nur so schrecklich vermissen.« Der Versuch halbwegs erwachsen aus dieser Sache rauszukommen, war somit auch gescheitert. Mit einem lauten Schniefen verabschiedete ich mich von den vorerst letzten Tränen.
»Mir wird sie auch fehlen«, begann Tristan.
In meiner Ichbezogenheit waren mir seine Gefühle völlig entgangen. Das hatte ich mal wieder super hinbekommen. Tristan kramte aus der Jackentasche seines schwarzen Pullovers ein Stück Papier hervor. Da ich zu weit weg von ihm saß, konnte ich nicht erkennen, was sich darauf befand. Er tat mir den Gefallen und kam ein Stück näher heran. Sichtlich verlegen hielt er mir ein Bild von ihm, Hanna und mir unter die Nase. Es war unverkennbar, dass es sich um uns handelte. Völlig baff fuhr ich mit meinem Zeigefinger die feinen Linien um unsere Köpfe entlang. Jeder Strich war exakt gesetzt worden und zusammen mit den harmonischen Farben hauchte es dem Bild Leben ein. Mir schauten keine ausdruckslosen Gesichter entgegen. Vielmehr versprühte das Leuchten in unseren Augen eine unbeschwerte Freude.
»Wow. Ich wusste nicht, dass du so derart talentiert bist.« Ich konnte meinen Blick nicht mehr von dem Blatt losreißen. »Wann hast du das gemalt?«
»Heute am Strand. Ich denke, dass würde Hanna als Abschiedsgeschenk bestimmt gut gefallen.«
Wieder beschlich mich das schlechte Gewissen. Ich fühlte mich kläglich. Gegenüber Hanna hatte ich mich einfach unmöglich benommen und zu Tristan war ich keineswegs besser gewesen.
»Entschuldigung für das ganze Theater«, schuldbewusst hatte ich meinen Kopf nach unten gesenkt.
»Das musst du morgen Früh zu Hanna sagen. Jetzt lass uns überlegen, wie wir Hannas Geschenk am besten verpacken.«
Innerlich dankte ich ihm dafür, dass er nicht weiter auf das Thema einging. Er hatte es mir viel zu leicht gemacht, aus der Nummer wieder heraus zu kommen. Meine Augen suchten ziellos das Zimmer ab. Ideenlos. Sie blieben auf den verschütteten Muscheln ruhen und mir kam unerwartet ein Gedanke.
»Was ist, wenn wir einen Rahmen für das Bild basteln?« Mit einer Hand zeigte ich auf den Boden.
»Gute Idee.« Tristan lächelte mich an. »Fangen wir an.«
Unendlich froh darüber, etwas tun zu können, gab ich mir alle Mühe die kleinen Muscheln abwechselnd zwischen die Holzstücke zu kleben. Hin und wieder musste Tristan mir aushelfen. Mit seinen dünnen Fingern war er weitaus geschickter als ich. Er füllte selbst die kleinsten Lücken und das Ergebnis konnte sich sehen lassen.
»Hanna wird sich bestimmt freuen«, zog ich ein zufriedenstellendes Resultat.
»Das glaube ich auch. Endlich kann sie von hier weg.«
Es folgte ein zögerliches Schweigen, bevor ich die nächste Frage aussprach.
»Wie lange bist du schon hier?«
Eine leichte Anspannung breitete sich im gesamten Zimmer aus. Ich hatte mich wohl auf gefährliches Terrain begeben. Tristan schnipste auf seiner Jeans herum, so als wollte er einen unsichtbaren Fussel von seiner Hose verbannen. Er räusperte sich und mied es, mich anzusehen, bevor er anfing zu erzählen.
»Seit letztem Herbst bin ich hier eingesperrt.«
Für mich war es ungewohnt, ihn aus seinem Leben berichten zu hören. Nur selten sprach er von seiner Vergangenheit und ich wusste so gut wie nichts über sie.
»Mein Bruder und ich hatten damals einen Autounfall. Wir waren zusammen auf dem Weg an die Ostküste. Ein Sommerurlaub in Florida wartete auf uns. Wir hatten uns wochenlang darauf gefreut und alles bis ins kleinste Detail geplant. Nur eins hatten wir nicht bedacht, dass uns irgend so ein beschissener Raser von der Straße drängt.«
Ich wagte nicht, ihn zu unterbrechen. In der Stille des Raumes hörte man einen Moment lang nur das Surren der Lampen.
»Jason war sofort tot. Die Fahrerseite war frontal gegen einen Baum geprallt. Mich hatten sie mit schwersten Verletzungen aus dem Wrack gezogen. Zwei Monate später bin ich hier gelandet.«
Geschockt biss ich mir auf die Zunge und hatte das Gefühl, dass er es bisher fast niemandem erzählt hatte. Mein Schicksal dagegen war ein Unglück. Ein Sportunfall. Etwas, das sich vielleicht wieder gerade biegen ließ. Einen Menschen konnte man jedoch nicht zurückbringen.
»Tut mir leid«, brachte ich heraus. Tristan murmelte etwas unverständliches. Irgendwie schien er erleichtert zu sein. Wir verabschiedeten uns, denn es war ihm anzumerken, dass er alles gesagt hatte. Da ich nicht wusste, wie man in solchen Situationen reagierte, ließ ich ihn einfach gehen. Es war bereits Mitternacht und ich hatte ein paar wenige Stunden, um mich für den Abschied von Hanna zu wappnen.
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