Unräumbar
Boris lief vor und öffnete die Tür. Als das Wesen ihm folgte und neben ihm im Türstock stehen blieb, fragte er: „Wirst du mir in der Nacht auflauern und mich fressen?"
Siobhan blieb abrupt stehen. Ihre Hüften knackste. Wie kam der Junge auf solch eine Idee? Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, weil er das so direkt fragte. Mit klopfendem Herzen sah sie zu der Maske. Ihre Mimik war unverändert. Nur ein leises Stöhnen wie ein rostiges Scharnier stieß das Wesen aus. Die Schatten breiteten sich wieder aus und kringelte sich um ihre Füße. Hieß das, es war beleidigt? Oder unentschlossen, ob es Boris vielleicht doch essen sollte?
Stopp, du unterstellst ihm das Schrecklichste, schalt Siobhan sich. Vielleicht ist es auch beeindruckt von Boris' Direktheit? Oder das Kringeln bedeutete „Nein, natürlich esse ich dich nicht."
„Boris, ich glaube nicht, dass unser neuer Gast dich essen will. Da gibt es sicher bessere Delikatessen. Schokokekse oder Kroketten, zum Beispiel." Das war das Falsche zu sagen.
„Ich schmecke sicher sehr lecker. Roderick sagt das ständig und Kri meint, sie glaubt, ich wär besonders delikat, weil ich noch so viele Knochen habe." Was für morbide Themen ihre Gäste besprachen, wenn sie nicht da war.
„Haben die beiden dich etwa gekostet?", fragte sie nach. Ihr Beschützerinstinkt drängte sie dazu, sicherzugehen, dass niemand ihrer Gäste Kinder aß. Auch nur um eine Neugier zu stillen.
Boris schüttelte heftig seinen Kopf. „Ich hab gesagt, das will ich nicht und sie haben es respektiert."
Was für eine Erleichterung. Ab jetzt beschloss Siobhan sich nicht weiter einzumischen.
Mittlerweile standen sie im Zimmer und es war erschreckend kahl. Gerade mal eine Klapppritsche stand in der linken Ecke. Kein Fenster, keine Kommode. Nichts. Äußerst beunruhigend. Normalerweise richtete dieselbe Todesmagie, die für die Entstehung der Zimmer zuständig war, diese auch ein. Die Grundausstattung stimmte damit mit den Vorlieben des Gasts überein. Gänzlich einrichten konnten sie danach selbst, wenn sie wollten. Aber so karg hatte ein Zimmer noch nie ausgesehen. Als hätte der Schatten keinen Charakter. Was für ein Blödsinn! Eher, als wüsste er nicht, wer er ist und was er mag. Das muss ein wirklich verlorenes Leben sein ... Mitgefühl schwappte in Siobhans Brust über und zog bis in ihren Hals hinauf. Gerne hätte sie den Neuankömmling fest gedrückt. Stattdessen schob sie ihre Hemdsärmel hoch und stemmte die Hände in die Hüften. „Na, da kannst du dich ja voll austoben beim Gestalten und bis dahin hast du wirklich keinerlei Ablenkung hier."
Sie drehte sich um und hätte gleich wieder geschrien. Aber sie biss sich auf die Zunge. Die Maske schwebte direkt hinter ihr. Ohne Geräusch. Ohne Geruch. Ohne irgendeine Präsenz, dennoch war sie da. Ihr Herz stolperte und raste doppelt so schnell weiter.
„Wir lassen dir kurz Zeit hier in deinem Raum. Komm zu uns, wenn du weitergeführt werden willst. Wir warten draußen."
Mit diesen Worten scheuchte sie Boris vor sich her und schloss die Tür hinter ihnen beiden. Siobhan atmete ein paar Mal tief ein und aus. Zwar konnte sie nicht sterben, so oft erschreckt zu werden konnte dennoch nicht gut für ihr Herz sein.
„Warum sperrst du ihn ein? Will er mich doch essen?" Boris drückte sich an Siobhans Hosenbein.
„Ich sperr ihn doch nicht ein. Wie kommst du darauf?"
„Er will doch raus."
Boris zeigte zur Tür und erst jetzt hörte sie das Pochen. Als wäre jemand immer wieder gegen die Tür stoßen. Sie öffnete diese und die Maske schwebte durch. Die Schatten hüpften träge.
„Schon fertig?"
Wieder Stöhnen. Leise und abgehakt. Am Ende ging das Stöhnen einen Ton höher. Imitierte das Wesen ihre Frage? Oder bildete sie sich schon etwas ein, weil sie nicht wusste, wie sie mit ihm kommunizieren sollte? Siobhan zuckte die Schultern. „Na gut, dann zeige ich dir den Rest."
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