5/ Grayson Curtis by JumpingLady

[ Bei Erinnerungen geht es nicht nur um die Vergangenheit. Sie bestimmen auch unsere Zukunft. Du kannst Dinge verbessern oder du kannst Dinge verändern ]

Graysons Sicht

Immer wieder schweifen meine Gedanken zu dem gestrigen Abend, während ich der laufenden Prüfung zuschaue. Mein Blick fliegt suchend über die Zuschauer,  findet weder Halt an den Reiterpaar, den bunt gekleideten Menschen oder den imposanten Sprüngen. Zunehmend nagen sich meine innersten Gedanken an Dinge fest, die mir noch gestern unwichtig vorkamen.

"Grayson" eine Stimme holt mich aus meinem Gedanken, mein Blick fällt auf Hannah und den großen Wallach, automatisch setzt sich ein Lächeln auf meine Lippen. Wie vor jedem ihrer Ritte lege ich meine Hand auf ihr Knie, streiche mit meinem Daumen über den rauen Stoff ihrer Hose, mein Blick ist noch immer ins Leere gerichtet. Ich merke wie ohne mein Zutun meine Hand von Hannahs Knie gleitet, ich hebe meinen Kopf, sie schaut in meine Richtung während sie in den Parcours reitet, lächelt mir zu, automatisch lächele ich zurück.

Ich bekomme gar nicht richtig mit wie Hannah und ihr Pferd wieder aus dem Parcours kommen, ohne mich zu beachten reitet sie an mir vorbei. Eigentlich sollte ich mit ihr mitgehen, jedoch tragen mich meine Beine zu den Stallzelten. 

Am Eingang bleibe ich abrupt stehen, Logan steht lachend mit Josephine neben einem meiner Pferde. Sie lachen herzlich, bemerken mich nicht wie ich am Rand des Stallzeltes stehe und sie beobachte, ich lehne mich gegen eine Box eines fremden Pferdes. Das Heu im Heunetz pikt in meinem Nacken, der warme Geruch von Pferd und Leder strömt mir in die Nase. Ich vergrabe meine Hände in meinen Hosentaschen, richte meinen Blick auf Logan, Josephine und das Pferd.

Ich merke gar nicht wie lang ich sie beim Reden und Lachen beobachte, ich starre sie monoton an, wende meinen Blick nicht für eine Sekunde von Ihnen.
Der hochgewachsene, schlaksige Logan verwandelt sich vor meinem inneren Auge plötzlich in einen kleinen Jungen, einen Jungen der meinem Ich vor sechs Jahren erschreckend ähnlich sieht. Das Pferd ist nicht länger 1,67 cm groß, sondern klein, zottelig und pummelig. Josephine verwandelt sich in ein kleines Mädchen, mit zarten Zügen, rosa Klamotten und einem herzhaften Lachen. Wir sind nicht länger in dem Stallzelt in Detter, eine große Wiese umgibt uns, die Umgebung erinnert mich an unser altes zu Hause. Ich drehe mich um meine eigene Achse und tatsächlich liegt hinter mir nicht die Wand der Box sondern ein großes Haus, eingebettet in das dichte Blätterwerk vieler Bäume. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, mein Blick richtet sich wieder auf den Jungen und das kleine Mädchen. Vorsichtig gehe ich ein paar Schritte auf sie zu. Je näher ich der Szenerie komme, desto bekannter kommt sie mir vor. Der kleine Junge, der eben noch Logan war, dieser Junge das bin ich und das Mädchen das eben noch Josephine war ist meine Freundin aus meinen Kindheitstagen. Wieder lächele ich, wie schön es ist das auf einmal diese Erinnerungen wieder kommen.
Mein Lachen wird immer lauter, lange habe ich mich nicht mehr so unbeschwert gefühlt, so kindlich, so leicht. Ich komme mir schon vor wie ein neuer Mensch in einer alten Erinnerung. Lachend klopfe ich dem kleinen Grayson auf die Schulter. Wenn er nur wissen könnte, das er alles erreichen wird was er sich zu dieser Zeit vorgenommen hat. Wenn er wissen würde, das er schon bald jedes Springen gewinnen wird, ja wenn der kleine Grayson das vor Jahren schon gewusst hätte, wäre er vielleicht schon damals stolz auf sich gewesen. Ich wuschele dem kleinen Jungen durch die Haare "Grayson" grob werde ich zurück geschupst, entrüstet schaut Logan mich an. Erschrocken erwidere ich seinen Blick, nehme sofort meine Hand aus seinen Haaren. Hektisch schaue ich zu der Box, bei der ich dachte das ich dort stehen würde. Mein Blick fällt auf Josephine, die mich mit leicht geröteten Wangen anschaut. "Oh" mache ich, schaue die beiden an und drehe mich auf dem Absatz um. Mit schnellen Schritten will ich der peinlichen Situation entfliehen "Grayson" Logan räuspert sich, ich halte in meinen Schritten inne und drehe mich wieder zu Ihnen um. "Ja?" Ich runzele verlegen die Stirn und fahre mir zögernd durch die Haare. Kann das alles noch peinlicher werden? "Müssen wir uns Sorgen machen?"
"Nein" sage ich lachend, laufe zu dem Pferd und klopfe ihm den Hals "nein überhaupt nicht, mir geht es bestens" sage ich mit gespielt fröhlicher und aufgesetzter guter Laune.
"Sehr gut, dann bist du ja in der Verfassung den Rest hier selbst zu erledigen" Logan zeigt auf das Pferd und die halb eingeflochtene Mähne. "Eh" ich bekomme weder ein Wort noch einen gescheiten Satz aus dem Mund.
"Phine leistet dir die beste Gesellschaft" er grinst das Mädchen verschwörerisch an, drückt mir die Gummis in die Hand und ist verschwunden.

Vorsichtig schaue ich zwischen ihr und dem Pferd hin und her, was muss sie bloß von mir denken? "Was war das eben?" Fragt sie mich nachdem wir uns gut zwei Minuten angeschwiegen haben.
" ja, das kann ich dir jetzt leider nicht erklären" sage ich schnell "das muss wieder so eine Laune von mir gewesen sein" lache ich weiter.
"Reitest du später noch?" Fragend schaut Josephine mich an. Ich erwidere ihren Blick, schlagartig fällt mir wieder ein das ich sie gestern auf die Wange geküsst hatte und schlagartig wird mir wieder bewusst das dieser Kuss es auch war der mich verrückt spielen lässt. "Ja" sage ich schnell um sie nicht länger ohne Antwort da stehen zu lassen. Ich mustere das Mädchen vor mir, was hat sie an sich, dass mich so aus der Fassung bringt? Mein Blick verfängt sich in ihren langen glatten Haaren, sie hat etwas vertrautes und familiäres an sich, etwas das mich entspannen lässt.
"Du bist komisch heute" sagt sie leise und tritt einen Schritt näher zu meinem Pferd.
"Heute? Wie bin ich denn sonst?" Grinsend mustere ich sie.
"Anders eben" ihre schlichte Antwort stellt mich jedoch nicht zufrieden. Sie fängt an mit ihren langen Haaren zu spielen, sachte wiege ich die Mähnengummis in meinen Händen hin und her. "Besser anders?" Frage ich und ihre Wangen röten sich wieder.
"Vielleicht" lacht sie.
"Nur vielleicht? Oww ich hätte mehr erwartet" ich mache ein paar Schritte auf sie zu, der Abstand zwischen uns verringert sich. "Vielleicht weniger arrogant als sonst" mit hochrotem Wangen und schüchternen Blick treffen unsere Blicke aufeinander.
"Halb so arrogant macht doppelt so sympathisch" sage ich leise, damit nur sie es hören kann.

Wie aus dem nichts wird mir schwindelig, Josephines Geruch steigt mir in die Nase, der zarte weibliche und rosige Duft lässt das Bild vor meinen Augen verschwimmen. Mit einer Hand suche ich Halt an dem Rücken des Pferdes. Schallendes Kinder Gelächter hallt durch meine Ohren. Schnell schaue ich mich um, keine Kinder, kein Lachen, nichts das die Geräusche in meinen Gedanken erklären könnte. Verwirrt schaut Josephine mich an, ich kann sehen wie sie mit ihren Lippen meinen Namen formt. Das Bild vor meinen Augen fängt an zu flackern, wird unscharf und macht anderen Bilder platz. Erneut verschwimmt das Stallzelt vor meinem inneren Auge, erneut nagt sich eine alte Erinnerung an mein Hirn fest. Mir wird immer schwindeliger, mit einer Hand greife ich mir an meinen Kopf. Gut zehn Meter vor mir sehe ich zwei Kinder stehen, ein Mädchen ist mit dem Rücken zu mir gewandt, sie schlingt ihre Arme um einen Jungen. Die Arme des Jungen umfassen die Taille des kleinen Mädchens, ohne den Jungen näher zu sehen weiß ich, das ich es bin der dort eine alte Freundin umarmt. Der Junge hebt den Blick, unsere Augen treffen sich, ich schaue meinem eigenen Ich entgegen, schaue ihm direkt in die Augen. Der kleine Grayson zwinkert mir frech zu ehe er das Mädchen von sich schiebt und davonläuft.
Das Mädchen löst sich in Luft auf, der Junge läuft immer weiter und weiter. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, mein Blut zirkuliert in Höchstgeschwindigkeit durch meinen Körper, ich spüre die Hitze, meine vibrierenden Knie werden immer weicher. Mit erschrockenen aufgerissenen Augen schaue ich zu Josephine. Verwirrt schaut sie mich an, wieder formen ihre Lippen meinen Namen, jedoch kann ich nichts sagen, ich bringe kein Wort über die Lippen. Ich schaue zu der Stelle zurück an der sich eben noch eine längst vergessen geglaubte Erinnerung abspielte.
Je länger ich darüber nachdenke desto klarer wird die Erinnerung in meinem Kopf. Es war der Tag an dem ich mich zwangsläufig von meiner Jugendfreundin verabschieden musste, dem Mädchen mit dem ich einst alle Geheimnisse geteilt hatte, dem Mädchen das mir einst immer zuhörte.

Erinnerungen sind bedeutsam, Erinnerungen machen uns aus und Erinnerungen können unsere Zukunft bestimmen, sie bestimmen wie wir unser Leben weiter gestalten. Ich hole tief Luft, atme ein und aus. Für einen Moment schließe ich meine Augen, kann es wirklich sein, dass man sich zweimal im Leben sieht? Das eine Beziehung zwischen zwei Menschen, wie unbedeutend sie auch sein mag, eine zweite Chance bekommt? Steht das Mädchen aus meinen Erinnerungen gerade unmittelbar neben mir? Ist sie das Mädchen das ich damals verlassen hatte, weil ich es musste?

Mein Blick ist starr nach vorn gerichtet, wenn sie es wirklich ist, wenn sie meine Phine von früher ist, weiß sie das ich ihr Grayson bin? Oder spielt mein eigener Verstand mir einen Streich und das ganze hängt gar nicht zusammen?
Mit schnellen Schritten laufe ich aus dem Stallzelt, flüchte weil ich das schon immer getan habe, entfliehe einer unangenehmen Situation, weil es das einfachste ist.
Immer wieder gehe ich meine Gedanken durch.

Sie kann es nicht sein.
Sie ist es nicht.
Ich bin verrückt, gestern habe ich eindeutig zu viel getrunken.
Sie ist nicht die Phine die ich kenne, oder einmal gekannt habe.
Das Mädchen, das im Stallzelt steht ist lediglich eine Fremde und ich kurz vorm durchdrehen.
Sie kann es nicht sein, sie ist es nicht, ich sah sie vor Jahren das letzte mal, das letzte mal.

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