Harzig-Zitronig

Die Nacht war lang und nachdem wir noch ein wenig getanzt und uns amüsiert hatten, brachte uns Floyd wohlbehalten zurück nach Paris ins Hotel. Meinen geheimnisvollen Begleiter Alpha haben wir nicht mehr gesehen und ich war dankbar für seine Abwesenheit. Mit einem wildfremden Mann anderen beim Ausleben ihrer sexuellen Leidenschaften zuzuschauen war grenzwertig, schmutzig und doch auf irritierende Weise erregend. Es beschämte mich, dem Paar offenherzig ihrer Intimität beigewohnt zu haben, denn ich kann es mir umgekehrt unter keinen Umständen vorstellen, beim Sex beobachtet zu werden. Auch wenn der Abend mit meiner Flashback-Attacke einen herben Dämpfer erlitten hatte, ist mir eines bewusst geworden: Ich bin noch lange nicht wieder soweit, Candy Moon als männerverschlingende Femme fatale auferstehen zu lassen.
Unser Parisaufenthalt führte uns selbstverständlich auch in den Louvre, wo ich in den Genuss von Helens Kunstexpertise kam und mich durch die unzähligen riesigen Ausstellungsräume von ihr führen ließ. Die Ruhe in den Sälen tat mir gut und ich schwelgte in der Opulenz vergangener Epochen.
»Wusstest du, das Maler wie Michelangelo, Caravaggio oder Rembrandt sich sehr auf die körperlichen Freuden fixierten, um ihren Darstellungen mehr Tiefe einzuhauchen.«
Erstaunt schnaube ich auf. »Sie haben mit ihren Modellen gevögelt? War ja klar, dass das nicht nur des reinen Kunstinteresses immer die schönsten Weiber waren.«
»Und sie kamen dadurch immer in Versuchung. Wenn du so willst, waren es die ersten bestellten Sex-Treffen der Geschichte«, kicherte Helen munter vor sich hin.
»Kann es sein, dass du da sehr viel rein interpretierst.«
»Na so würde ich es machen, wenn ich mich auf Realismus und nicht auf Pop-Art und zeitgenössische Kunst fokussiert hätte, um die strammen Körper williger Modelle auf Leinwand festhalten wollte«, grinst sie mich frech an.
»Also Henk und Sam wären begeistert, wenn sie für dich Modell stehen könnten«, necke ich sie und erhalte einen Klaps auf den Oberarm. So sind wir mal wieder beim Thema Sex angekommen. Um mich herum scheinen alle in Beziehungen, Partnerschaften oder andersartigen Verbindungen zu stecken, nur ich irre in meiner Seifenblase mutterseelen allein herum. Selbst Floyd ist mit seiner Kate im siebten Himmel und seit – ja seit wann eigentlich?
Nachdenklich folge ich Helen in den nächsten Raum, in dem eine Schulklasse um einen großen Tapeziertisch steht und ein adretter junger Mann, wahrscheinlich Kunststudent, den Kids zeigt, wie Farbpigmente angerührt und zu einer bunten Paste verarbeitet werden. Leinöl und der harzig-würzige mit einer leichten Zitronennote versehene Terpentin Geruch versetzt mich augenblicklich zurück in das Atelier meiner Mutter. Eine blasse warme Erinnerung keimt in mir auf, als ich die lachenden Kinderstimmen wahrnehme.

»Gut vermischen, June. Sonst deckt die Farbe nicht.« Goldenes Licht fällt durch die hohen Sprossenfenster und ich habe den Pinsel mit zinnoberroter Farbe in der Hand. »Sehr gut machst du das. Und jetzt den Pinsel gut auswaschen.«

Die leichte Berührung an meinem Arm schreckt mich auf. »Alles in Ordnung, June?« Helen beäugt mich kritisch und ich schüttle die Erinnerung ab.
»Ja, äh, klar. Ich hatte nur ... Sag mal, seit wann ist Floyd mit Kate zusammen?«
Ein Schatten huscht über ihr hübsches Gesicht und für einen Moment scheint sie verwirrt, fängt sich aber sofort wieder. »Oh, ja, das ist eine, äh, gute Frage. Ich glaube, das war ...« Sonst ist sie die Königin der Termine und Daten nur jetzt scheint es, als wolle sie es nicht laut aussprechen.
»Komm schon, du bist mein Joker in Sachen Zahlen, Daten, Fakten«, maule ich sie an, denn ich habe tatsächlich nicht den leisesten Schimmer, wie das mit Kate und Floyd passieren konnte.
»Puh ich bin wirklich überfragt. Ich meine, das wäre schon ewig her. Aber wenn du willst, fragen wir ihn nachher.« Nervös schlägt sie die Augen nieder. »Wollen wir einen Abstecher auf die Champs-Élysées machen. Ich muss unbedingt diese sündhaften Aveline 100 von Jimmy Choo haben.«
Erstaunt starre ich sie an. Normalerweise ist sie aus Kunstausstellungen nur mit der Aussicht auf einen sexy Kerl oder einem Peacan-Karamell-Brownie zu bekommen. Das hier ist neu. »Ok, aber ...«
»Komm schon, Vamp. Die haben nicht ewig auf. Lass uns abhauen.« Helen zerrt mich untypisch für sie zum Ausgang und wir stehen schon vor der Tür, als sie nochmal hineinläuft und die Waschräume aufsucht. Es wird langsam kühl und ich vergrabe die Hände in den Manteltaschen, während ich auf Floyd und Helen warte. In zwei Tagen geht es zurück nach London und in 3 Wochen sind wir dann in Mailand auf der nächsten Party der Zwillinge. Ich muss mit Dr. Harrington sprechen und einen Weg finden, wie ich schneller die dämlichen Gedächtnislücken schließen kann. Das nervt langsam tierisch.
»So, kann los gehen«, zwitschert Helen neben mir und krabbelt vor mir in den Fond der Limousine. Floyd steht an der Tür und sieht mich nachdenklich an.
»Zum Shopping bitte. Helen hat eine Verabredung mit Jimmy Choo«, schmunzle ich, um die merkwürdige Stimmung der beiden aufzuheitern. Helen plaudert über die Zwillinge und ihre Partyreihe, erzählt von einer neuen Vernissage, die sie plant, und schon sind wir auf der Shoppingmeile angekommen. Wir rauschen in den Laden und nehmen zwei Verkäuferinnen, die sichtlich Spaß an uns finden, in Beschlag um eine Stunde später mit drei Tüten zum Auto zu stolzieren. Ein hoch auf das Kreditkartenwesen.


Im Hotel halte ich Floyd dann doch auf und frage ihn nach seiner Kate. Bei meiner Frage blickt er mich ohne jedwede Regung an.
»Sie wissen doch, ich habe sie im Krankenhaus kennen gelernt.«
Verwirrt starre ich ihn an. »Du warst im Krankenhaus?« Mir wird ganz mulmig zu Mute, denn ich habe beim besten Willen keine Ahnung, wovon er redet.
»Da war doch dieser Kerl, der Sie gestalkt hat. Irgendwann ist er ausgerastet und wollte auf Sie schießen, na ja und ich bin dazwischen gegangen.«
Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken runter, da ich nichts zu dieser Ungeheuerlichkeit in meinem verkorksten Hirn finden kann. »Aber wie – ich weiß nicht ...«
»Setzen Sie sich. Bitte Ma'am«, fordert er mich sanft auf und ich falle schockiert auf einen der Sessel. »Ihnen ist nichts passiert und ich habe nur eine Narbe mehr davon getragen. Gehört zum Job, wissen Sie noch«, zwinkert er mir zu und ich seufze zittrig auf.
»Warum kann ich mich an so etwas Dramatisches denn nicht erinnern?« Kopfschüttelnd sehe ich zu ihm auf. Floyd kniet sich vor mich hin und nimmt meine Hände in seine.
»Ist schon gut. Es wird Ihnen wieder einfallen. Es braucht nur Zeit. Und um Ihre Eingangsfrage zu beantworten: Schwester Kate war Ihre Idee. Sie haben alles dran gesetzt, dass ich sie an mich heranlasse und sie haben mir in den Hintern getreten, dass ich es nicht vermassele. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar, Ma'am.«
Mit großen Augen mustere ich ihn. Seine Augen leuchten, sobald er von Kate spricht und seine sonst verschlossenen Gesichtszüge werden weicher, was ihn wahnsinnig sexy macht.

Reiß dich zusammen, es ist dein Bodyguard!

»Aber deine Verletzung. Bist du – ich meine, ist alles gut gegangen?«
»Keine Sorge. Es ist nichts kaputt gegangen und der Heilungsprozess ist optimal verlaufen. Dank Ihrer großzügigen Fürsorge bin ich schnell wieder auf den Beinen gewesen. Und meinen Bonus in Form von Schwester Kate war es alle Male wert.«
»Ja also das ist – ich bin sprachlos. Es freut mich sehr für dich, Floyd«, antworte ich lahm, denn offenbar habe ich ihm zu einer ernsthaften Beziehung verholfen. Dabei bin ich überhaupt nicht die Liebesberaterin und schon gar nicht in Sachen »Wir-Sind-ein-Paar-Themen«. Er nickt mir kurz zu und lässt mich dann allein. Wie konnte mir das entfallen? Verworrene Bilder wabern undeutlich vor meinem geistigen Auge herum, und der typische antiseptische Krankenhaus Geruch hängt mir in der Nase. Düstere Gestalten, flackerndes Licht, weiße Kittel und das bleiche Gesicht von Floyd ziehen vorbei. Ich schließe die Augen, und stehe neben dem Krankenbett, in dem Floyd liegt. Ich erinnere mich an die Pfleger, die ich zusammen gestaucht habe, damit sie ihm mehr Schmerzmittel geben. Und ich sehe die hübsche Kate mit ihren braunen Rehaugen vor mir, wie sie lachend die Kissen aufklopft, um es Floyd bequem zu machen. Eine friedvolle Minute genieße ich die wiedergewonnene Erinnerung.

Gott sei Dank! Ein Puzzleteil gefunden.

* * *

Praxis Dr. Harrington

Beflügelt von der wiedergewonnenen Erinnerung konnte ich nach unserer Rückkehr nach London den nächsten Termin bei Dr. Harrington kaum erwarten. Vielleicht funktionierte das Reaktivieren mittels einer Technik wie Hypnose oder so ja schneller. Mit dem festen Entschluss, meinem spröden Gedächtnis zügiger auf die Sprünge zu helfen, stiefelte ich an einem sonnigen Herbstnachmittag zu meiner Sitzung.
»June, schön Sie zu sehen. Wie war Ihr Ausflug in Paris?«, eröffnete Dr. Harrington das Gespräch und augenblicklich schossen mir die peinlichen Vorfälle meiner kläglichen Candy Moon Show ins Hirn.
»Tja, es war ... schräg.«
Sie musterte mich fragend und ich räusperte mich, um etwas Zeit zu schinden und mir eine passable Erklärung für die wenig spektakuläre Abstellkammer-Situation und den missratenen Abgang auf dem Chateaux zurecht zulegen. Da es für solche Blamagen keine charmante Umschreibung gibt, seufzte ich tief und ergab mich dem Unausweichlichen. »Gelinde gesagt war es eine Katastrophe. Eine Farce, ein Desaster.«
Dr. Harrington sagt nichts dazu, sondern gibt mir Raum, meinen Frust in passende Worte zu fassen.
»Wir wollten Spaß haben. Candy Moon sollte auferstehen. Ich hatte alles genau geplant und die Partys waren – sie waren spektakulär, aber es war ...« Ich schloss verärgert die Augen, denn über das vermasselte Stelldichein mit Gavin in der Abstellkammer zu sprechen war schwerer als gedacht. Candy war nie um ein amouröses Abenteuer verlegen und hatte die Kerle reihenweise um den Verstand gebracht. In Paris allerdings war es, als hätte ich eine moralpredigende Jungfrau neben mir herlaufen gehabt, die mir jeglichen Spaß ordentlich versaute.
»Vielleicht hat sie der Typ Mann nicht angesprochen«, hakt sie nach und sieht mich eindringlich an.

Tja, wenn ich nach den nervigen Visionen gehe, scheint das eine plausible Erklärung.
Verflucht, das ist doch irre!
Es gibt keinen Typ, den Candy Moon hat, nur ein gewisses Schema, wie gut trainierte harte Jungs.

»Er war sehr wohl was für Candy. Und anfangs war er – es war heiß. Und das Bedürfnis nach Körperkontakt war ... Also es war zwanghaft.« Meine Wangen glühen bei dem Bekenntnis, obwohl Candy über ihre One-Night-Stands immer offen gesprochen, ja fast schon geprahlt hat. Jetzt ist es wie ein Tabu, das eine imaginäre moralische Grenze aufzeigt.
»Die körperliche Nähe und Geborgenheit, die Sie in Ihrer Kindheit verloren hatten, ist ein Grundbedürfnis und Sie sind auf der Suche danach. Durch den Unfall und Ihr langes Alleinsein bricht der Drang danach jetzt durch«, erklärt mir Dr. Harrington.
»Warum habe ich dem Typen dann wortwörtlich auf die Schuhe gekotzt. Das ist doch lächerlich«, stöhne ich gequält auf. »Es war, als hätte mir mein Verstand eine moralische Anstandsdame und nicht die sexy Candy Moon zur Seite gestellt. Und die dämliche Vision machte es nur noch schlimmer«
»Was genau haben Sie gesehen, als die Vision auftrat«, hakt sie nach.
Mit einem tiefen Atemzug lasse ich mich nach hinten auf die Liege sinken und schließe die Augen. Blau. Rhabarber, Minze, Menthol, Zitrone.
»In dem Fall nur Blau. Wie ein Nebel oder sowas. Nichts Konkretes aber es reichte aus, um mir den Magen umzudrehen, als der Kerl mich angefasst hat.« Beim Gedanken wird mir ganz schummrig zu Mute.
»Offenbar wurde durch die psychogene Amnesie Ihres Unfalls ein Teil Ihrer Persönlichkeit verdrängt. Den müssen wir wiederfinden, sonst können Sie daran nicht anknüpfen.«

Schöne Scheiße!
Wie bitte soll ich das denn anstellen?

Aufmunternd sieht mich Dr. Harrington an. »Gerüche sind ein guter Wegweiser für Erinnerungen. Ausnahmslos speichert unser Gehirn positive wie negative Erinnerungen über Gerüche ab. Sie erwähnten mal einen besonderen Duft, den Sie aber nicht zuordnen können.«
»Ja, der ist sehr präsent. Aber ich weiß echt nicht, woher ich diese Kombination kennen. Nur, dass er – sehr besonders ist.« Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts, denn sofort wird mir warm und die Flashlights an sehr erotische Bilder schießen mir durchs Hirn.
»Gut. Dann reagieren Sie positiv auf Düfte. Gehen Sie dem nach. Er ist mit einer sehr wichtigen Erinnerung gekoppelt. Das wird Ihnen helfen, sich nach und nach zu erinnern.«

Das läuft gerade gar nicht in die Richtung, die mir meine körperlichen Bedürfnisse befriedigt ...

»Und wie soll ich mich jetzt auf einen Kerl einlassen, wenn ich jedes mal einen Brechreiz bekomme, kurz bevor wir ...«
Lachend winkt Frau Doktor ab. »June, seien Sie nicht so streng mit sich. Sie haben sich direkt in eine ziemlich abnorme Situation gebracht, als Sie auf dem Chateaux waren. Solche Partys wühlen einen schon in gefestigtem Zustand ordentlich auf. Bei Ihnen hat es eine ganze Menge ausgelöst. Vielleicht gehen Sie zur Abwechslung mal nur mit einem Mann aus. Essen meine ich. Die körperliche Interaktion sollten Sie noch aufschieben, bis Sie stabil genug sind.«
Frustriert starre ich sie an. »Toll. Ist es nicht gesundheitsschädlich, über einen längeren Zeitraum keinen Sex zu haben?«, kontere ich bissig, da ich es ätzend finde, nicht das zu bekommen, was ich will.
»Wollen Sie erneut einem netten Kerl die Schuhe vollkotzen?«
Erschrocken über den direkten Tonfall meiner sonst so akkuraten Therapeutin glotze ich sie mit aufgerissenen Augen an. »Ähh, nein – das ... also ...«
»Dann befolgen Sie meinen Rat und üben sich in Geduld, June. Ihr Körper wird Ihnen sagen, wann es richtig ist.« Und damit entlässt sie mich schmunzelnd.


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