Kapitel 9

Gegenwart

Mal wieder war Bev allein.

Sie stolperte durch die Straßen, wie eine Betrunkene. Ihre Füße trugen sie immer schneller und schneller voran. So schnell, bis der Gehweg unter ihren Füßen zu grauen Mustern verfloss.

Sie hätte Schutz suchen sollen. Keiner aus dem Magnolienring wurde ihr folgen. Dafür hatten sie viel zu viel Angst. Die Phantagore dagegen... Bevs Schritte mussten sich für sie wie eine Einladung zum Mittagessen anhören.

Zitternd blickte sie sich um. Die Stadt lag wie ein Netz aus grauem Asphalt vor ihr. Erste Pflanzen hatten sich durch die Lücken zwischen Gehweg und Straße gekämpft und sprossen munter aus Rissen im Teer. Noch nie hatte Bev so viel Grün auf einmal in ihrem Zuhause gesehen. Irgendwie wirkte es beruhigend und friedlich. Als wolle es sie über die unsichtbare Bedrohung hinwegtäuschen.

Je weiter sie ging, desto mehr Veränderungen fielen ihr auf. Die meisten waren so klein, dass sie nicht sagen konnte, ob sie nicht doch schon davor dagewesen waren. Andere ließen sie fühlen, als wandere sie durch eine Geisterstadt.

Manche Fenster waren beschlagen, als habe jemand von der anderen Seite kräftig dagegen gehaucht. Andere waren ganz zerbrochen und Splitter knackten wie brechendes Eis unter ihren Schuhsohlen.

Noch nie hatte sie den Wind so deutlich wahrgenommen. Das leise Rauschen, das er verursachte, wenn er durch die Straßen strich. Als singe er ein einsames Lied.

Ein lautes Krächzen hallte von den Hauswänden wieder.

Bev zuckte zusammen und duckte sich hinter eine Mülltonne. Vor ihr flog ein schwarzer Schatten in den wolkenlosen Himmel. Eine Krähe, die etwas Silbernes im Schnabel hielt. Eine weitere wühlte in der zerbrochenen Auslage eines Schaufensters und pickte mit ihrem Schnabel nach etwas das wie Schaumstoff aussah. Dann erhob auch sie sich in die Lüfte und eine einzelne schwarze Feder trudelte genau vor Bev zu Boden. Wie in Zeitluppe griff sie danach.

Ihre Oma hatte Federn gesammelt. Für sie waren es Zeichen der Götter gewesen. Omen, die ihr Leben in eine gewisse Richtung lenkten. Bev hatte keine Ahnung, was eine schwarze Feder bedeutete, aber es ließ sie Augenblicklich an etwas Bedrohliche denken. Beinahe konnte sie die Gefahr auf ihrer Zunge schmecken. Jede Sekunde konnte sich ein Phantagor auf sie stürzen. Alles was sie zur Verteidigung hatte waren ihre bloßen Hände und Füße.

Sie ging weiter. Die Panik vor dem Magnolienring bebte langsam aber sicher ab. Rückte in den Hintergrund wie eine verschwommene Erinnerung aus ihrer Kindheit.

Statt in ihrer Angst zu ertrinken fokussierte sie sich auf all das, was sie hören konnte.
Die Phantagore verließen sich auf den Vorteil ihrer Unsichtbarkeit. Doch Bev konnte sie trotzdem ausfündig machen. Nahm das Geräusch ihres Atems wahr. Das gierige Hecheln, wenn sie ihr zu nahekamen.

Bev war lange genug auf den Straßen unterwegs gewesen, um zu begreifen, dass die Phantagore dem Geruch der Menschen folgten. Allerdings hielt sich ihre Geduld dabei in Grenzen. Juli und Emre hatten stets Angst davor verspürt ihren Unterschlupf zu verlassen. Sie waren auf Bev angewiesen gewesen. Darauf, dass sie ihnen sagte, ob die Luft rein war.
Dass die beiden den Phantagoren gegenüber genauso blind wie taub waren hatte Bev anfangs nicht groß erschreckt. Doch zu erfahren, dass sie der einzige Mensch war, der dazu fähig war, war eine ganz andere Nummer. Sie war die Einzige, die wahrnahm wie sie auf perfide Art und Weise die Stimmen ihrer Opfer nachahmten...
Es war der einzige Vorteil, den sie im Augenblick hatte. Sie hätte stumm direkt in eines der Monster hineinlaufen können. Ihr gutes Gehör bewahrte sie davon ins Verderben zu stürzen.

Sie lief weiter. Immer weiter. Ihre Beine brannten bereits vor Anstrengung und ihre Füße fühlten sich an, als sei sie über ein Nagelbrett gelaufen. Bev war es nicht mehr gewohnt so viel zu Gehen. Das lange Sitzen und umhertigern in ihrer Zelle hatte sie müde und schlapp gemacht.

Mit wachsender Verzweiflung sah sie sich nach einer Möglichkeit um, eine Pause zu machen. Das Erste was ihr auffiel war ein Einkaufszentrum am Ende der Straße. Erhaben, wie der Bug eines Schiffes, ragte der Eingang über den anderen Häusern auf. Doch die blinkenden Lichter, die für gewöhnlich Besucher willkommen hießen, waren längst erloschen. Die feinsäuberlich zurechtgestutzten Rosenranken hatten nicht mehr denselben Effekt wie früher. Wild wucherten sie über die Treppen, als versperrten sie den Eingang zu Dornröschens Schloss. Wie rote Farbkleckse stachen die Rosen hervor und tanzten als Lichtspiegelungen durch Bevs Blickfeld. Sie lauschte noch einen Moment in die Stille. Dann schob sie eine der verdreckten Glastüren auf und trat ins Innere.

Stickige Luft schlug ihr wie eine unsichtbare Wand entgegen. In der Mitte des Eingangsbereichs befand sich ein kaputter Springbrunnen, über dem mehrere Kristallleuchten wie diamantene Regentropfen von der Decke hingen.

Es war eines dieser teuren Einkaufscentren, in dem ein Mittagessen mehr kostete, als die Kleidung, die Bev am Körper trug. Es war ein Ort, den sie noch vor wenigen Monaten niemals betreten hätte. Ein Ort, an dem sie sich selbst jetzt, wo alles heruntergekommen und leer war, fehl am Platz fühlte. Als spiele sie plötzlich in einer anderen Liga.

Bev verlor keine weitere Zeit und steuerte eine der verstaubten Rolltreppen an. Im ersten Stock war es dunkel. Dunkler, als sie angenommen hatte, doch den Weg zur Toilette fand sie trotzdem. Erleichtert stellte sie ihren Rucksack auf dem Boden ab und lehnte sich erschöpft gegen einen der Spiegel. Für einen Moment schloss sie die Augen und lauschte dem lauten Wummern ihres Herzens. Beruhig dich, sprach sie sich in Gedanken gut zu. Du bist in Sicherheit. Gleichzeitig fragte sie sich, ob sie jemals wieder so etwas wie Geborgenheit fühlen wurde. Die Welt um sie herum lag in unsichtbaren Trümmern. Zerfiel von Tag zu Tag mehr. Und all die übrig gebliebenen Menschen, die sie kannte, waren zu einer Sekte zusammengewachsen. Wie soll ich jemals wieder jemandem vertrauen? Und machte so etwas wie Vertrauen überhaupt noch Sinn, wenn man überleben wollte?

Langsam öffnete sie die Augen und warf sich im Spiegel einen traurigen Blick zu. Beinahe erkannte sie sich selbst nicht wieder.

Ihr Gesicht war blass und eingefallen. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Das lange, braune Haar war fettig und verfilzt. Wann hatte sie es das letzte Mal gewaschen und gekämmt?

Im Magnolienring hatte sie kaum Zeit gehabt sich mit Hygiene auseinanderzusetzen. Dort war es schon eine unglaubliche Güte gewesen, wenn sich die Mitglieder dazu bereit erklärt hatten ihr eine Haarbürste zu leihen.

Bev kniete sich hin und durchwühlte ihren Rucksack. Viel war es nicht, ganz so, wie Juli gesagt hatte. Neben einer Wasserflasche fand sie nur eine Packung Chips und zwei Schokoriegel. Suchend tastete ihre Hand über den Boden der Tasche bis sie etwas kaltes, metallenes zu fassen bekam.

Eine Schere.

Genau das, was sie jetzt brauchte.

Bev griff sich eine ihrer verfilzten Haarsträhnen und begann zu schneiden. Dabei ignorierte sie das dumpfe Gefühl in ihrer Brust: Ihr früheres Selbst, dass sie davon abhalten wollte noch mehr abzuschneiden.

Seit sie denken konnte, waren ihre Haare etwas gewesen hinter dem sie sich verstecken konnte. Etwas, das ihr Halt und Schutz bot, wann immer die Welt um sie herum zu laut und zu wütend wurde. Wenn Spott oder Gelächter drohte sie zu Fall zu bringen. Ihre Haare waren wie unsichtbare Fäden, die sie gehalten hatten. Als hinge all ihr Selbstbewusstsein an ihnen. Sie jetzt abzuschneiden fühlte sich wie ein Verrat an ihr selbst an. Als würde sie ihre Deckung aufgeben. Manchmal muss man loslassen.

Mit verkniffenem Mund machte sie weiter, bis um sie herum der Boden mit Haarsträhnen bedeckt war. Schulterlang und zerzaust hing ihr der Rest ihrer Haarmähne ins Gesicht.

Sie drehte den Wasserhahn auf. Er begann zu gurgeln und zu gluckern. Es hätte sie nicht überrascht wäre es das gewesen. Gerade, als sie schon aufgeben wollte sprudelte endlich etwas Wasser daraus hervor. Ohne abzuwarten steckte sie ihren Kopf darunter und fuhr mit den Fingern durch ihre kurzen Strähnen. Als sie aufsah und sich die Tropfen aus den Haaren schüttelte hatten ihre Wangen endlich wieder etwas Farbe angenommen.

Das musste für erste reichen.

Sie schulterte ihren Rucksack und verließ die Toilette um den Supermarkt gegenüber zu plündern. Alles was ihr nützlich erschien verschwand in ihrer Tasche. Es wunderte sie selbst nicht, dass sie als allererstes, Zahnpasta aus einem der Regale nahm. Gerade, als sie nach einer weiteren Konservendose greifen wollte raschelte es hinter ihr.

Wie erstarrt hielt Bev inne.

Kalte Wassertropfen liefen ihren Nacken hinab. Wie eine stumme Erinnerung daran immer wachsam zu bleiben.

Ein Hecheln drang an ihre Ohren.

Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag: Da war ein Phantagor. Und es befand sich im selben Gang wie sie.

Vorsichtig trat Bev einen Schritt zurück. Vielleicht war es nur zufällig hier. Vielleicht hatte es sie noch gar nicht bemerkt.

Lautlos wich sie weiter zurück. Setzte ihre Füße so vorsichtig wie möglich auf, dankbar für den Staub der jedes Geräusch zu dämpfen schien. Hier, im Supermarkt, gab es bestimmt viele Gerüche. Vieles, was die Kreatur ablenken wurde. Wahrscheinlich war sie nur durch Zufall hier. Langweilte sich, weil sich die Menschen so gut vor ihr versteckten. Es rechnete gar nicht damit ausgerechnet hier auf jemanden zu stoßen. So schlau war es nicht. So schlau dürfte es nicht sein!

Da hörte Bev wie es die Luft einzog und zu Schnüffeln begann. Sie wusste es war zu spät. Wenn es bisher nichts von ihrer Anwesenheit bemerkt hatte, dann spätestens jetzt.

Sie wirbelte auf dem Absatz herum und ergriff die Flucht.

Das Phantagor setzte ihr nach. Seine Klauen kratzten über den glattgeschliffenen Boden. Unsichtbare Augen bohrten sich in ihren Rücken. Es war so nah. Sein Hunger trieb es an, während ihre Beine vor Anstrengung zitterten.

Bev schlug einen Haken und stürmte in die andere Richtung davon. Tiefer in die Dunkelheit des Einkaufszentrums. Sie musste es irgendwie abschütteln.

Sie bog scharf ab und rannte durch einen mit Schließfächern bepflasterten Gang. Das spärliche Licht war schuld daran, dass sie erst im letzten Moment erkannte, dass es sich um eine Sackgasse handelte.

Bev saß in der Falle.

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Eine kurze Frage an euch: Wie glaubt ihr sehen die Phantagore aus?

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