Kapitel 7

Gegenwart

Für einen Moment war er still. Sein intensiver Blick ruhte auf ihr, auch wenn der Ärger zum Großteil daraus verschwunden war. Dann lehnte er sich ebenfalls vor und Bev wich zurück, als sein warmer Atem auf ihre Wange traf.

„Ich weiß nicht, was du beim ersten Mal nicht richtig verstanden hast, aber ich habe kein Interesse daran wegen einer Frau in Schwierigkeiten zu geraten."

Ohne ein weiteres Wort ging er zurück in seine Ecke und lehnte den Hinterkopf gegen die Wand. Bev rutschte an dem Gitter zu Boden. Sie fühlte sich leer und taub. Die Endgültigkeit, mit der er ihr zu verstehen gegeben hatte, dass es keinen Ausweg gab, trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie hatte doch nur frei sein wollen! Doch es schien, als sei sie dazu verdammt in dieser Höhle vor sich hinzurotten, bis der Geier entschied, dass sie es nicht wert war weiter durchgefüttert zu werden. Der Tod befand sich so dicht vor ihrer Zellentür, dass sie nicht wusste, ob sie ihn einfach willkommen heißen sollte.

***

Am nächsten Morgen, als sie ihre vom Schlaf verklebten Augen öffnete, war der Raum leer. Der Fremde war fort.
Wahrscheinlich war er weiter gezogen auf der Suche nach seinem eigenen Glück. Sie wünschte, er hätte sie mitgenommen. Hätte ihr eine Chance geben.

Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als der Geier, flankiert von zwei Männer auf sie zukam. Ihr ernster Aufmarsch hatte etwas Beunruhigendes an sich. Allein die Tatsache, dass sie zu dritt waren...
War heute der Tag? Der Tag, an dem ihr Leben ein tragisches Ende nahm.

***

Sie brachten Bev mehrere kleine Treppen nach oben bis ins Erdgeschoss. Überall liefen Mitglieder des Rings umher und gingen ihren Aufgaben nach. Manche von ihnen hielten kurz inne, um sie mit furchtsamen Blicken zu mustern. Auch wenn Bev fast niemanden von ihnen persönlich kannte, wusste doch jedes einzelne Mitglied wer sie war. Die Gezeichnete. Oder besser gesagt: Die Gezeichnete, die einfach nicht starb.

Weder hatte der Biss sie dahingerafft noch ein Monster aus ihr gemacht. Bev war eine Rarität. Etwas das dem Magnolienring zu wider war. Der Ring selbst wäre an sich (und ohne den Geier) gar nicht so schlecht. Er befand sich in einem alten Regierungsgebäude mit schweren Eichenholztüren, gläsernen Kronleuchtern und einem von Generationen zerkratzten Marmorboden. Es gab vier Stockwerke und in die steinernen Wände waren Bilder von kämpfenden Göttern gehauen worden, die irgendwann sicherlich einmal imposant gewirkt hatten. Inzwischen erinnerten sie nur noch an leicht verformten Stein. Als habe jemand die Gesichter der Helden mit Salz eingerieben oder sich irgendeine andere Methode ausgedacht um den Stein bis zur Unkenntlichkeit zu verschandeln. Vielleicht war es ja der Magnolienring selbst gewesen. Vermutlich passte irgendetwas daran nicht in ihr Anschauungsbild.

Oben angekommen wurde Bev in einen der Gerichtssäle geführt. Die Wände waren kalt und leer und vor ihr befand sich eine Empore mit Sprecherpult.
Steif setzte sie sich auf den ihr zugewiesenen Stuhl in der Mitte des Raums. Um sie herum befanden sich Bänke und auch wenn noch niemand darauf saß, hatte sie das Gefühl von allen Ecken aus angestarrt zu werden. Doch bevor sie richtig begriff was geschah, zogen die Männer die schwere Eichenholztür zu und Bev war allein. Wie in ihrer Zelle, nur das sie von hier aus wenigstens aus dem Fenster schauen konnte und einen Blick auf ein Stück strahlend blauen Himmels erhaschte. Ohne zu zögern stand sie auf und ging zu einem der Fenster um es zu öffnen.

Nichts tat sich. Sie waren allesamt verschlossen. Als habe jemand ihre wahnwitzige Idee nach draußen zu klettern hervorgesehen.

Bev blickte nach unten, auf die verlassenen Straßen. Beinahe friedlich lagen sie vor ihr. Sie wirkten nicht ansatzweise gefährlich.

Der Abstand ließ alles weniger bedeutend erscheinen.

Es erinnerte sie an das Feuer, das ihr einst ihr zu Hause geraubt hatte. An die Angst in ihrem Herzen aber auch die Entschlossenheit nicht in Flammen aufzugehen. Das Gefühl mehr wert zu sein, als ihre Umstände es ihr versprachen. Damals hatte sie gekämpft und geschrien. Um sich geschlagen wie eine Wilde. Von außen hatte es bestimmt wie die Straße unter ihr ausgesehen: unspektakulär und harmlos, solange man den Abstand wahrte. Nur manchmal konnte man keinen Abstand halten und manchmal sollte man das auch gar nicht. Bev mochte hilflos sein, doch selbst jetzt hatte sie eine Wahl.

Sie konnte das Fenster einschlagen und irgendwie versuchen nach unten zu klettern. Die mit Fresken verzierte Außenwand bot ihr sogar den Hauch einer Chance es weit genug nach unten zu schaffen, ohne sich alle Knochen zu brechen. Vorausgesetzt sie konnte die Kraft aufbringen sich mit ihrem geschwächten Körper lange genug festzuhalten. Kurzum: Bev hatte sich dazu entschieden auf ihr Todesurteil zu warten. Denn genau das würde der Geier aussprechen. Sie sah es schon vor ihrem geistigen Auge: wie sie Bev Exekutierten und ihren leblosen Körper auf die Straße warfen, um die Phantagore „milde" zu stimmen.

In Bevs Rücken wurde die Tür geöffnet und ein vertrautes Gesicht mit strähnigen blonden Haaren und großen grauen Augen stand plötzlich vor ihr. Juli schlang die Arme um Bevs Oberkörper, als habe sie vor ihre Freundin zu erdrücken.

„Es tut mir leid", flüsterte sie in Bevs Nacken. „Es tut mir so leid!" Dann löste sie ihre Arme und trat einen Schritt zurück. Ihre Augen glitten aufmerksam über Bevs dünne Gestalt und Schmerz flackerte über ihre Gesichtszüge, als sei sie ebenfalls von dem Geier bestraft worden.

„Uns bleibt nicht viel Zeit!", flüsterte sie. „Emre steht vor der Tür Wache. Nur deshalb bin ich hier reingekommen. Er wollte dir nicht helfen, aber er wird uns auch nicht aufhalten, wenn wir verschwinden."

Bevs Herz schlug wie wild in ihrer Brust. Sprachlos öffnete und schloss sie den Mund. „Ich... ich habe nicht damit gerechnet..."

Juli unterbrach sie mit einer fahrigen Handbewegung. „Keine Zeit. Wir müssen los!"

Sie griff nach Bevs Handgelenk und zog sie zur Tür. Vorsichtig lugte sie durch einen schmalen Spalt und schlüpfte dann nach draußen.

Ohne zu zögern tat Bev es ihrer Freundin gleich. Für einen Moment sah sie zu Emre auf, der stur geradeaus blickte, als sehe er nicht was vor sich ging. Er wollte es nicht sehen. Wollte so tun, als sei nichts davon jemals geschehen. Dann eben nicht.

Ohne ein Wort des Abschieds oder des Dankes huschte sie hinter Juli in einen schmalen Seitengang. Zielsicher ging ihre Freundin voran, schlängelte sich durch das Labyrinth aus Wegen als sei sie selbst ein Teil davon. Es ging mehrere Treppen nach unten, mitten durch ein schmales Treppenhaus, dass so alt war, dass es sich wie ein düsterer Schacht in der Finsternis verlor. Ihre Schritte hallten auf den Metallstufen wider und fast rechnete Bev damit die Mitglieder des Rings müssten es hören und ihnen nachhetzen. Doch nichts dergleichen geschah. Unten angekommen standen sie vor einer mit zusätzlichem Eisen gepanzerten Tür.

Hier drehte sich Juli wieder zu ihr um. Angst lag in ihrem Blick, bevor sie sich bückte und unter der letzten Stufe einen Rucksack hervorzerrte.

„Ich habe ein paar Sachen für dich gepackt. Es ist nicht viel aber ich hoffe du kommst damit zurecht."

„Was ist mit dir?"

Noch während Bev diese Worte aussprach wurde ihr bewusst, wie dämlich sie war.
Juli wurde nicht mitkommen.

Beschämt senkte ihre Freundin den Kopf. „Ich kann nicht mit dir kommen, Bev. Du weißt, ich bin nicht wie du. Ich kann sie nicht hören. Emre sagt, es hätte keinen Zweck."

„Emre war schon immer ein Feigling."

Sie nahm Bevs Hände und sah ihr fest in die Augen. „Versprich mir, dass du... dass du überlebst. Such dir einen sicheren Ort. Vielleicht triffst du ja auf eine andere Gruppe. Eine die nicht so ist wie der Magnolienring."

Sanft drückte Bev ihre Hände und betrachtete das Gesicht, dass ihr trotz der wenigen Wochen, die sie gemeinsam Seite an Seite verbracht hatten so vertraut geworden war. Sie konnte nicht von Juli verlangen mit ihr zu kommen. Hier war sie in Sicherheit, da draußen lauerte der unsichtbare Tod.

„Es ist okay. Danke, für alles, was du getan hast."

Julis Tränen begannen zu fallen und Bev musste sich zusammenreißen, um nicht ebenfalls damit anzufangen. Irgendwo über ihnen fiel eine Tür ins Schloss. Schritte auf der Treppe bahnten sich ihren Weg nach unten.

Juli schob den Türriegel mit der Sicherheitskette beiseite. Knarrend öffnete sich die Tür einen Spalt breit und ein  Streifen Sonnenlicht erstreckte sich genau zwischen ihnen bis zum Ansatz der Treppe. Es war das letzte Mal, dass sie einander sehen würden. Von hier aus gab es kein Zurück mehr.

„Lauf!", flüsterte Juli. „Lauf und komm nie wieder zurück!"

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Wie glaubt ihr geht es weiter?
Über einen Kommentar würde ich mich sehr freuen. 🙃

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