Kapitel 6


2 Monate später

Gegenwart

Angst schnürte Bevs Kehle zu. Unregelmäßig rasselte ihr Atem, stoßweise kam er über die Lippen, nur um jedes Mal die gleiche Haarsträhne von ihrer Wange zu pusten.

Wachsam verfolgte sie jede Bewegung, jedes Zeichen, das darauf hindeutete bestraft zu werden.

Die Verrückte war wieder da. Ihre Augen glommen schwarz im dämmrigen Licht. In der Hand hielt sie stets ein silbernes Kreuz und ihre vom Alter fleckige Haut spannte sich um den Gegenstand wie reißendes Pergament. Ihr Gesicht war ebenso spitz wie mager und erinnerte mehr an einen gierigen Geier, als an einen Menschen.

In Bevs Augen war sie genau das: Ein Stück Dreck, das nach Macht gierte und dem es Genugtuung verschaffte Kontrolle auszuüben.

Niemand würde etwas unternehmen sollte sie sich dazu entscheiden Bev hier und jetzt zu töten. Das Wort der Alten war an diesem trostlosen Ort ein ungeschriebenes Gesetzt und wer sich dem widersetze endet genau wie Bev: Eingesperrt und einsam in einer müffelnden Zelle. Manchmal fragte sie sich wo der Geier sie wohl eingesperrt hätte, befänden sie sich nicht in diesem verlassenen Gerichtshof. Wäre es ihr Schicksal gewesen in einem Keller zu verrotten?

Die Alte stakste schwerfällig auf Bevs Zelle zu. Innerlich wappnete sie sich schon für bösartige Worte und vor allem für den Schmerz. Das Oberhaupt des Magnolienrings hatte sich in den Kopf gesetzt, dass man das Monster in Bev triggern müsse, damit es zum Vorschein kam. Und natürlich tat man das am Besten in dem man die menschliche Hülle angriff.

Bev hatte noch nie einen größeren Schwachsinn gehört.

Seit zwei Monaten lief sie mit den Narben an ihrem Bein herum. Seit zwei Monaten hatte sich nichts geändert. Und dennoch saß sie hier und wartete mit all den anderen „Sichtbaren" darauf, dass ihre Verwandlung begann. Jede Woche aufs Neue kündigte die Alte an, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Vermutlich wurde sie dasselbe solange widerholen bis eine von ihnen starb.

Doch heute war etwas anders. Eine gewisse Spannung lag in der Luft und Bev spürte, dass es ausnahmsweise nichts mit ihr zu tun hatte. Es ging um etwas anderes. Jemand anderes.

Hinter dem Geier kam ein Mann zum Vorschein. Er konnte nicht viel älter als Bev sein. Vermutlich Anfang oder Mitte zwanzig. Sein dunkles Haar hing ihm in die Stirn und blitze fast genauso rabenschwarz wie seine Augen. Als sich ihre Blicke trafen hatte Bev das ungute Gefühl ihn irgendwo schon mal gesehen zu haben. Und das obwohl sie sich ganz gewiss an so ein Gesicht erinnert hätte. An diese Augen, die düster und abweisend auf sie gerichtet waren. Unter dem steifen Kragen seiner Lederjacke sah sie die verschlungenen Linien eines schwarzen Tattoos durchschimmern. Über die rechte Schulter hatte er sich lässig einen Rucksack geworfen. Aber das wohl unheimlichste an ihm, war die Waffe in seinen Händen.

„Du kannst hier schlafen", krächzte der Geier. „Aber komm der Kreatur nicht zu nahe. Sie ist eine Gezeichnete."

Der Fremde nickte. Dann ließ er sich in einer Ecke, weit entfernt von Bevs Zelle, nieder.

Er musste ein Reisender sein. Jemand, der sich keiner Gruppe anschloss und eigenständig durch die Stille und Einsamkeit wanderte. Man nannte sie „Sucher", weil sie immer unterwegs waren, ohne innezuhalten, stets erfüllt von dem Drang Antworten auf das Unmögliche zu finden. Bev wusste nicht, was ihr persönlich lieber gewesen wäre, doch im Augenblick wünschte sie sich nichts sehnlichster als ihrem Käfig zu entkommen und frische Luft auf der Zunge zu schmecken. Das Gefühl von Wind in den Haaren zu spüren und den Geruch der Straßen in sich aufzunehmen. Ganz egal, wie erschreckend die Welt da draußen auch sein mochte... in ihrem Herzen herrschte eine gähnende Leere. Es schlug nur noch aus reiner Routine. Nicht, weil sie es wollte oder dem weiterhin eine Bedeutung zumaß. Doch der heutige Tag brachte etwas Neues, hoffnungsvolles mit sich: Jemanden der nicht dem Magnolienring angehörte.

Misstrauisch beobachtete sie ihn aus dem Augenwinkel heraus. Er hatte seinen Rucksack abgelegt, ebenso wie seinen mit Stacheldraht umwickelten Baseballschläger, über den sich ein Muster aus rotbraunen Flecken zog. Beim Anblick des getrockneten Blutes schmeckte sie augenblicklich Eisen und Übelkeit stieg ihre Kehle empor.

Er sah gefährlich und unnahbar aus. Nicht wie jemanden, dem man vertrauen konnte. Außerdem war er ein Mann. Und in einer Welt, in der keine Gesetze mehr galten stellte er mehr als nur eine Gefahr für sie da. Trotzdem musste Bev es versuchen. Sie musste einen Weg finden diese Zelle hinter sich zu lassen. Und im Augenblick war er ihr einziger Ausweg.

Sie sammelte all ihren Mut zusammen und holte tief Luft... nur um ihre Worte für sich zu behalten und langsam auszuatmen. Verdammt. Sie brauchte Argumente, irgendetwas handfestes mit dem sie ihn überzeugen konnte die Tür zu öffnen.

Schaudernd dachte sie an den Moment zurück, als sie mit Juli und Emre im Magnolienring angekommen war. Die beiden waren nach ihrer wochenlangen Suche so aufgeregt gewesen. Das Versprechen eines sicheren Ortes hatte sie alle zusammen in eine Falle gelockt. Oder besser gesagt in ein altes Regierungsgebäude, in dem sich die „Sichtbaren", wie sie sich nannten, zusammengefunden hatten. Von Tag zu Tag wurden sie mehr und versuchten herauszufinden was hinter dem Verschwinden steckte und wie es sein konnte, dass unsichtbare Monster, denen sie den Namen Phantagore gegeben hatten, durch die Straßen streiften.

Doch bereits kurz nach Bevs Ankunft, als sie durch die schwere Eichenholztür getreten und über den von Generationen zerkratzten Marmorboden gelaufen war, hatte sich ihr die Wahrheit offenbart. Oben, an der Treppe zum Gerichtssaal, hatte der Geier gestanden, wie der persönliche Bote neuen Unheils.

Bev versuchte die Erinnerung daran abzuschütteln. Das Vergangene konnte ihr nicht helfen. Wichtig war die Gegenwart und damit der Mann, dem die Mitglieder des Rings Unterschlupf gewährt hatten.

„Wohin reist du?"

Schwerfällig verließen die Worte ihren Mund und hallten hohl durch die Zelle, als seien sie der Nachklang eines unbedeutenden Echos.

Der Fremde hob den Kopf und wieder trafen seine Augen auf die ihren. Abweisend und wachsam zugleich.

„Du würdest gebissen", stellte er fest. Nüchtern, als lese er in einer Zeitung über etwas, dass ihn nicht im entferntesten interessierte. Da war keine Wärme in seiner Stimme. Nicht mal ein Hauch davon. Bev war ihm vollkommen egal und die wenigen Worte, die sie miteinander gewechselt hatten kratzten bereits an seiner Geduld.

„Das war vor zwei Monaten", stellte sie klar. Aber auch das weckte in ihm nichts weiter, als dass seine Augen noch eine Spur kälter wurden.

„Es ist mir egal, wie lange du schon hier bist und ob du gebissen würdest oder nicht. Das hier ist meine Unterkunft für die Nacht und ich werde es nicht riskieren wegen einer Gezeichneten rausgeworfen zu werden."

Sein Tonfall war so endgültig, dass Bev nach dem letzten bisschen Halt griff, der ihr noch blieb.

„Was hörst du, wenn die Phantagore durch Straßen wandern?"

Irritiert hob er den Kopf.

„Gar nichts", verkündete er barsch. „So wie jeder andere auch."

Bev lehnte sich nach vorne, die Stirn an die kalten Gitterstäbe gepresst. Ihre Lippen bebten vor Aufregung als sie antwortet: „Genau deshalb solltest du mir hier raushelfen. Ich kann dir dabei helfen zu finden, was auch immer-,"

Er stand auf, bevor sie ihren Satz beenden konnte. Plötzlich war er in Reichweite, direkt vor ihrer Zelle. Ragte über ihr auf wie ein dunkler Schatten. Das Schwarz seiner Augen, dass sie zuvor als Kälte empfunden hatte, spiegelte nun Wut und Ungeduld wider. Bev schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, während er sie niederstarrte, als wolle er sie hier und jetzt in einem Loch, tief unter der Erde, befördern. Doch sie zwang sich dazu nicht vor ihm zurück zu weichen. Ihre Finger gruben sich verzweifelt in die Gitter. Er war ihr einziger Ausweg. Er musste ihr helfen!

„Was verstehst du daran nicht die Klappe zu halten!"

Die Ader an seinem Hals pochte wild. Dass er seine Ruhe vor ihr wollte war so klar, dass Bev ihm fast seinen Wunsch erfüllt hätte. Stattdessen lehnte sie sich noch weiter nach vorne. So weit wie es ihr Gefängnis zuließ.

„Ich kann dir etwas anbieten, was dir da draußen helfen kann. Ich-,"

Sie brach ab und senkte die Stimme zu einem Flüstern.

„Die Monster. Ich kann sie hören."

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