Kapitel 5
Zuvor
Bev fuhr den ganzen Tag durch, ununterbrochen, ohne Pause. Das Auto kroch langsam, wie eine Schnecke, voran und hustete und würgte weiterhin schwarzen Qualm aus. Besser als nichts.
Sie konnte gar nicht sagen, wie oft sie diesen Gedanken in den letzten Stunden gedacht hatte. Besser als nichts. Besser als zu Fuß. Obwohl sie sich da inzwischen nicht mehr so sicher war.
Ihr Bein schmerzte höllisch und am liebsten hätte sie es ausgestreckt und einen Kühlakku darüber ausgebreitet. Stattdessen hielt sie die Kupplung und das Gaspedal im Zaun und verkrampfte sich dabei von Minute zu Minute mehr. Irgendwann gab das Auto dann ein stotterndes Geräusch von sich und blieb mitten auf einer Kreuzung liegen.
Am liebsten hätte sie laut losgeflucht.
Ausgerechnet jetzt, wo die Schatten länger wurden und es nur noch eine Frage der Zeit war, bis die Dunkelheit jeden Zentimeter der Stadt ihr eigen nannte.
Naja, die Laternen brannten noch immer und würden hoffentlich auch die Nacht über durchhalten. Aber Bev wusste nicht wie sie selbst das anstellen sollte. Diese Monster brachen Türen auf, da wurde die Frontscheibe des Wagens kaum ein Hindernis für sie darstellen.
Sie musste hier raus, aber gleichzeitig wusste sie nicht wohin. In diesem Teil der Stadt war sie noch nie gewesen. Die Häuser und Läden waren ihr fremd. Vertrödle keine Zeit!
Ängstlich aber mit bitterer Entschlossenheit stieß sie die Tür auf und klemmte sich den Jutebeutel unter die Arme.
Nach wie vor herrschte eine niederdrückende Stille in den Straßen. Kein Hecheln oder Knurren. Keine Schritte.
So lautlos wie möglich humpelte sie von der Kreuzung auf ein Bankgebäude zu. Die automatischen Schiebetüren öffneten sich vor ihr, wie um sie willkommen zu heißen.
Hinter dem Schalter saß niemand, die Büros, getrennt durch dünne Glaswände, waren wie leergefegt. Einer der Drucker blinkte in einem alarmierenden Rotton und wies darauf hin, dass er neues Papier brauchte. Bev stellte sich vor, wie sie ihn mit Papier fütterte und er einfach weiter druckte, als sei nichts gewesen. Als sei die Person, die diese Unterlagen benötigte nicht spurlos verschwunden. Doch vielleicht war es gar nicht so dumm in einer Bank Schutz zu suchen. Wenn sie es schaffte das Alarmsystem einzuschalten wurde der Bewegungsmelder sie warnen, sobald sich eine der unsichtbaren Kreaturen nährte.
Fast sofort verwarf sie den Gedanken wieder. Das würde viel zu lange dauern. Außerdem lockte Lärm wahrscheinlich alles mögliche das durch die Straßen kroch in ihre Nähe. Statt sich also mit Alarmanlagen und Sicherheitssystemen auseinanderzusetzen, steuerte Bev das einzige Büro mit einer soliden Holztür an. Nicht einer dieser Glaskästen, in dem man alles sah und hörte und der sie auf perfide Art und Weise an eine Mausefalle erinnerte.
Sie hatte Glück, dass die Tür nicht verschlossen war sich aber automatisch von innen verschließen ließ.
Das Büro hatte keine Fenster, wurde dafür aber von einem mächtigen Tropenholztisch beherrscht. Zu ihrer Überraschung gab es sogar ein Sofa und ein Waschbecken in der Ecke. Um es kurz zu machen: Es war fast zu perfekt um wahr zu sein.
Bev packte ihre Decke aus, aß ein paar der Nüsse, die sie in einer der Schreibtischschubladen fand und kuschelte sich anschließend auf dem Sofa zusammen.
Es dauerte lange, vermutlich Stunden, bis sie endlich einschlief, ohne vom stetigen Ticken der Uhr oder ihren eigenen furchtsamen Gedanken aus der Traumwelt gerissen zu werden. Ihr sonst so tiefer Schlaf wurde von jedem leisen Geräusch gestört. Ihr ganzer Körper war in dauerhafter Alarmbereitschaft.
***
Wie lange sie letztendlich geschlafen hatte wusste sie nicht, aber ihre rechte Seite tat weh und das Sofa fühlte sich wie eine klobige Lederhaut an, die mit ihrem Körper verschmolzen war und zeitgleich hart gegen ihren Hüftknochen drückte.
Mit einem leisen Grummeln wischte sie sich den Schlaf aus den Augen und faltete die Decke zusammen, um sie zurück in ihr Bündel zu stopfen. Nach dem Frühstück, das aus einer halb zermatschten Mandarine und einem Müsliriegel (ebenfalls aus der Schreibtischschublade) bestand, wagte sie es die Tür aufzuschließen und durch einen winzigen Spalt zu lauschen. Nichts. Die Luft schien rein zu sein.
So lautlos wie möglich ging sie zur Eingangstür und zuckte zusammen, als sich die gläsernen Flügel automatisch vor ihr öffneten. Draußen wehte ein kalter Wind und graue Wolken bedeckten den Himmel wie schmutziges Putzwasser.
Wenig begeistert ging sie ihres Weges. Das Laufen bereitete ihr Schmerzen. Ihr Bein war ganz steif und fühlte sich noch schlimmer als am vorigen Tag an. Bev war schon wieder nach Fluchen zumute, doch sie schluckte ihre Verzweiflung und Wut hinunter. Hätte sie doch nur ein Auto oder ein Roller, mit dem sie sich aus dem Staub machen konnte.
Vor unterdrückten Schmerzen biss sie sich auf Lippe und blieb an eine Hauswand gelehnt stehen. Du bist ein Idiot! Stehen zu bleiben war vermutlich das Dümmste was man in solch einer Situation tun konnte.
Mit tränenden Augen blickte sie sich um. Es gab keinen Ort an dem sie sich versteckten konnte. Die Stadt hatte ihr den Rücken zugekehrt und die grauen Gebäude wirkten wie farblose Klötze: aufgereiht und übereinander gestapelt ohne eine Lücke, durch die sie entkommen konnte.
Frustriert schloss Bev die Augen und atmete die Stille ein, als handle es sich um eine giftige Substanz. Als sie die Augen wieder aufschlug lag die Lösung direkt vor ihr.
Da war eine offene Tür auf der anderen Straßenseite. Eine schwarz klaffende Öffnung, die in einen kleinen Souvenir-Shop führte.
Bev zögerte nicht.
So schnell es ihr verletztes Bein zuließ hetzte sie auf die Öffnung zu. Als handle es sich um den Eingang nach Narnia und nicht um einen düster wirkenden Ort.
Ungeschickt stolperte sie die wenigen Stufen nach oben und legte ihren Jutebeutel auf dem Tresen ab. Perlenketten raschelten dabei und der Postkartenständer neigte sich in Bevs Hast gefährlich zur Seite.
Aufmerksam glitt ihr Blick durch den Laden. Er war klein und vollgestopft mit allem möglichen Krimskrams. Hinter dem Tresen befand sich eine schmale Tür und dahinter eine Treppe, die in den 1. Stock führte.
Bev packte ihr Bündel und ging an einer Wand voll kitschiger Taschen und Aufkleber vorbei. Es fühlte sich alles andere als gut an ihr Bein dieser Prozedur auszusetzen. Am liebsten wäre sie auf dem Boden zu einem kleinen Häufchen Elend zusammengesunken. Doch stur wie sie nun einmal war humpelte sie selbst oben von Zimmer zu Zimmer, bis sie das Esszimmer zu ihrer neuen Bleibe auserkor. Die Tür wirkte solide und außerdem gab es ein Fenster mit einer Feuerwehrtreppe. Sollte eines der Monster sich dazu entscheiden die Tür aufzubrechen gab es immerhin noch einen weiteren Ausweg für sie. Auch wenn der alleinige Gedanke an noch mehr Stufen ihr Bein vor Schreck zum Zucken brachte.
Schwerfällig nahm Bev auf einem der Essstühle platz und musste dabei augenblicklich an den Mann zurückdenken und wie sie mit ihm am Tisch gesessen hatte. Trauer flackerte über ihre Gesichtszüge. Sie mochte ihn nicht gekannt haben aber er hatte es ganz gewiss nicht verdient gefressenen zu werden.
Gestresst stützte sie den Kopf in die Hände. Noch vor wenigen Tagen war ihr die Einsamkeit wie ein willkommenes Geschenk erschienen. Jetzt machte es sie fast wahnsinnig.
Das Knarzen der Treppenstufe ließ sie ruckartig den Kopf heben. Nicht schon wieder!
In höchster Alarmbereitschaft stand sie auf und hielt ihr lächerlich kleines Taschenmesser bereit.
Vor der Küche erklang ein Wispern: wie zwei Monster die miteinander sprachen.
Ob sie mich riechen können?
Unruhig wich sie mehrere Schritte zurück.
„Hallo?"
Dieses eine Wort hallte in ihren Ohren wider. Da sprach jemand. Eine Frau.
„Hallo? Ist da jemand drin?
Wir sind auf der Suche nach Überlebenden."
Bev antwortete nicht.
Natürlich nicht.
Es war eine Falle.
Ein Seufzen drang durch das Holz an ihre Ohren.
„Wir müssen weiter, Juli. Wenn jetzt eines dieser Dinger die Treppe hochkommt..."
„Dann sind wir sowieso am Arsch", beendete Juli seinen Satz.
In Bev dagegen stieg Zweifel auf. Waren das da draußen womöglich wirklich Menschen? Wenn ja, war das ihre einmalige Chance nicht mehr allein zu sein.
Sie hörte die beiden durch die Nachbarzimmer gehen, genauso wie sie es selbst eben noch getan hatte. Dann faste Bev einen Entschluss. Wären das da draußen wirklich Monster, dann hätten sie die Tür längst aufgebrochen. Und falls Bev sich irrte und ihre bisherige Erfahrung sie im Stich ließ, dann würde sie so oder so dafür bezahlen. Eigentlich spielte es keine Rolle mehr. Sie, Bev Carters, fürchtete zum ersten Mal die Einsamkeit. Ein weiterer Tag ohne Gesellschaft und sie wurde des Wahnsinns verfallen, da war sie sich sicher.
Ihr Atem wurde ganz schwer, als sie den Schlüssel im Schloss drehte und die Tür aufstieß.
Die Schritte im Nachbarzimmer verstummten.
Bevs Herz schlug so heftig, dass sie sich sicher war man müsse es durch die Wände hindurch hören können. Was, wenn ich mich täusche? Was, wenn es tatsächlich die Monster sind.
Die eben noch verstummten Schritte kamen näher.
„Wer ist da?"
Die Frau, Juli, klang unsicher. Als wolle sie jetzt, da die Tür offen war, gar nicht mehr wissen wer oder was sich dahinter verbarg.
Doch aus irgendeinem Grund schaffte es Bev nicht zu antworten. Ihre Zunge war wie am Gaumen festgeklebt.
Jemand späte aus dem Nachbarzimmer und Bev zuckte zurück.
Das Gesicht einer jungen Frau mit strähnigen blonden Haaren kam zum Vorschein. Für einen Moment starrten sie sich einfach nur an. Zwischen ihnen schien ein Fluss aus ungesagten Worten zu fließen. Noch nie in ihrem Leben hatte Bev so viele Dinge zu einer Unbekannten sagen wollen. Noch nie war da so viel und gleichzeitig so wenig in ihren Gedanken los gewesen.
Die Frau hob die Mundwinkel und lächelte zaghaft. Bev erwiderte die Geste und eine Woge der Dankbarkeit erfasste sie. Nicht alle Menschen waren verschwunden. Sie versteckten sich bloß. Bev war nicht länger alleine. Aber gerettet (und das begriff sie erst viel später) war sie deshalb noch lange nicht. Juli war ein Anfang, einer von vielen. Das Ende ihrer Reise aber lag noch in weiter Ferne. Und es sollte eine Zeit kommen in der sie nichts mehr bereute als die Tür geöffnet zu haben.
———————————————————————
Im nächsten Kapitel lernt ihr dann Raven kennen. 🙂
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top