Kapitel 4

Zuvor

(Triggerwarnung: Blut)

Bev hatte erwartet in die Tiefe zu stürzen und sich dabei alle erdenklichen Knochen zu brechen. Doch die unsichtbare Kreatur ließ nicht los. Sie hatte ihr Bein so fest gepackt, dass Bev kopfüber aus dem Fenster hing. Blut schoss ihr in den Kopf und Schmerz pflasterte ihre Sinne zu. Weit unter sich konnte sie den Bordstein sehen. Jede Sekunde wurde die Kreatur loslassen und dann würde sie auf dem Teer aufschlagen und ihr Leben aushauchen.

Gequält schloss sie die Augen. Ein Wimmern drang über ihre Lippen. Der Rucksack glitt ihr langsam von den Schultern. Sie hatte keine Ahnung wo das Messer war. In ihrem Kopf hämmerte das Blut wie ein wütender Bauarbeiter. Es vernebelte ihre Sinne und nur der Schmerz in ihrem Bein hielt sie in der Gegenwart. Bitte, flehte sie wen auch immer an. Ich will nicht sterben! Dabei war sie sich nicht sicher, ob dieser Gedanke der Wahrheit entsprach. Sterben erschien ihr jetzt, in diesem Moment, das einfachste der Welt. Das Leben dagegen... wenn man darüber nachdachte wurde es kompliziert.
Bev bekam kaum mit, wie die Welt um sie herum in Dunkelheit getaucht wurde.

***

Als sie aufwachte dröhnte ihr Schädel. Ihr Bein meldete sich pochend zu Wort und nur mit größter Anstrengung schaffte sie es sich in eine sitzende Position zu kämpfen. Keuchend stützte sie sich mit dem Rücken an der Wand des Gästezimmers ab und ließ sich von dem Schmerz und der Übelkeit quälen. Nebel waberte durch ihre Gedanken. Zähflüssig und träge tastete er sich voran. Dann kehrte mit einem Schlag die Erinnerung zurück und sofort herrschte in Bevs Innerem eine erschreckende Klarheit. Sie riss die Augen auf und durchsuchte mit wilden Blicken das Zimmer. Natürlich sah sie nichts, aber ihre Ohren spielten ihr keinen Streich.

Da war jemand.

Etwas.

Es kauerte ihr gegenüber und stieß tiefe Atemzüge aus. Vor Schreck wagte Bev es nicht sich zu bewegen. Was, wenn es nur darauf wartete, dass sie aufwachte? Was, wenn es sie sobald das geschah töten wurde? In ihrem Hals bildete sich ein Kloß und hörbar schluckte sie das Gefühl der Enge hinunter.

Schlagartig hörte das tiefe Atemgeräusch auf.

Bev konnte die Wachsamkeit des Monsters spüren. Als sei es aus seinen Grübeleien aufgeschreckt und habe sie erneut ins Visier genommen.
Sie hörte, wie es aufstand und zu ihr schlürfte. Es musste direkt vor ihr stehen.
Bev kniff ihre Augen so fest sie konnte zu. Alles was sie dachte war: Oh Gott, oh Gott.
Dann spürte sie, wie etwas sanft über ihren Kopf strich, fast so, als wurde die Kreatur ihr langes Haar streicheln.
Sie presste ihre Lider noch fester aufeinander und wagte es nicht sich auch nur einen Millimeter zu rühren.

Das Zittern ihrer Hände verriet sie.

Die Kreatur hielt inne und die lauten Atemgeräusche setzten wieder ein.

„Bitte", flüsterte Bev und ballte ihre Hände zu Fäusten. „Bitte verschwinde."

Die Kreatur atmete einfach weiter, ganz so, als gäbe es nichts auf der Welt, das sie bekümmern könnte. Dann stieß sie einen langgezogenen Seufzer aus, der sich mit einem geisterhaften Kribbeln auf Bevs Haut legte. Danach hörte sie nichts mehr.
Die Welt war erneut verstummt.

Vorsichtig öffnete sie die Augen und blinzelte mehrere Male heftig. Die letzten Stunden ihres Lebens fühlten sich wie ein unvollständiges Puzzle an. Sie verstand den Zusammenhang nicht. Sie begriff ja noch nicht mal warum sie hier saß und nicht mit zerschmetterten Knochen auf der Straße lag.

Langsam glitt ihr Blick hinunter zu ihrem Bein, und kaum dass sie ihre zerfetzte Hose und das Blut sah, kehrte auch der Schmerz wie ein pochendes Unglück zu ihr zurück. Scharf zog sie die Luft ein und biss sich auf die Zunge. Unten im Haus hörte sie eine Tür zuschlagen.

Hoffentlich war es die Kreatur und nicht irgendetwas anderes, das sich soeben Zutritt verschafft hatte. Dass der Mann verschwunden sein musste war ihr klar. Vielleicht war er tatsächlich gefressen worden.

Schaudernd schüttelte sie den Kopf und kroch auf die geborstene Tür zu, um hinaus in den Flur zu schauen.
Nichts in dem Haus deutete auf irgendetwas Ungewöhnliches hin und doch strahlte jeder noch so harmlose Schatten eine Bedrohung aus.

Unbeholfen kam sie auf die Beine und humpelte zum Bad auf der Suche nach Verbandszeug. Auch wenn sie wusste, dass es nichts brachte, schloss sie die Tür hinter sich ab und ließ sich auf den Rand der Badewanne sinken. Sie zog ihre Hose aus und biss sich erneut auf die Lippe, um nicht gequält zu schreien.

Ab dem linken Knie abwärts war ihr komplettes Bein in Blut getaucht. Rot, wie ein Warnschild schimmerte es ihr entgegen.

Bev hielt es unter den Wasserstrahl der Badewanne und zischte auf, als das Wasser auf ihre frische Wunde traf. Schnell war das Blut davongewaschen und zurück blieb ihre Wade voll von Zahnabdrücken und einem tiefen Biss, der unablässig nachblutete.

Bev war froh, als sie in einem der Schränke eine kühlende Salbe und Verbandszeug fand. Etwas ungeschickt, denn sie hatte keinerlei Übung darin, trug sie die Salbe auf und wickelte den Verband um ihre geschundene Haut. Es tat gut das Blut und die zurückbleibende Narbe nicht sehen zu müssen. Hätte sie jetzt auch noch Schmerztabletten gehabt wäre ihr Zustand irgendwie ertragbar gewesen.
Sie stellte sich vor, wie sie sich mit einem dieser Betäubungsmittel zudröhnte bis sie nichts mehr spürte und so tun konnte, als hätte  es nie einen Angriff gegeben. Aber das Schicksal schien etwas anderes für sie geplant zu haben.

Als Bev aufstand knackte ihr Rücken von der unbequemen Haltung und sie musste ihr linkes Bein beim Laufen nachziehen, ganz wie der Mann in dessen Haus sie sich befand.
So würde sie nicht weglaufen können.
So musste sie es ja noch nicht mal versuchen.

Zu Fuß würde sie es keinen Kilometer weit schaffen. Außerdem wusste sie nach wie vor nicht, wie viele dieser Kreaturen durch die Straßen wanderten. Was, wenn an jeder Straßenecke eine von ihnen lauerte?
Bev würde sie erst bemerken, wenn sie so nah waren, dass ihre Schritte oder ihr Hecheln sie in Angst versetzten.

Zu Laufen war definitiv keine Lösung. Aber hierbleiben konnte sie auch nicht. Mindestens eines dieser Monster wusste, dass sie hier war und wenn es auch nur über ein halbwegs gutes Gedächtnis verfügte würde es früher oder später zurückgekommen.

Sie musste raus aus der Stadt. Dort standen ihre Chancen besser auf andere Menschen zu stoßen. Bestimmt waren die meisten bereits aus den engen Straßen geflohen, mit der Hoffnung im Herzen außerhalb etwas anderes vorzufinden, als zertrümmerte Türen.

Entschlossen ging sie aus dem Bad und suchte sich im Haus des Mannes alles zusammen, was ihr für eine Reise nützlich erschien.
Arzneimittel und Wasser packte sie in einem Jutesack zusammen und nahm sich anschließend noch eine Decke und Lebensmittel, die sich lange aufbewahren ließen.
In der Küche fand sie sogar ein Taschenmesser. Ähnlich dem ihren das vermutlich samt Schlüssel und Rucksack auf die Straße gefallen war. Dann nahm sie sich die Autoschlüssel vom Wandhaken und humpelte durch die Verbindungstür zur Garage. Sie wusste nicht, auf was sie gehofft hatte, aber das Auto des Mannes ähnelte einem der Fahrzeuge, dass sie vor kurzem auf einem nahegelegenen Schrottplatz gesehen hatte. Vermutlich wurde es nicht oft benutzt und wenig wertgeschätzt von jemandem, der in der Stadt lebte und dem es möglich war alle wichtigen Orte mit dem Bus oder der Straßenbahn zu erreichen. Dennoch war es besser als nichts.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht schob sie sich hinter das Lenkrad und warf den Jutebeutel neben sich auf den Beifahrersitz. Dann drehte sie den Zündschlüssel im Schloss und hörte mehrere angespannte Sekunden dabei zu, wie der Motor röchelnd und hustend zum Leben erwachte.

Wie ein alter, feuerspuckender Drache rollte das Auto aus der Garage auf die einsame Straße. Bev hatte das ungute Gefühl mit diesem Ungetüm an Fahrzeug nur noch mehr der Monster anzulocken, doch im Umkehrschluss blieb ihr kaum eine andere Wahl: Entweder der Drache oder ihre eigenen geschundenen Füße.

Misstrauisch warf sie einen Blick in den Rückspiegel und sah wie aus dem Auspuff schwarzer Qualm drang. Hoffentlich schaffte sie es damit überhaupt über die Stadtgrenze. Und hoffentlich lag dahinter nicht das nächste Unheil sondern Antworten.

Hätte sie doch nur gewusst, dass sie sich gerade erst am Anfang ihres persönlichen Albtraums befand.

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Danke, dass du bis hierhin gelesen hast. Es ist wirklich wunderschön morgens aufzuwachen und zu sehen, dass wieder jemand meine Geschichte gelesen hat. Danke dafür!

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