Kapitel 1

Zuvor

Sie hatte nicht gewusst, dass man sich vor der Stille fürchten konnte.
Sie war es gewohnt, dass das Haus niemals schlief. Irgendwo klapperte immer Besteck, Stühle wurden zurückgeschoben und scharten über den Boden, Kinder schrien. Der Fernseher in der Nachbarwohnung lief so laut, dass sie jedes Wort mitsprechen konnte. Selbst wenn jemand die Klospülung im dritten Stock betätigte hörte sie das Wasser durch die Rohre rauschen. Als sei das Haus lebendig und die Rohre seine Adern, der Heizungskeller das warm schlagende Herz.

Noch nie war das Haus verstummt. Doch in dieser Nacht war es so still, dass ihr zum ersten Mal ihr eigener Atem bewusst wurde, und das Durcheinander ihrer Gedanken, das so laut und unberechenbar gegen die Innenseite ihres Schädels klopfte, dass sie versucht war ihre Musikanlage voll aufzudrehen. Am liebsten hätte sie alles ausgeblendet und sich von den Geräuschen der Nachbarwohnungen - dem Leben anderer Leute - in den Schlaf mummeln lassen.
Sie verstand nicht, wie es möglich war, dass plötzlich, wie aus dem Nichts, Ruhe einkehrte. Irgendetwas stimmt nicht.
Es war, als habe sich die hereinbrechende Dunkelheit in ein geräuscheverschlingendes Monster verwandelt.

Sie drehte sich in ihrem Bett auf die andere Seite. Das Rascheln ihrer Decke bereitete ihr Unbehagen. Es erinnerte sie zu sehr an das Selbstheilungsbuch, in dem sie heute gelesen hatte: „Wenn man der Stille zuhört beginnt man sich selbst wahrzunehmen. Sogar das Flügelschlagen eines Schmetterlings glaubt man hören zu können."
Genauso fühlte es sich an. Als sei ihre Decke ein zarter Schmetterlingsflügel, der viel zu laut raschelte.

Langsam setzte sie sich auf und starrte zum Fenster. Der Rolladen war nur halb hinuntergelassen, er klemmte seitdem sie hier eingezogen war. Das bläuliche Licht der Straßenlaterne warf jede Nacht geisterhafte Schatten an ihre Wand und sorgte dafür, dass es nie wirklich dunkel war. Anfangs hatte es sie gestört, bevorzugte sie doch die Dunkelheit, in der sie nichts sah und ihren Träumen näher kam, als sie es bei Tageslicht jemals sein würde. Doch mit der Zeit hatte sie sich an das Licht gewöhnt und es war beruhigend zu wissen, dass sie alles sehen konnte. Dass sie allein in ihrer Einzimmerwohnung war und kein Schreckensgespenst aus ihrer Vergangenheit plötzlich im Türrahmen stand.
Schaudernd rutschte sie bis zum Kopfende des Bettes und die Decke glitt warm von ihren Schultern.

Irgendetwas stimmte nicht und Bev hatte eigentlich nicht vor herauszufinden um was es sich handelte. Trotzdem schwang sie die Beine über die Bettkante und schlüpfte in ihre Pantoffeln, die so alt waren, dass die ehemals weißen Bärenköpfe dem grauen Asphalt der seit Jahren befahrenen Straßen ihres Viertels glichen.
Langsam ging sie zur Tür und lugte einmal durch den Spion in den Gang hinaus.

Normalerweise brannte stets das Treppenhauslicht und sie konnte die gegenüberliegende Haustür mit der rosa Fußmatte und dem kitschigen Willkommensschild sehen. Heute Nacht jedoch brannte nur die Notbeleuchtung, die dem Treppenhaus einen unheimlichen Glanz verlieh.

Bev begann sich zu fragen, ob von außen das gesamte Haus so aussah. Vielleicht waren die Lichter überall erloschen. Vielleicht handelte es sich um einen Stromausfall und deshalb waren die Bewohner verstummt.
Aber hätte sie dann nicht mindestens ein Kleinkind heulen und irgendeinen Erwachsenen fluchen hören?
Wenn Fußball lief war der Mann, ein Stockwerk über ihr, für gewöhnlich nicht so ruhig. Eigentlich müsste er im Falle eines Stromausfalls einen Wutausbruch erleiden. Immerhin spielte heute Deutschland, das hatte sie ihn am Mittag selbst sagen hören, als er seinen Weg mit der alten Dane aus Nummer sieben kreuzte. Die Frau war einsam und hatte die Angewohnheit alle, die ihr über den Weg liefen voll zu quasseln.  Das traf sich gut mit einem Mann der keine Freunde zum Fußball gucken hatte und deshalb einer alten Frau von den aktuellen Spielergebnissen berichten musste.
Schon traurig, dass in solch einer vernetzten Welt viele Menschen in Einsamkeit ertranken. Genau wie Bev selbst. Auch wenn sie diese Entscheidung bewusst getroffen hatte und erleichtert war, wenn sie sich jeden Morgen aufs Neue den Mantel der Einsamkeit überstreifen konnte. Es war besser, als von anderen ausgebeutet und verletzt zu werden. Und solange man mit anderen Menschen zu tun hatte wurde man immer wieder enttäuscht.
Die Gesellschaft da draußen hatte ihr schon vor Jahren die Flügel gestutzt. Jetzt fühlte sie sich gebrochen und leer. Nur ihr eigenes Leiden füllte diese Leere, bis es wie ein zementschwerer Hammer auf ihrer Brust lag und drohte sie zu ersticken.
Nur das Bev sich jedes Mal wieder nach oben kämpfte und einfach weiter machte in der trügerischen Hoffnung, dass sich irgendwann alles ändern würde.

Sie trat von der Tür zurück, ließ den Spion, Spion sein und trottete zu ihrem Bett. Das Lacken war abgekühlt und die wohlige Wärme, auf die sie gehofft hatte spurlos verschwunden.
So gut es ging machte sie es sich gemütlich und wollte schon die Augen schließen, um doch noch in den Schlaf zu finden - als es an der Tür klopfte.
Klopfte, nicht klingelte.

Sofort war ihre Müdigkeit wie weggeblasen.
Also musste wirklich der Strom ausgefallen sein. Aber warum klopfte dann jemand ausgerechnet bei ihr? Die Bewohner des Hauses wussten nur allzu gut, dass sie ihnen bestmöglich aus dem Weg ging.

Wieder stand sie auf und schlurfte zur Tür. Doch dieses Mal war sie wachsamer und die Muskeln in ihren Beinen spannten sich an, als bereiteten sie Bev darauf vor davonzulaufen.
Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander und sie hasste sich dafür, erst vor kurzem diesen einen Horrorfilm mit dem Wesen aus dem Keller und dem Stalker geschaut zu haben. Es konnte nicht gesund sein sich so etwas anzuschauen, wenn man alleine lebte und keine Familie hatte, die man im Notfall kontaktieren konnten.
Trotzdem beugte sie sich nach vorne und blickte durch den Spion auf den Gang hinaus.
Ihre Verwirrung hätte nicht größer sein können.

Da war niemand und dennoch hörte sie das Klopfen erneut.
Lauter und drängender.
Sie spürte die Vibration durch das Holz der Tür, genau auf der Höhe ihrer Schulterblätter.
Da klopfte jemand.

Sie konnte es fühlen und dennoch sah sie nichts. Der Gang war wie leergefegt. Einsam und in kränklich grünes Licht getaucht.
Du träumst, war ihr nächster Gedanke. Niemand klopft an deine Tür.

Prompt hörte das Geräusch auf und wurde durch ein Kratzen ersetzt.
Es klang, als bohrten sich lange Fingernägel in das Holz. Bev glaubte, weiße Farbe abblättern zu hören.

Die Türklinke bog sich langsam nach unten.
Für eine Schreckenssekunde befürchtete sie, die Tür würde sich öffnen. Aber das Schloss hielt stand und sie hatte ja noch die Sicherheitskette, die sie auf Grund ihres ängstlichen Charakters jeden Abend überprüfte.

Sie wollte keinen ungebetenen Besuch. Sie wollte einfach nur dass, das was auch immer da vor ihrer Tür war wieder verschwand.

Die Türklinke schnappte nach oben, als sie ganz plötzlich losgelassen wurde.
Bev zuckte vor Schreck zusammen. Wie ein elektrischer Schlag fuhr es durch ihre Fußsohlen hinauf in ihre Waden, durch den Bauch bis in ihren Nacken, wo sich die feinen Härchen aufstellten und ihr zum ersten mal bewusst wurde, dass ihre Hände zitterten.

Sie hatte Angst.

Sie konnte das Böse riechen, genauso wie sie damals das Feuer gerochen hatte. Da war etwas vor ihrer Tür und wenn sie öffnete würde weiß Gott was mit ihr geschehen!

Langsam, ganz langsam ging die rückwärts zu ihrem Bett zurück. Im Nachtschränkchen lag ihr Schlüsselbund, den sie so lautlos wie möglich herauszog. Eigentlich hing nur ein einzelner Schlüssel daran und bei dem Rest handelte es sich um einen Flamingoanhänger, den sie mal in der U-Bahn gefunden hatte, einem winzigen Stoffsöckchen, das ihre Oma genäht hatte und einem Taschenmesser, dessen abgewetzter Holzgriff sich jetzt, in diesem Moment, vertraut in ihre Handfläche grub. Es war die einzige Waffe die sie besaß. Die Einzige, die sie je besessen hatte.

Das Klopfen setzte wieder ein.
Fordernder.
Drängender.
Bev stellte sich vor, wie dieses Etwas vor der Tür bei der alten Dame nebenan klopfte. Wie diese genervt ihre Stricksachen zur Seite legte und ohne groß darüber nachzudenken die Tür aufriss, um dem Störenfried eine Standpauke zu halten.
Irgendetwas in ihrem Kopf wollte ihr klar machen, dass es deshalb so still war. Das die anderen Bewohner ihre Türen geöffnet hatten und dass dieses unsichtbare Wesen sie alle zum Verstummen gebracht hatte. Und wer sagte denn, dass es nicht genauso gewesen war?

Das Klopfen hörte schlagartig auf und Bev glaubte leise Schritte zu hören, die sich von ihrer Wohnung wegbewegten.

Erleichtert strömte die Luft aus ihrer Lunge. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie sie angehalten hatte.
Das Ding - was auch immer es gewesen war - hatte aufgegeben. Es...
Ein lautes Beben erschütterte ihre Haustür.
Bev hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Die Tür brach auf, die Sicherheitskette spannte sich bis zum Zerreißen an und barst mit einem metallenen Klirren in ihre Einzelteile. Der Türrahmen knallte so feste gegen die Wand, dass die Klinke sich in den Putz bohrte. Dann fegte mit einem Windzug das unsichtbare Wesen in ihr Zuhause.

Bev schrie nicht. Sie war zu geschockt. Zu sprachlos.

Einen winzigen Augenblick später rammte sie das Wesen mit derselben Wucht, mit der es die Türe aufgebrochen hatte.
Bev wurde jegliches Quäntchen Sauerstoff aus dem Körper gequetscht. Das Messer glitt ihr aus der Hand. Mit dem Kopf knallte sie heftig gegen die Wand. Ihr letzter Gedanke, bevor die Lampen in ihrem Kopf mit einem Schlag ausgingen war, dass sie so immerhin nicht ihr eigenes Ende mitansehen musste.

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Ich hoffe, dir hat das erste Kapitel gefallen.
Lass mir gerne einen Kommentar dar. Über Verbesserungsvorschläge und konstruktive Kritik freue ich mich immer. 😊

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