Prolog

Juhee

Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiund ...
Ich starrte auf die Zeitanzeige meines Handys und zählte stumm die Sekunden.
Aus 16:34 wurde 16:35. Mir schien, dass mein Herz im selben Rhythmus schlug.
Zweiunddreißig, dreiunddreißig ...

»Juhee, lass das«, befahl mir meine beste Freundin, Madison Blair. Ich sah zu ihr herüber.
Ihr Blick war auf die Straße gerichtet, aber sie erriet trotzdem, was ich machte.
»Das bringt uns auch nicht schneller ans Ziel«, sagte sie leicht genervt.

»Weiß ich doch«, behauptete ich mit glühenden Wangen. Ich rutschte auf dem Beifahrersitz herum und ließ das Smartphone von einer verschwitzten Hand in die andere wandern.

Fünfundvierzig, sechsundvierzig, siebenund ...


Die Sache war die, ich wünschte, ich hätte Kontrolle über die Zeit und könnte sie ganz nach Belieben schneller und langsamer laufen lassen. Minuten und Stunden waren schon immer flatterhaft und nicht greifbar für mich gewesen.
Den größten Teil meines zweiten Oberstufenjahres war ich mit hängender Zunge zu spät zur Schule gekommen. Aber als ich mal am Samstagabend zu einer Party eingeladen wurde, was echt selten vorkommt, bin ich immer peinlich früh aufgetaucht. Ich krieg's einfach nicht gebacken. 

An diesem schwülen Sommerabend war ich wieder kurz davor, den Kampf zu verlieren. Ich riss mich vom Display meines Handys los und riskierte einen Blick auf die Straße vor uns, die noch immer total verstopft war. Die roten Rücklichter glimmten wie Glühwürmchen. 

»Ich verpasse meinen Flug«, murmelte ich, und Angst machte sich in meinem Bauch breit.

Ich war ja selbst schuld. Schließlich war ich diejenige, die den Koffer zwei Mal packen und endlos über jedes Kleidungsstück schwafeln musste. Und ich war diejenige gewesen, die mit meiner Mutter einen riesigen Streit angezettelt hatte, als wir gerade aus dem Haus gehen wollten, sodass ich unter Tränen Madison anrief und sie bitten musste, mich zum Flughafen zu fahren.

»Tust du nicht«, sagte Madison energisch und wechselte die Spur. Dabei rutschten ihr die geknüpften Freundschaftsarmbänder an ihren Handgelenken hoch und runter.
»Nicht, solange ich das in der Hand habe. Und ich meine es ernst, steck dein Handy weg. Ist der Akku nicht gleich leer?«

»Ja«, gestand ich seufzend ein.
Ich fummelte an meinen eigenen geknüpften Armbändern herum - die beiden, die Madison für mich gemacht hatte, trage ich immer -, und guckte dann schnell noch mal auf mein Handy.

Achtundfünfzig ... neunundfünfzig ...

Ehe die Minute voll war, ließ ich das Telefon in die pralle Tasche vor meinen Füßen fallen.
Ich hätte es nicht mitnehmen sollen, in Europa könnte ich damit sowieso nichts anfangen.
Ob Mum mir wohl eine Nachricht schicken würde und sich entschuldigt? Oder wartete sie vielleicht darauf, dass ich zuerst schreiben würde? Diesen Gedanken schob ich schnell beiseite.
Das Auto ruckelte ein Stück vor.
Verstohlen warf ich einen traurigen Blick auf die kaputte Uhr an Madisons Armaturenbrett, die ewig blinkend zwölf Uhr anzeigte. 

Um mich abzulenken, wühlte ich in meiner Tasche herum um mich zu vergewissern, dass ich alles Nötige dabei hatte: Kaugummi, Zeitschriften fürs Flugzeug, den dicken Hochglanzreiseführer, einen Ausdruck von Dads E-Mails mit seiner Adresse und den Telefonnummern, meine tolle neue Kamera und meinen ach so tollen Pass.
Ich holte das grüne Büchlein hervor und spürte ein aufregendes Kribbeln in meinem Bauch. So viele ungestempelten Seiten, die ich durchblätterte. Ich war noch nie im Ausland gewesen.
Als ich zu der Seite mit meinen Informationen kam, runzelte ich meine Stirn. Mein dunkles Haar, mit den leichten Wellen, mein Lächeln schief und das eine braune Auge ist ein klein wenig größer als das andere.

Mit sieben hatte ich zum ersten Mal ein Picasso-Gemälde gesehen. Eine Frau mit harten Gesichtszügen - mit der hatte ich mich irgendwie verwandt gefühlt.

Ich sei Irre, hatte Madison gesagt, als ich diesen Gedanken mit ihr geteilt hatte.

»Irre!«, sagte Madison jetzt mit ungläubiger Stimme. »Habe ich tatsächlich wieder recht gehabt?«

Blinzelnd schaute ich auf und stelle fest, dass wir schnell vorankamen.

»FLUGHAFEN« verhieß das Schild vor der Windschutzscheibe. Erleichterung überschwemmte mich wie eine warme Welle und ich quietschte begeistert. »Du hast einfach immer recht«, stellte ich fest.

Meine beste Freundin warf mir ein Lächeln zu. Donner grollte plötzlich über uns, als wir auf die Ausfahrt zusteuerten und schließlich zusammenzuckten. Eigentlich war es nicht überraschend, dass ein Gewitter aufzog, da die Luft den ganzen Tag schwer und feucht war.

Ich liebe den Sommer, und das nicht nur, weil ich dort Geburtstag habe.

Ich mag es, wenn frisch gemähtes Gras meine Fußsohlen kitzelt, Wassereis mit Gefrierbrand und den rauchigen Duft vom Grill, wenn es dunkel wird.

Und dazu als passende Kombination – BTS hören.

Da kommt dann in mir so ein magisches Gefühl hoch. So ein »als ob nichts unmöglich wäre« Gefühl.

Als ob einfach alles passieren könnte. Bislang hatte dieser Sommer mehr Magie – ja, sogar mehr Mögliches - verhieß es als sonst. Aber dann, als sich dicke Wolken über uns zusammenzogen, beschlichen mir düstere Vorahnungen.

»Stell dir mal vor, ich sehe die«, sagte ich plötzlich und zwirbelte meine Haare nervös zu einem unordentlichen Knoten. Die ersten Rollbahnen kamen in Sicht und Madison in ihren Adidassneakern gab Gas.

»Wen siehst du?«, sagte sie abfällig.

»BTS. Ach, du hast doch keine Ahnung«

»Ich kenne die jetzt nicht so gut, aber schlecht sind sie nicht. Immerhin kannst du koreanisch« Ja, das konnte ich tatsächlich. Meine Mutter war amerikanischer Abstammung, mein Vater koreanischer. Ich schmunzelte, in der Hoffnung, Maddie würde es nicht sehen. Aber vergebens, natürlich sah sie es, da sie mich schließlich die letzten zehn Sekunden ununterbrochen ansah. Ein weiteres Donnerkrachen ließ mich erschauern. Madison fuhr vor dem wuseligen »Terminal D« vor, doch ich verspürte nicht die erwartete Vorfreude. Ich freute mich natürlich meinen Dad und Seoul zu sehen, aber dieser Flug wollte mich so ins Ungewisse treiben, mich unter eine Decke quälen und dort meinen Rest des Lebens zu verbringen, dass ich am liebsten umgekehrt wäre.

Mit unsicheren Fingern löste ich mich von meinem Gurt. Die ersten Regentropfen klatschten auf die Windschutzscheibe. »Und wenn nun ...«, begann ich.

Plötzlich war meine Kehle trocken und mein Kopf voller Zweifel. »Das sind wohl deine drei Lieblingswörter, hm?«, sagte Madison und nahm ihren mittlerweile wässrigen Eiskaffee aus dem Getränkehalter und nippte daran. Sie starrte mich an und ich bekam es erst dann mit, als ich meinen Kopf soweit leicht drehte, dass ich aus meinen Augenwinkeln heraus erahnen konnte, was sie trieb.

»Was?«, fragte ich mulmig und biss mir auf die Lippen. Sie schluckte kurz.

»Nichts. Ich wundere mich nur so, dass man so auf so BTS-« Sie stockte kurz, da ich ihr einen leicht genervten Blick widmete. »... Ach natürlich, Jimin abfahren kann« Beendete sie schließlich ihren Satz.

Jimin war das Mitglied der Gruppe, bei dem alle Mädchen in Ohnmacht fallen würden. Halb Schwede, halb Kanadier.

Er hatte alles.

Ich kniff meine Augen leicht zusammen.

»Du selber tust es doch auch«, schmetterte ich, woraufhin sie nur brummte.

»Vielleicht ist das hier doch ein Fehler ...«

»Okay. Nein.« Madison schüttelte ihren Kopf. Ihr seidiges Haar wusch ihr dabei über ihre gebräunten Schultern. »Das hier ist kein Fehler. Es ist dein Schicksal«

Sie riss ihre stark geschminkten Augen auf und sah mich so eindringlich an, dass ich das Gefühl bekam, sie würde mich jede Sekunde aus dem Auto stoßen. »Denk nicht an deine Mum. Das wird der beste Sommer, den du je erlebt hast, Juhee« Sie kicherte und ich musste einfach lächeln.

Ich spürte, wie ich mich entspannte. »Du findest einen hinreißenden schwedischen Freund«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »...und Park Jimin oder BTS verblassen in der Erinnerung.«

»Nein, spinnst du?«, schnaubte ich. Heiß kroch mir die Röte über den Nacken. Natürlich musste Madison jetzt auf meinen immer noch hoffnungslosen Langzeitschwarm anspielen.

Ich dachte an Jimin.

An seine dunklen Augen, den hellen Hautton und seine Brillanz, die ihn wahrscheinlich als damals Jahrgangsbesten abschließen ließ.

»Der Aufenthalt in einem anderen Land würde mich nicht schlagartig für die männliche Bevölkerung wahrnehmbar machen«, merkte ich an. Madison seufzte. Trotzdem verspürte ich einen zaghaften Hoffnungsschimmer. Das reichte, um Mums Sorgen vorläufig zu zerstreuen.

Ich stopfte meinen Pass wieder in die Tasche zurück, die ich mir über die Schultern hing.

»Aber danke« Ich lehnte mich über den Schalthebel und zog sie heftig an mich.

Ihr vertrautes blumiges Parfum stieg mir in die Nase. »Du fehlst mir jetzt schon«

»Du mir auch und jetzt geh!«, sagte sie und befreite sich aus meinem Griff. Sie nickte Richtung Terminal.

»Schreib mir, wenn du – oh, das wirst du da nicht können«

»Ich rufe an«, versprach ich.

»Und maile. Und gucke auf Instagram. Bedenklich oft« Ich hörte Madison lachen, als ich die Autotür aufmachte. Kalter Regen trommelte mir auf Beine und Füße, und ich bereute, nur Shorts und Sneaker zu T-Shirt und Kapuzenjacke zu tragen.

Ich zog den Reißverschluss der Jacke hoch, rannte zum Kofferraum und hievte meinen Koffer raus, um ihn zu den Glasschiebetüren des Terminals zu zerren. Ich holte tief Luft und betrat den neongrellen Flughafen. Mein Herz schlug Purzelbäume vor Aufregung, als ich die Kontrollen eilig hinter mir ließ. Meine Tasche schlug mir gegen die Hüften, als ich auf mein Gate zulief, und ich dachte an die alles verändernde E-Mail, die mir mein Dad im April geschickt hatte.

Verschwitzt und aus der Puste erreichte ich mein Gate. Mein Flug, »Delta 022« direkt zum Flughafen Incheon, war zum Boarding aufgerufen. Während ich verschnaufte, guckte ich aus der breiten Fensterfront, auf das Rollfeld, die genau vor mir lag. Da stand das Flugzeug. Komplett weiß, ein großer Schriftzug mit Scandinavian darauf abgebildet, ein blaues Heck mit dem Schriftzug SAS, rote Turbinen und mit Regentropfen gesprenkelt.

Ich hatte es geschafft.

Ich stellte mich in die lange Schlange, hinter eine Mutter und ihrer kleinen Tochter, die sich auf Schwedisch unterhielten.

Ich verstand jedes Wort. Sie redeten über das schlechte Wetter.

Ich döste vor mich hin und schwelgte in Gedanken von BTS. Ehe ich mich versah und aus meiner »Trance« aufwachte, bemerkte ich, wie die Mutter und ihre Tochter in der Schlange ein ganzes Stück aufgerückt waren, zwischen uns eine große Lücke war und ich mich beeilen sollte diese zwischen uns zu schließen. In diesem Moment sah ich einen gewaltigen Blitz am Himmel über dem Rollfeld zucken. Ich schnappte nach Luft. Wie ein Pfeil schoss die Angst durch mich hindurch. Auch die Leute um mich herum zuckten schlagartig zusammen.

Ich werde fliegen!

Doch auch die Angst vor dem Gewitter würde mich nicht aufhalten, zu fliegen, genauso wenig wie Mums Billigung, selbst mit meinem anhaltenden Zweifeln und der Nervosität, selbst mit den Gewittern wollte ich die Reise unbedingt machen. Die schwedische Mutter rückte vor. Sie nahm ihre Tochter bei der Hand. Ich sah, wie sie dem Angestellten die Bordkarten reichte und durch die offene Tür ging. Jetzt war ich dran. Aufregung durchzuckte mich, als ich mit gezückter Bordkarte einen Schritt nach vorne machte.

Mein Handy hielt ich immer noch in der anderen Hand. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Doch dann summte mein Handy.

Ein Anruf.

Ich hielt inne und schaute darauf. Das müsste Mum sein.

Aber nein. Die Vorwahl zeigte »+82«. Aber Moment mal, das war die Vorwahlnummer von Korea.

Hatte sich jemand verwählt?

Rief Mum von einem anderen Anschluss an?

Quatsch!

Sollte ich rangehen? Oder es einfach ignorieren? Eine Entscheidung war gefordert.

Ein behäbiger Mann mit einem Koffer schnaubte laut und ging um mich herum.

Er ließ seine Bordkarte scannen und ging durch die offene Tür. Noch mehr Leute zogen an mir vorbei.

Ich aber blieb reglos stehen, wie ein Pfahl, den man in einen Fluss gerammt hätte.

»Summ, summ, summ«

»Dies ist der letzte Aufruf für Flug 022!«, sprach die Airline-Angestellte in das Mikro auf ihrem Tisch und sah mich dabei an. Sie war zu stark geschminkt und trug ein enges hellblaues Kostüm und Schuhe mit megahohen Absätzen. »Ich wiederhohle, der letzte Aufruf«

Mein Handy summte weiter. Ich sollte es ignorieren. Der Akku war fast leer und laut Flugplan starteten wir in zwei Minuten.

Anderseits ...

Was wäre wenn? Was, wenn das hier wichtig ist? Was, wenn mein Leben eine ganz andere Richtung

nehmen würde, wenn ich diesen Anruf annehme? Die Boardingfrau guckte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Mein Handy summte.

Mein Herz raste.

Draußen krachte der Donner.

Und ich ...

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