42. Kapitel

Juhee

... ja, Schatz. Das klingt komisch. Aber ich bin froh, dass Du meinen Brief endlich gefunden hast. Ich wollte Dich schonen und Dir Zeit geben, bis Du alt genug bist – denn nur Du kannst ihn stoppen. Dein Vater hat schon viel Salz in Wunden gestreut und sieht sich damit zufrieden. Er ist unberechenbar und skrupellos in so vielen Sachen. Ich hoffe, dass Du das nicht an Dir spüren musstest.

Während Juhee vorlas, schlug ich mir die Hand vor den Mund. Meine Freundin rieb sich die Augen, als konnte sie nicht glauben, was in dem Brief ihrer Mutter geschrieben stand. Als sie ihre Mutter angerufen hatte, war diese erleichtert. Ich konnte Juhee ansehen, wie verwirrt und baff sie war.

»Das war noch nicht «, sagte Juhee und reichte es an Jae weiter. Mit einer Hand krallte sie sich in Jimins Bein. Er saß im Wohnzimmer neben ihr und hatte einen Arm um ihre Schulter gelegt. Er drückte sie kurz, während Jae mir den Brief mit zitternden Fingern entgegengibt.

Ich überflog den Brief bis zu der Stelle, die Juhee laut vorgelesen hatte. Als ich an einer neuen Stelle angelangen war, hob ich den Zettel höher.

Dieser Brief ist geheim. Niemand weiß hiervon und auch, was eigentlich in der Box ist. Wir haben das Jahr 2000 und sind gerade Jongdaes Eltern. Ich schreibe Dir in der Hoffnung, dass Du diesen Brief irgendwann zu Gesicht bekommst. Ich habe meinen Ruf fast zerstört, als ich die inoffiziellen Dokumente, die echten, geklaut habe. Diese Kiste habe ich heimlich versteckt und so präpariert, dass sie kaum find bar ist, wie Du sicherlich festgestellt hast.

Pass auf Dich auf, mein Kind. Und nehme mir das bitte nicht übel, dass ich es Dir nicht schon viel früher erzählt habe.

In Liebe, Deine Mum

Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals. »Ich glaube das nicht«, flüsterte ich. »Das ist echt krass. Deine Mutter ist echt mutig.«

»Weil sie ein Ziel hatte«, sagte Jimin sanft.

Tränen stiegen in Juhees Augen auf und lassen ihrer Mutters Worte vor ihnen verschwimmen. Hastig reichte ich den Brief zurück an Juhee, die zu meiner Rechten saß und die ganze Zeit erstaunlich still gewesen war.

»Ich kann nicht glauben, dass sie dieses Teil aufbewahrt hat«, sagte Jae und strich mit den Fingern über das Schmuckkästchen. »Das muss bestimmt uralt sein.«

Juhee schluckte schwer. »Wenn sie diese Dokumente mit solcher Sorgfalt versteckt hat, würde das ja bedeuten ...«, fing Juhee mit belegter Stimme an.

»... dass die anderen Dokumente gefälscht sind«, beendete Jimin den Satz. »Das, in denen eine Lüge aufgetischt wurde. Das ist hochgradiger Betrug.«

»Diese Dokumente wurden aber nicht von seinem Anwalt beglaubigt«, sagte Jae plötzlich neben mir und deutete mit gerunzelter Stirn auf das Blatt in Juhees Hand. »Sondern von einem Park Minsoo.«

Juhee und Jae tauschten einen Blick.

Meine Freundin wirkte ein wenig verwirrt, da sie nicht im Geringsten so viel wusste, wie ihr Halbbruder.

»Das war sein vorheriger Anwalt«, sagte Jae dann langsam. »Und der unserer Großeltern. Er ist vor ein paar Jahren gestorben, woraufhin sie Mortensen eingestellt haben.«

Ich stieß ein fassungsloses Lachen aus. »Ich glaube das nicht.«

»Was?«, fragte Jae und wusch sich über die Augenwinkel.

»Seoyoung hat Jongdae in der Nacht vor meiner Ankunft zu Mortensen gefahren. Er hat ihn um Hilfe und Diskretion gebeten. Mit Sicherheit haben sie die Dokumente gefälscht.«, sagte Juhee.

Ich hielt die Luft an. »Glaubst du, Jongdae wusste, dass es soweit kommen würde?«

Jae erhob sich von dem Sessel, auf dem er die ganze Zeit gesessen hatte. »Er muss zumindest etwas geahnt haben.«

Ich warf Jimin einen Blick zu. Er wirkte genauso überwältigt von der Situation wie ich.

»Aber ... wenn Mum die ganze Zeit wusste, dass es so war – wieso hat sie Jongdae dann nie davon abgehalten«, fragte Juhee nachdenklich.

»Weil sie dich beschützen wollte«, sagte Jimin leise. Er fuhr sich einmal durch die Haare und schluckte schwer. »Wir werden unseren Anwalt kontaktieren. Er soll sich darum kümmern, dass die richtigen Dokumente in Kraft treten können.«

Juhee griff nach der Hand ihres Halbbruders, genau im selben Moment, als er nach ihrer griff. Während Jae nebenbei den Anruf tätigte, klammerten sie sich aneinander fest. Ich glaubte, ihnen war klar, dass sie jetzt noch enger zusammenhalten mussten als je zuvor.

Jae

Juhee trug einen weißen Hosenanzug, in dem sie ungewöhnlich gut aussah. Ich hatte mich in einen schwarzen Anzug geworfen.

»Ich werde dann hier warten« Jimin nickte uns zu.

Wir teilten einen Blick und schmunzelten.

Es dauerte eine Weile, bis Dads Assistentin uns empfing und uns bat, ihr zu folgen. Sie öffnete die Tür für uns, und nacheinander betraten wir das Büro. In meiner Brust breitete sich ein beklemmendes Gefühl aus, als ich meinen Vater erblickte – mit Danbi.

»Womit habe ich diese Überraschung verdient?«, fragte er spöttisch. Er machte sich nicht mal die Mühe, vom Schreibtisch aufzustehen.

»Schön euch zu sehen, Kinder«, sagte meine Mutter.

Juhee ging mit einer Gelassenheit durch den Raum, die ich bisher noch nie an ihr gesehen hatte. In diesem Moment wirkte sie, als hätte sie die Oberhand. Wahrscheinlich, weil sie wusste, wie man zu Dad durchdringen konnte.

»Wir müssen uns unterhalten, Ragnar«, sagte sie und Danbi zuckte mit den Brauen. Juhee setzte sich auf den zweiten Stuhl, ich blieb hinter ihr stehen und stützte mich auf die Lehne.

Dad sah zwischen meiner Halbschwester und mir hin und her. Danbi folgte ihm. Ich konnte seinen Blick nicht einordnen. Ob er wusste, was auf ihn zukam?

»Wir haben das hier gefunden«, sagte Juhee und öffnete ihre schwarze Tasche. Sie holte eine Kopie von Dads Dokumenten heraus und schob sie zu meinen Eltern.

Ich beobachtete seinen Gesichtsausdruck ganz genau. Erst blinzelte er perplex. Im nächsten Moment wich jegliches Blut aus seinen Wangen. Er zog die Kopie dichter an sich heran, und überflog sie.

»Was soll das sein?«, fragte Danbi und blickte zu uns auf.

»Das ist eine Kopie von gefälschten Dokumenten – Erpressungen«, gab Juhee ruhig zurück. »Was die Frage aufwirft, welches im Juni verlesen wurde.«

Dads linkes Auge begann zu zucken. Er hob die Hand und strich sich damit über das gegelte Haar. Dann schluckte er hart und presste die Lippen zu einer feinen Linie zusammen. Damit war eigentlich alles gesagt. Trotzdem brauchte ich Gewissheit.

»Hast du Dokumente gefälscht? Hast du -« Danbi wusch sich einmal über das Gesicht. »Das kann jetzt nicht wahr sein, Ragnar«

»Hast du Dokumente gefälscht? Hast du erpresst?«, wiederholte ich die Sätze und überraschte mich damit selbst, wie eiskalt und emotionslos meine Stimme war.

Mein Vater sah mich an. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Anscheinend hatte es ihm die Sprache verschlagen.

»Ich habe dich etwas gefragt.« Ich sah meinen Vater eingehender an. Inzwischen hatten sich feine Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet, und das, obwohl er immer noch kalkweiß im Gesicht war.

»Hast du Min Shiwons Dokumente für dich gefälscht und ihn erpresst, nur um Anteile vom BigHit Entertainment übernehmen zu können?«

»Mir blieb keine andere Wahl«, sagte er schließlich.

Juhee atmete scharf ein und Danbi stützte nur kopfschüttelnd ihr Gesicht in die Hände.

Ich dagegen umklammerte die Stuhllehne so fest, dass das Leder unter meinen Fingern knirschte.

»Warum?«, fragte meine Mutter bemüht ruhig.

Mein Vater sah erst sie an, dann uns. »Ich habe nicht vor mein Leben lang für Nichts und wieder Nichts zu schuften, um am Ende dann doch mit leeren Händen dazustehen.«

»Min hätte dir mit Sicherheit einen Teil seiner Anteile überschrieben, da du so fleißig warst, wenn er nicht ganz genau gewusst hätte, wie gierig du bist«, sagte Juhee energisch.

»Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wovon du sprichts!«, zischte Dad. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.

»Wir hatten immer einen Plan. Warum entscheidest du dich für diesen sinnlosen Weg?«, schnaubte Mum vor Wut.

Ihre Schultern spannten sich immer mehr an. Ich konnte spüren, dass sie am liebsten aufgestanden und aus dem Raum gegangen wäre, wahrscheinlich, um sich die letzten guten Erinnerungen an Dad, die sie noch hatte, zu bewahren. Mir ging es ganz genauso. Gleichzeitig wusste ich, dass wir das hier durchstehen mussten. Sonst konnten wir niemals unbeschwert in die Zukunft blicken. Allein schon BTS zu Liebe wert.

»Und wieso wolltest du mich um jeden Preis an das Entertainment ketten?«, fragte Juhee. »Du hattest damals noch nicht mal Anteile, die hattest du noch nie!«

Dad schnaubte verächtlich. »Weil du immer das gemacht hast, was ich gesagt habe. Weil es nur ein bisschen Gewalt gekostet hat, um dich in die richtige Richtung zu lenken. Es wäre besser für mich und das Entertainment, wenn du Min Shiwons Platz füllst und nicht so jemand, der einen eigenen Willen hat und diesen ständig versucht durchzudrücken.«

Trotz allem, wie führsorglich Dad damals mit mir all die Jahre umgegangen war, spürte ich einen schmerzhaften Stich in der Brust, als die Bedeutung seiner Worte zu uns durchdrangen.

Sie zeigten mir, wie wenig er Juhee doch nur lieben musste. Und mich. Wie konnte sich ein Mensch nur in so kurzer Zeit um hundertachtzig Grad drehen?

Und obwohl ich geglaubt hatte, dass Juhee schon lange mit ihm abgeschlossen hatte, zerriss etwas in mir, als sein Blick ihren emotionslos kreuzte.

»Du bist eine Schande für diese Familie, Ragnar«, sagte Mum plötzlich tödlich leise. »Du hast es nicht verdient, in irgendwelche Fußstapfen zu treten.«

Daraufhin sagte er nichts mehr.

»Schämst du dich denn überhaupt nicht, Dad?«, fragte ich mit bebender Stimme.

»Ich habe nur getan, was ich für richtig gehalten habe.«

»Dann ist dein moralischer Kompass ganz schön verkehrt ausgerichtet«, gab ich zurück.

»Deine Mutter würde sich schämen, wenn sie dich so sehen würde«, setzte ich hinterher.

»Das ist ja schön und gut. Ich frage mich nur, was ihr jetzt mit dieser Information anfangen wollt.« Er hob eine Augenbraue, aber sein überheblicher Blick hatte die Wirkung verloren. Es war, als wäre das Bild, das ich immer von meinem Vater hatte, endgültig zerplatzt und als hätte ich jetzt gesehen, was sich in Wahrheit hinter seiner Fassade verborgen hatte. Ich erkannte nun sein wahres Ich – und es war kein schöner Anblick. Im Gegenteil. Ich fragte mich, wie ich überhaupt so lange an ihn hatte glauben können.

»Wir haben jetzt mehrere Möglichkeiten, Jongdae«, sagte Juhee. »Die erste: Du ziehst dich aus dem Unternehmen zurück und überlässt die Führung Min Shiwon. So, wie es eigentlich vorgesehen ist und der mich übrigens auch nur unter deiner Macht erpresst hat.«

Der Raum war von Stille erfüllt. Ich konnte es hinter Dads Augen arbeiten sehen.

»Das ist leider keine Option für mich«, sagte er nach einer halben Minute.

»Schön, wenn das so ist, ist Shi-hyuk bereit ein Verfahren für die neue Geschäftsleitung einzuleiten. Er hat mir zugesagt, gegen dich auszusagen, sollten wir im Gegenzug darauf verzichten, ihn anzuzeigen. Er wird sagen, dass du ihn erpresst und gezwungen hast, die falschen Dokumente, inklusive Erpressungen zu verlesen. Deine Chancen, den Fall zu gewinnen, liegen aufgrund der Beweislast nahezu bei null, Ragnar. Und du kannst dir vorstellen, was passiert, wenn die Presse Wind davon bekommt.«

Dad sank den Kopf auf den Schreibtisch. Er schluckte schwer und lockerte die Hände, bis sie flach auf der weißen Unterlage lagen. Als er wieder hochsah, wappnete ich mich für alles. Auch für den Fall, dass ich kämpfen musste. Doch als er erst Danbi und dann Juhee ansah, meinte ich fast, so etwas wie Bedauern in seinem Blick entdecken zu können.

»Ich würde es begrüßen, wenn wir die Presse aus alledem raushalten könnten«, sagte er schließlich.

In diesem Moment wusste ich: Wir hatten gewonnen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top