21. Kapitel
Juhee
Es war schon spät, ich musste mich beeilen. Ich lief aus der Bäckerei, tauchte unter den Fahnen hindurch die an der Tür hingen und rannte mit meinem duftenden Hotteok die Straße entlang. Ich entgegnete nur knapp einem Auto, das über das Kopfsteinflaster der Straße rumpelte. Mein Magen war ein Knäuel unter Strom stehender Kabel und Schweiß rieselte mir den Nacken herunter.
In vier Minuten sollte Jimin mich eigentlich abholen. Bitte, mach, dass er nicht pünktlich ist, betete ich in Dads Haus presche. Ich blieb in der Küche stehen, wo ich mein Frühstück verschlingen wollte. Aber ich war so nervös, dass ich nichts runterbekam. Es war blöd von mir in die Bäckerei zu gehen.
Ich hatte gedacht, ich könnte alles so machen wie sonst auch. Aber dann hatte ich hinter der Verkäuferin die Uhr an der Wand gesehen und war in Panik geraten. Ich schmiss das ungegessene Hotteok auf den Küchentisch und stampfte die Treppen hoch. Ich hatte viel länger geschlafen, als ich wollte. Die ganze Nacht hatte ich wach gelegen und mich hin und her gewälzt zwischen Freude und Angst, bis ich endlich gegen Morgen eingeschlafen war.
Klopf, klopf. Klopf, klopf.
Unten war jemand.
Er ist pünktlich, dachte ich frustriert, während ich mir hastig mit der Bürste durch die Haare fuhr und das Lipgloss aus meinem Waschbeutel grub. Ich fuhr mir damit über die Lippen und schnappte meine Umhängetasche. Ich sprintete anschließend die Treppen herunter, wo ich abrupt zum Stehen kam.
Die Haustür stand offen und Jimin lehnte bereits in einer coolen Pose darin, die Arme über der Brust verschränkt.
»Hallo, Juhee«, begrüßte mich Jimin und ging mir entgegen, bevor ich mich überhaupt körperlich sowie geistig betätigen konnte.
»Komm rein.«, winkte ich ihm zu, aber da er ja sowie so schon im Haus war, war meine Geste irgendwie überflüssig. Ich ging in die Küche, um wenigstens einmal vom Hotteok abzubeißen. Langsam drehte ich mich zu Jimin um und schon packte er mich bei der Hand und zog mich aus dem Haus. Meine Laune wurde von Sekunde zu Sekunde besser und ich folgte Jimin zu seinem Motorrad, welches er auf der anderen Straßenseite geparkt hatte. Es gehörte also ihm! Die Maschine glänzte weiß und schnittig war sie auch noch. Zwei weiße Helme lagen auf dem Sitz. Als er mir einen reichte, zögerte ich. Sonst wurde ich immer von Dad gebracht, mal abgesehen von Seokjin-, oder fahre eigenständig mit dem Fahrrad, aber ein Motorrad ist und war etwas ganz anderes, schien mir – schneller, wilder, unheimlicher.
»Komm schon, du wirst es toll finden«, versicherte mir Jimin, seine Augen funkelten übermütig-, währenddessen er mir einen der Helme reichte. Ich wusste nicht recht, aber da ich schon so mutig war, diesen Schritt zu machen – also: raus aus meinem Schneckenhaus und auf einen Ausflug mit einem Jungen-, atmete ich durch und stülpte den Helm über den Kopf. Er passte gut und dämpfte das Vogelgezwitscher ab. Jimin behelmte sich ebenfalls und schaffte es sogar gut auszusehen, während er den Kinnriemen strammzog. Dann sprang er elegant aufs Motorrad. Ich kletterte hinter ihn, ungeschickt und vorsichtig, meine Tasche zog ich auf den Schoß, und achtete darauf, dass das Kleid nicht hochrutschte. Ich war froh, ihm nicht gegenübersitzen zu müssen!
»Aber eins solltest du wissen, bevor wir losfahren.«, sagte Jimin und ließ den Motor aufheulen.
»Ja?«, sagte ich über den Lärm hinweg. Mein Bauch krampfte sich zusammen. Beim Grinsen erschien ein Grübchen auf seiner Wange.
»Du siehst heute sehr hübsch aus.«
Moment mal. Was war das? Mein Herz schoss mir in den Mund und machte mich sprachlos. Ich musste mich verhört haben. Der Helm, der Motor, die Hitze heute – ich hatte Halluzinationen. Akustische Halluzinationen. Gab es das? Musste es geben, denn ich war ja ich. Lee Juhee, die, die für Jungs ist. Nicht hübsch. Obwohl ... wenn doch?
Was, wenn ich richtig gehört hatte? Mein Puls hämmerte. Ehe ich Jimin bitten konnte, das doch noch mal zu wiederholen, guckte er schon wieder nach vorne und wir sausten davon.
Die Geschwindigkeit des Motorrads entsprach der meines Herzschlages. Und das schwindelerregende Gefühl, das sich in mir breitmachte, als wir die Straßen entlangflitzen, passte zu dem, was sich in meinem Kopf abspielte. Ich hatte Mühe die Füße auf den Fußstützen zu halten, und dann – ohne nachzudenken – schlang ich die Arme um Jimins Hüften.
Oh mein Gott.
Ich war geschockt von meiner eigenen Kühnheit. Dabei schein mir jetzt nichts mehr unmöglich. Ich spürte die Wärme von Jimins Rücken durch sein T-Shirt und lächelte vor mich hin, als wir durch die Innenstadt Seouls runterflitzten. Alle Geschäfte und Cafés waren heute mit schwedischen Fahnen und gleichfarbigen Wimpeln geschmückt. Wir ließen die Innenstadt hinter uns und schossen hinaus auf die offene Straße. Der Wind pfiff in meinen Helm und peitschte gegen Arme und Beine, ein ängstigendes Gefühl – und befreiend. Nichts als azurblauer Himmel und dunkelgrüne Zypressen um uns herum, gelegentlich kam ein Auto oder Motorrad vorbei. In der Ferne lagen Berge. Die grüngrauen Berge, die ich auf der Autofahrt mit Dad vom Flughafen aus gesehen hatte. Da war ich noch eine ganz andere Juhee, eine, die sich nie hätte vorstellen können, hinter einem Jungen auf dem Motorrad zu sitzen und sich an ihm festzuhalten. Wenn diese Juhee mich doch nur jetzt hätte sehen können.
Jimin steuerte das Motorrad rotierend nach rechts und wir »kletterten« beige Felswände hinauf. Ich vergaß ganz Angst zu haben, weil der Ausblick so hinreißend war – andere cremefarbigen Felsen ringsherum und in der Tiefe ein Streifen türkisenes Wasser. Schließlich erreichten wir ein Plateau und gelangen hinter einer Kurve auf einen von Bäumen beschatteten Weg. Vor und lag ein kleines weißes Gebäude mit Säulen. Von der Fassade hing ein Banner mit der Aufschrift »PERROTIN SEOUL«. Wiederstrebend ließ ich seine Hüften los. Ebenso nahm ich den Helm ab, denn ich wusste, dass meine Haare garantiert statisch aufgeladen waren und zu Berge stehen würden.
Aber als Jimin seinen Helm absetzte – seine Haare sahen natürlich so attraktiv verwuschelt aus wie immer -, drehte er sich um und grinste mich an, und da fiel mir wieder ein, was es vorhin gesagt hatte: sehr hübsch. Ich musste einfach zurückgrinsen und eine leichte röte zog über mein Gesicht. Jimin reichte mir seine Hand und half mir, als ich vom Motorrad hüpfte. Und er ließ meine Hand nicht wieder los.
Mir schwirrte der Kopf. Ich stellte mir vor, Madison zu simsen: Ich halte Händchen! Mit einem echten Jungen! Park Jimin!
Was sie wohl gerade so tat? Aber nun, nachdem ich schon die Arme um ihn geschlungen hatte, fühlte es sich gar nicht mehr so fremd und unmöglich an, seine Hand zu halten. Immer noch händchenhaltend gingen wir beide auf die Galerie zu, und mich erfasste eine Aufregung, die nicht mit Jimin an sich zu tun hatte. Ich war nämlich noch nie in einer Galerie, sprich einem Kunstmuseum. Wir stiegen die Stufen hoch und betraten den kühlen Marmorflur.
Hier war ein Informationstresen, und auf einem Schild an der Wand stand »Fotografieren verboten« neben einer Zeichnung einer Kamera, die rot durchstrichen war. Oh, ich konnte also keine Fotos machen. Vom Foyer aus blickte man in weitläufige Räume mit gerahmten Gemälden auf weißen Wänden. Das hatte was.
Außer mir, Jimin, der Frau hinter dem Infotresen und einem verschlafenden Wachmann schien die Galerie leer zu sein.
»Warst du schon mal hier?«, fragte ich Jimin. Hoffentlich merkte er nicht, dass ich vor lauter Nervosität feuchte Hände bekam.
»Schon lange nicht mehr«, antwortete Jimin, während wir uns der Information näherten.
»Und willst du auch mal Maler werden?«, fragte ich ihn, als wir den ersten Raum betraten.
»Nein, auf keinen Fall« Jimin lachte. »Willst du Maler werden - wie Jungkook?« Er senkte den Blick.
Ich schüttelte den Kopf. Gerade wollte ich ihm sagen, dass ich null künstlerisches Talent hatte, als ich ein Bild entdeckte, das mir bekannt vorkam: Königin Josephine, sitzend und ganz in schwarz weiß
Es war wunderschön.
»Gefällt es dir?«, fragte er.
»Ja sehr. Ich mag die Farben mit denen es gemalt wurde. Es ist ein bisschen verwaschen und die Striche sind so grazil und präzise.« Als ich bemerkte, wie Jimin mich angrinste, schaute ich fragend zurück.
»Was ist?«
»Ich mag es, dich beim lauten Denken zu beobachten. Deine Augen strahlen dann immer so wunderschön.« Er wandte sich dem Bild zu. »Die Welt mit deinen Augen zu sehen ist faszinierend.«
»Das sagt der Sänger einer internationalen Band.«, lachte ich. »Du siehst jeden Tag unglaubliche Dinge.«
»Ich sehe jeden Tag Tanzstudios, Aufnahmestudios und Konzertbühnen. Außerdem ist es etwas anderes.«
»Was ist anders?«
»Mit dir. Mit dir ist einfach alles anders.« Er trat dicht an mich heran. »Sag mir, Juhee. Was hast du an dir, dass mich so in deinen Bann zieht? Was macht dich so einzigartig?«
»Ich ... ich weiß es nicht«, hauchte ich und ignorierte das schlagende Herz in meiner Brust.
»Ich schon.« Er legte den Kopf schief. »Lass uns weitergehen.«
Danach gingen Jimin und ich in den zweiten Raum und ich blieb stehen. Ich rang nach Luft. Denn ich sah es. Direkt vor mir, mitten auf der Wand, in einem goldenen Rahmen, war ...
Nun ja, da war ich. Mein Herz machte einen Satz und ich stürzte drauf zu, ganz egal, ob albern oder nicht. Da war ich: ein heranwachsendes Mädchen mit ernstem Gesicht und langen schwarzen Haaren.
Ich trug ein weißes Kleid mit einem runden Kragen und stand mit dünnen, herunterhängenden Armen in einem Garten, voller leuchtenden Feldblumen, teils auch Rosen. Mir rieselte ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als ich sah, wie der Künstler dieses Portraits hieß: Jeon Jeongguk
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