41. Kapitel
Jimin
Ich saß auf den kalten Stufen vor dem Haus der Lees und sah auf die Uhr.
»Sie müsste gleich kommen«, sagte Jae, der neben mir hockte und wir die Zeit totschlugen. Ja, es klang verrückt, aber Jae war uns eine große Hilfe, denn er wollte vor allem seiner Schwester helfen, da er von all den Problemen erfahren hatte.
»Gib ihr Zeit« Madison schaute um die Hausecke. Als beste Freundin war sie sicherlich auch nützlich.
Juhee hatte mir vor über einer Stunde geschrieben, dass sie sich auf dem Nachhauseweg befand, und mich gefragt hatte, ob ich vorbeikommen wollte. Ich hatte keine Sekunde gezögert.
Das, was ich heute Mittag zu ihr gesagt hatte, hatte ich ernst gemeint. Ich möchte für sie da sein und sie unterstützen – und wenn sie ein schreckliches Meeting überstanden hatte, wollte ich wenigstens, nach all dem hier, einen schönen Abend mit ihr verbringen, bevor der ganze Kreislauf von vorn begann.
Wir mussten nicht lange warten, bis wir den Rolls-Royce in der Auffahrt zum Haus entdeckten. Ich stand auf und strich mir über die Hose, um mögliche Staubspuren zu entfernen. Seoyoung hielt mit dem Wagen direkt vor dem Eingang, und wenig später stieg Juhee aus. Obwohl ich wusste, dass sie sich darin alles andere als wohlfühlte, konnte ich nicht leugnen, wie gut ihr dieses hautenge Minikleid stand, den sie für das Meeting anziehen musste. Sie sah aus, als wäre es eigens für Juhees Körper angefertigt worden, und ich schluckte schwer, als ich wieder nach oben blickte und das zweideutige Lächeln auf Juhees Lippen entdeckte.
Ich nächsten Moment kam sie auf uns zu und umarmte uns fest.
»Hey«, murmelte sie in mein Ohr und ich drückte ihr gleich darauf einen Kuss auf den Kopf.
Sie hielt ihn einen Moment lang fest, bevor ich mich zurücklehnte, um ihr ins Gesicht zu sehen.
»Wie wars?«, fragte Jae vorsichtig und klaute mir somit die Worte.
»Kommt«, sagte Juhee und nickte in Richtung Haustür. »Ich erzähle euch drinnen alles. Ist Danbi auch da?«
»Nein, sie ist mit unserem Vater mitgefahren.« Jae strich sich flüchtig über seinen Nacken.
Juhee warf ihm einen kurzen Blick zu und drehte sich dann zu Seoyoung um, der gerade aus dem Wagen ausstieg und sich mit einem Nicken verabschiedete, dann nahm ich sie bei der Hand und gehe gemeinsam mit ihr und den anderen in die Wohnung.
Ich spürte, wie mir Hitze ins Gesicht schoss – genau wie Juhee, auf deren Wangen sich eine leichte Röte ausbreitete. Wir gingen die Treppe hoch, und ich fühle mich wie benommen, als sie dann die Tür hinter uns schloss.
Ich rechnete damit, dass Juhee mich vor Madison und Jae gegen die Wand drückte und besinnungslos geküsst hätte, doch stattdessen griff sie in ihre Tasche und zog etwas heraus.
»Ich muss euch etwas zeigen«, wiederholte sie die Worte, die sie auch schon in der SMS geschrieben hatte.
Fragend sah ich sie an. »Was ist denn los?«
»Nach dem Meeting hat Seoyoung mich abgeholt und wollte mich nach Hause fahren – aber er hat einen kleinen Stopp bei einer Kneipe eingelegt. Und dann hat er mir etwas über meinen Vater erzählt. Etwas, das alles verändern könnte.«
Sie öffnete ihre Tasche und holte etwas hervor – einen kleinen Schlüssel. Sie hielt ihn uns entgegen und Madison drehte ihn in der Hand hin und her. Er sah nicht besonders aus, sondern wie ein ganz normaler kleiner Schlüssel.
»Wofür ist der?«, fragte sie langsam.
»Mum hat Ragnar diesen Schlüssel vor Jahren anvertraut«, erzählte Juhee schnell. Ihre Worte überschlugen sich beinahe. Sie stieß sich von der Tür ab und zog im Gehen ihren Overall aus. Sie ließ sich auf ihr Bett fallen, schlug die Beine übereinander und sah uns wieder an. »Außerdem hat er mir erzählt, dass er Ragnar kurz vor meiner Ankunft zu einem Anwalt fahren musste. Er sagte, es wäre dringend und hat um Diskretion gebeten.«
Ohne es richtig realisiert zu haben, hielt ich den Atem an.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Jae.
Juhee nahm ein Kissen auf ihren Schoß. »Das bedeutet, dass wir herausfinden müssen, was Mum vor Ragnar versteckt hat. Vielleicht hängt der Schlüssel mit Dads Geheimnis zusammen. Vielleicht ...« Ihre Worte verklungen, und sie presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen.
Ich drückte die Schulter. Also umfasste ich Juhees heiße Wangen und gab ihr einen kurzen Kuss. Danach löste ich mich und sah sie ernst an. »Wir werden herausfinden, wofür der Schlüssel ist.« Und die anderen beiden nickten uns zu.
Juhee schluckte schwer und nickte ebenso. Sie nahm den Schlüssel wieder zurück und steckte ihn zurück in ihre Tasche. »Ragnar übernachtet heute in Ilsan. Es gibt keine bessere Gelegenheit, seine Sachen durchzusehen, als jetzt.«
Jae machte ein zustimmendes Geräusch, und dann verließen wir ihr Zimmer. Wir gingen zurück und an der Treppe vorbei in den Teil des Hauses, den ich zuvor noch nie betreten hatte. Der Flur war mindestens genauso lang wie der, in dem Juhees (Jaes) und Zimmer und das Bad lagen, allerdings gab es hier nur eine einzige Tür. Wir kamen davor zum Stehen, und Juhee atmete einmal tief durch. Dann drehte sie den Knauf herum und drückte die wuchtige Holztür nach innen auf.
Es hatte etwas Verbotenes, den Raum zu betreten, mein eigener Herzschlag kam mir viel lauter vor. Atemlos sah ich mich um, als Juhee die Tür hinter uns wieder verschloss und verriegelte. Wir befanden uns in einem schmalen Flur, in dem sich rechts eine Garderobe mit integriertem beleuchtetem Spiegel befand. Auf der linken Seite war eine Tür, die mit Sicherheit in ein eigenes Bad führte. Juhee ging daran vorbei in das Schlafzimmer, und wir folgten ihr.
»Ich muss gestehen, dass ich hier noch nie zuvor reingegangen war«, gestand Juhee. Sie flüsterte, als hätte sie genau wie wir Panik, jeden Moment erwischt zu werden.
»Ich war schon ein paar Mal hier«, beichtete nun Jae und ging durch den Raum zu einem Schreibtisch nah beim Fenster.
»Papa mag es immer, beim Arbeiten nach draußen zu gucken. Jedes Mal, wenn er damals in meinem Zimmer war, hatte er die Nase darüber gerümpft, dass mein Schreibtisch an der Wand steht.« Er betrachtete die Papiere, die auf der Arbeitsfläche lagen, und fächerte die Zettel auseinander. Er überflog deren Inhalt. »Inzwischen möchte ich auch nur noch nach draußen gucken. Wenn ich mal eine eigene Wohnung haben sollte, werde ich das wahrscheinlich auch so machen.
Ich trat zu ihm und gab ihn einen ernstgemeinten Blick. »Wollen wir anfangen?«, fragte ich und drehte mich zu den beiden Mädchen. Juhee verharrte noch einen Moment lang mit der Hand auf einer der Kommoden, bevor sie schließlich tief durchatmete und nickte. »Ja, lass uns anfangen.«
»Wenn wir schon hier stehen ...«, sagte ich und beugte mich zu den Schubladen des Schreibtisches runter. Fragend sah ich Juhee an.
»Tu dir keinen Zwang an.«
Ich nahm all meinen Mut zusammen und öffnete die erste Schublade. Darin befanden sich lauter Notizblöcke und dazu passende Bleistifte. Ich nahm alles heraus, legte es oben ab und tastete dann den Boden ab. Ich klopfte auf die kleine Platte, aber der Laut klang nicht hohl, sondern ganz normal.
»Du siehst aus, als hättest du das schon zigmal getan. Gibt es da etwas, von dem ich wissen sollte?«, fragte Juhee von der anderen Seite des Schreibtisches, wo sie gerade dabei war, das kleine Schränkchen auszuräumen.
»Ich habe genügend Filme gesehen«, gab ich zurück und rüttelte an der Schublade. Nichts tat sich, also räumte ich die Sachen wieder ein, achtete dabei darauf, dass alles genau so lag wie vorher, und schob sie wieder zu. Danach war Schublade Nummer zwei dran.
»Ich weiß nicht, ob ich das beängstigend oder eher heiß finden soll.«
Jae gab ein Geräusch von sich ab und wand seinen Blick zu Juhee.
Ich grinste und zog den Ordner heraus, der sich in der zweiten Schublade befand. Ich blätterte ihn durch, fand aber nichts, was verdächtig aussah, geschweige denn etwas, wozu der kleine Schlüssel passen konnte.
So arbeiteten wir uns vor, bis wir den gesamten Schreibtisch durchgesehen hatten. Am Ende rückten wir ihn sogar nach vorn, um zu schauen, ob dahinter vielleicht etwas versteckt war – jedoch ohne Erfolg. Danach gingen wir zu den Nachtschränken. Spätestens hier verging uns vier die Lust, Witze zu machen, um die Situation aufzulockern. Ich kam mir schäbig dabei vor, als ich den von Mrs Lee öffnete und mich durch Handcremes, vereinzelte Schmuckstücke sowie einen englischen Klassiker wühlte.
»Warum sollte es ausgerechnet bei Mama versteckt sein?«, fragte Jae und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Man weiß nie«, sagte Madison und wühlte währenddessen in einer anderen Schublade herum.
»Hier ist nichts. Auch nicht unter dem Bett«, kam es gedämpft von Juhee. Sie stand wieder auf, ihre Haare komplett verwuschelt.
»Hier auch nicht. Auf zum Kleiderschrank«, fragte ich.
»Ja.«
Als Jae währenddessen die Tür zum begehbaren Kleiderschrank seiner Eltern öffnete, verschlug es mir den Atem. Das Zimmer ist riesig.
Links und rechts befanden sich Kleiderstangen, an denen fein säuberlich gebügelte Kleider und Blusen, Anzüge und Hemden hingen, und Regalfächer, in denen unzählige Schuhpaare standen. Die linke Seite muss Ragnar gehören, und ich kam richtig ins Schwitzen, als ich seine Sachen erblickte.
Juhee ging ein paar Schritte in den Raum und strich über die Hemden.
»Oh Gott, es riecht sogar nach ihm«, murmelte sie heiser.
Ich trat von hinten an sie heran und berührte ihre Schulter leicht. »Wenn du möchtest, dass wir aufhören, musst du nur was sagen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
Ich nickte und stellte mich an das erste Regal.
»Das wird ein Spaß«, lachte Madison ironisch und fing an einzelne Kleidung auszuräumen.
Vorsichtig begann ich, die einzelnen T-Shirts auseinanderzuschieben, um zu schauen, ob zwischen ihnen etwas versteckt wurde. Leider war das nicht der Fall. Ich nahm mir die oberen Fächer vor, an die Juhee nicht herankam, sowie die Schuhregale, doch auch hier hatte ich keinen Erfolg.
»Hier auch?«, fragte Madison und deutete auf die weiß lackierte Kommode weiter hinten im Raum. Juhee nickte, und ihre Freundin betätigte den Drucktüröffner.
Wieder hielt ich den Atem an. Ich wurde förmlich von Schmuck geblendet. Alles leuchtete und funkelte – Broschen, Ketten und Ohrringe.
»Wow«, murmelte Madison.
Juhee kam neben sie und hockte sich zu ihr. »Wie kann das sein? Das ist alter Schmuck von Mama. Ich kann mich sogar an die Anlässe erinnern, zu denen sie sie getragen hat. Ist das merkwürdig?«
Ich schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Aber die Frage ist doch eigentlich die, wie diese Schmuckstücke in Danbi Kommode kommen?«
Wir betrachteten die mit schwarzem Samt ausgelegte Fächer und huben auch diese raus, um nachzusehen, ob sich da runter womöglich etwas befand. Das unterste Fach beinhielt Haarspangen und lauter extravaganten Kleinkram.
»Wieso ist das nur ein halbes Fach?«, fragte ich plötzlich.
Juhee war so sehr damit beschäftigt gewesen, eine glitzernde Spinne zu inspizieren und Madison zu fragen, zu welchem Anlass man so etwas tragen sollte, als dass mir das aufgefallen wäre. Im nächsten Moment beugte sich Juhee vor und zog die Schublade so weit raus, wie es nur ging. Danach schob sie ihren Arm in den Raum zwischen der untersten Schublade und Rückwand des Schranks. Ihre Augen wurden groß.
»Ich glaube, da ist etwas«, sagte sie und beugte sich noch ein Stück weiter vor, bis ihr Arm ganz im Schrank verschwunden war. Ich hörte ein leises Schaben, als Juhee nach dem Gegenstand griff. Ich hielt den Atem an, als sie es endlich schafft und ihr Arm wieder zum Vorschein kam. Dann runzelte ich die Stirn.
»Was ist das?«, fragte ich leise.
Juhee sah genauso verwundert aus. Bei dem Gegenstand handelte es sich um eine kleine Box. Sie war über und über mit kleinen Perlen und Bastelsteinen beklebt – in allen möglichen Farben. Die Schatulle war so bunt und so schrill, dass sie überhaupt nicht zu den anderen Sachen in Kang Danbis Schrank passte.
»Sieht aus wie ein Schmuckkästchen. Aber ... ich glaube nicht, dass das Mum gehört hat. Es sieht irgendwie merkwürdig aus.«, behauptete Jae.
Juhee nickte. Die Steine waren alle so schief aufgeklebt, dass es den Eindruck machte, als hätte sich ein kleines Kind daran ausgetobt. »Hast du sowas vielleicht mal im Kindergarten gebastelt?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Und wenn, warum sollte ausgerechnet so etwas hier versteckt sein?«
»Juhee«, sagte Madison plötzlich. »Dreh sie um.«
Sie kam ihrer Aufforderung nach und erstarrte. Vorn an der Schatulle war ein kleines Schlüsselloch zu erkennen.
»Hast du den Schlüssel?«, fragte ich, doch Juhee hatte schon in ihre Tasche gegriffen und ihn hervorgeholt. Ich glaubte, wir vier hielten den Atem an, als sie ich in das Schlüsselloch steckte – und umdrehte.
Wir tauschten einen Blick, dann öffnete Juhee den Deckel des Kästchens. Ich beugte mich vor.
Darin lag auf dunkelblauen Samt gebettet ein Briefumschlag. Juhee nahm ihn heraus und stellte das Kästchen neben sich auf den Boden. Dann riss sie den Brief langsam auf.
Ich beobachtete Juhee beim Lesen. Sie gab keinerlei Regung von sich. Ich bemühte mich aber darum, abzuwarten und mir nicht anmerken zu lassen, wie unruhig ich war.
Nach geschlagenen zwei Minuten blickte Juhee von dem Brief auf.
»Und?«, flüsterten wir.
»Wir müssen sofort meine Mutter anrufen.« Sie hielt den Brief und ein paar gedruckte Seiten in die Höhe. »Das hier sind Dokumente von Erpressungen.«
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