40. Kapitel

Juhee

Es war wirklich schwierig, sich auf das Vorbereiten der Unterlagen, zu konzentrieren, wenn mir doch Jimin nicht aus dem Kopf gegangen wäre. Dabei habe ich von diesem ganzen Müll gar keine Ahnung und bin eigentlich nur überflüssig und erst recht fehl am Platz.

»Juhee?«, fragte Lim Doyoung und ließ sich mit seiner Stimme das Bild von ihm auf dem Tisch im Büro zerplatzen.

Genau wie alle anderen in diesem Raum sprach er mich mit meinem Vornamen an. Schließlich konnte es nicht zwei Lees geben. Die Mitglieder des Vorstands bemühten sich darum, mich gleichwertig zu behandeln, dennoch spürte ich die Skepsis, die mir entgegengebracht war. Und das, obwohl ich zwei Drittel der Leute in diesem Raum nicht mal kannte.

»Ja?«, fragte ich und beugte mich mit beiden Ellenbogen auf dem Konferenztisch nach vorn, um Interesse vorzuheucheln.

»Ich frage, ob Sie noch etwas hinzuzufügen haben.«

Ich starrte ihn an. Meine Kehle fühlte sich staubtrocken an, als ich merkte, wie still es plötzlich im Raum geworden ist. Ich blickte in die kritischen Gesichter der Männer und Frauen, die um den Tisch herumsaßen. Ich wettete, sie dachten, dass ich keine Ahnung habe, wovon sie gerade gesprochen hatten. Und sie hatten recht. Die hatte ich wirklich nicht.

»Ja.« Das war gelogen. Das Einzige, was ich gemacht hatte, war zu recherchieren, um nicht ganz blamabel zu erscheinen. »Ich möchte, dass wir die Kennzahlen monatlich evaluieren, nicht mehr halbjährig. So können wir schneller reagieren, sollte sich eine Entwicklung abzeichnen, mit der wir nicht gerechnet haben. Und ich finde, der Vorstand sollte dann anwesend sein, nicht nur die Abteilungsleiter.« Das war das Einzige, worüber mich Ragnar informiert hatte. Und ich verstand nicht mal das, was ich gesagt hatte.

Anderssons Mund hatte sich leicht geöffnet, doch er klappte ihn augenblicklich wieder zu und nickte knapp.

Dann machte er sich eine kurze Notiz auf seinem iPad und sah zu meinem Erzeuger am Kopfende des Tisches. Dieser erhob das Wort und faselte irgendwas von bisherigen Maßnahmen. Eine Folie mit Programmierungstechniken und einem dargestellten Bild wurde an die Leinwand vorn geworfen, und ich verbrachte damit, so zu tun, als hätte ich zugehört und mir Notizen gemacht. Aber auf meinem Blatt entstanden nur wilde Kreise. Der Stift in meiner Hand fühlte sich an, als würde er das Tausendfache wiegen, sobald ich auch nur versucht hätte, etwas von dem niederzuschreiben, was Ragnar und die anderen besprachen. Einmal erwischte ich den alten Kerl neben mir dabei, wie er seinen Blick auf mein geöffnetes Notizbuch warf und dann missbilligend die Mundwinkel verzog.

Ich klappte es zu und starrte von da an nach vorn, ohne den Stift noch ein einziges Mal angerührt zu haben.

Die längsten eineinhalb Stunden meines Lebens endeten irgendwann. Zwei der Anwesenden gingen zu Jongdae nach vorn und verwickelten ihn in ein Gespräch, während ich aufstand und die Arme über dem Kopf ausstreckte, um die Steifheit irgendwie aus meinen Gliedern zu bekommen. Mein Erzeuger warf mir einen strengen Blick zu, und ich ließ sie wieder sinken. Danach wartete ich auf ihn, mit durchgedrücktem Rücken, mein Notizbuch in der Hand. Jongdae deutete seinem Kollegen an, kurz zu warten. Anschließend kam er zu mir.

»Du fährst mit Seoyoung nach Hause. Ich muss noch was erledigen. Es wird spät, ich bleibe über Nacht in Ilsan.«, sagte er und nickte mir knapp zu.

Was um alles in der Welt?

Damit war ich entlassen. Ich verabschiedete mich flüchtig und fuhr die vielen Stockwerke mit dem Aufzug nach unten. Eine unglaubliche Erleichterung überkam mich, als ich durch die Drehtüren nach draußen trat und die frische Abendluft inhalierte. Seoyoung, mein Fahrer, den ich jetzt offiziell hatte, lehnte bereits am Auto und richtete sich auf, als er mich sah. Er öffnete mir die Tür, und ich ließ mich auf die Rückbank fallen. Jetzt, wo ich mich hinter abgedunkelten Scheiben befand, konnte ich endlich den lästigen Gürtel lockern, der mir schon seit Stunden den Bauch abgeschnürt hatte.

»Alles in Ordnung, Madam?«, fragte Seoyoung mich, und unsere Blicke trafen sich im Rückspiegel.

Ich konnte nur mit den Schultern zucken. Keine Ahnung, was ich auf diese Frage hätte antworten sollen. Es fühlte sich an, als hätte ich mich von morgens bis abends zutiefst deprimiert.

Ich lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Als ich sie irgendwann wieder geöffnet hatte, fühlten sie sich trocken und müde an. Ich musste eingenickt sein. Mit beiden Händen rieb ich mir übers Gesicht und schaute nach draußen. Wir kamen gerade am Schild mit dem Aufdruck des Bezirk Itaewon vorbei - doch statt die Ausfahrt zu nehmen, fuhr Seoyoung daran vorbei.

»Du hast die Ausfahrt verpasst, Seoyoung«, sagte ich rau und beugte mich vor zur Minibar, um mir eine der kleinen Wasserflaschen herauszunehmen. Ich leerte sie in einem Zug, in der Hoffnung, dass sich meine Kehle danach nicht mehr wie ein Reibeisen anfühlte. Dann sah ich wieder nach draußen. Bei der nächsten Ausfahrt fuhr Seoyoung ab, bog dann aber direkt links ab. Es folgten zwei weitere Abzweigungen, die ganz eindeutig nicht zurück zur Hauptstraße führten.

»Seoyoung«, sagte ich erneut und checkte das Lämpchen an der Decke des Wagens. Es leuchtete, als musste er mich gehört haben.

Eine Reaktion bekam ich dennoch nicht. Stattdessen lenkte er den Rolls-Royce auf den Parkplatz vor einer kleinen Kneipe. Stirnrunzelnd betrachtete ich das gelbliche Licht, das durch die Fenster nach draußen schien.

Ich wollte Seoyoung fragen, wo zum Teufel wir hier waren, doch er kam mir zuvor:

»Ich muss mit Ihnen reden, Frau Lee.«

Die Kneipe war klein mit engen Gängen, bei denen ich mich unweigerlich fragte, wie die Kellner mit dem Tabletts durchkommen würden. Außer Seoyoung und mir waren nur drei weitere Männer anwesend, die in einer Ecke saßen und ein Fußballspiel auf einem kleinen Fernseher an der Wand anschauten. Seoyoung deutete auf einen Tisch an einer Wand, die über und über mit alten Plaketten und gerahmten Filmplakaten im Retro-Stil behangen war. Weder Seoyoung noch ich rührten sie an.

»Was ich hier tue, wird mich vermutlich meinen Job kosten«, sagte Seoyoung nach ein paar Minuten. Seine Stimme war ruhig, als hätte er sich mit dieser Tatsache bereits abgefunden.

Ich sah ihn an, abwartend.

Seoyoung räusperte sich und öffnete den Mund, doch in diesem Moment erschien der Kellner an unserem Tisch und fragte uns, was wir trinken wollten. Ohne den Blick von Seoyoung zu nehmen, bestellte ich eine große Wasserflasche mit zwei Gläsern. Dann waren wir wieder allein.

»Ende letzten Jahres ...«, fing er schließlich an, »... habe ich ein Telefonat Ihres Vaters mit angehört.«

Ich öffnete den Mund, doch anscheinend wusste Seoyoung, was ich ihn hätte fragen wollen.

»Der Lautsprecher im Rolls-Royce war angeschaltet.« Er zögerte. »Ich habe mir erst nichts dabei gedacht - Ihr Vater führt in meiner Anwesenheit alle möglichen Gespräche. Aber ich konnte auch nicht aufhören, darüber nachzudenken.«

Ich schluckte schwer und sah Seoyoung abwartend an.

Er blickte auf den Tisch und schwieg ein paar Sekunden lang. Dann holte er tief Luft. »Ich konnte nicht aufhören, über seine Worte nachzudenken, weil er gesagt hat: >Juhee wird es nicht erfahren. Aber ich brauche deine Hilfe<«

Meine Nackenhaare stellten sich auf. »Wie ging das Gespräch weiter?«

»Er sagte, er wäre in zwanzig Minuten da, und bat seinen Gesprächspartner, ihn allein zu empfangen.«

Meine Gedanken wirbelten durcheinander, mein Herz schlug immer schneller.

»Wohin hast du ihn gefahren?«, krächzte ich.

»Zu Choi Sehun.«

»Choi Sehun?«, wiederholte ich.

Seoyoung schluckte ein Mal. »Sein Anwalt.«

»Wieso sollte Jongdae sich heimlich mit seinem Anwalt treffen?«

Seoyoung öffnete den Mund, wurde aber vom Kellner unterbrochen, der in diesem Moment an den Tisch zurückgekehrt und die Gläser und das Wasser vor uns abstellte.

»Wann war das?«, fragte ich weiter.

»In der Nacht vor dem Tag, an dem Sie angereist waren.«

Mein Magen machte einen unangenehmen Satz, und ein Gedanke flammte in meinem Kopf auf. Was, wenn dies alles kein Zufall war? Dass er mich genau jetzt wiedersehen wollte. Dass Mum genau wusste was auf mich zukam und deswegen so aufgewühlt war. Doch dann dachte ich an jene Nacht, in der ich ihn im Türrahmen meines Zimmers gesehen hatte, neben Jae. Dass, was er gesagt hatte und wie er sich benommen hatte. Das konnte unmöglich gespielt gewesen sein. Er hatte gewirkt, als wäre er beruhigt und zufrieden, als er uns in meinem Zimmer gesehen hatte. Eben wie eine Familie.

»Die erste Zeit danach war ich selbst zu ... beschäftigt, um mir darüber Gedanken zu machen. Aber das Gespräch hat mich nicht losgelassen. Und als ich mich am Wochenende mit vertrauten Kollegen unterhalten habe, wusste ich, dass ich mit Ihnen darüber sprechen muss.«

»Und was haben die anderen gesagt?«

»Sie haben mir erzählt, dass es in den letzten Monaten besorgniserregende Entwicklungen gegeben hat. Ihr Vater hat einen Teil des Vorstands entlassen.«

»Er hat sie nicht entlassen, sie sind auf eigenen Wunsch gegangen. Darüber haben sie heute im Meeting gesprochen«, sagte ich, im selben Moment kam mir aber der Gedanke, dass das wahrscheinlich die offizielle Version ist von dem, was wirklich passiert war. In meinem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus.

»Ihr Freund sagte, dass viele mit der Art und Weise, wie es sein Vorgänger geleitet hat, immer zufrieden waren, aber jetzt scheint sich das langsam zu ändern.« Seoyoung nahm einen kräftigen Schluck Wasser.

»Das kann ich mir gut vorstellen. Sehr gut sogar. Die Stimmung war heute unterkühlt und angespannt, die Wortmeldungen emotionslos und phrasenhaft.«

»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte er leise.

»Man munkelt, dass sein Vorgänger nicht die Visionen von Mr Lee geteilt hätte.«

Ich runzelte die Stirn. »Hätte es denn geklappt, dass sie in einer Hand gearbeitet hätten?«

»Nein, hätte es nicht. Sein Wort hätte immer mehr gezählt als das Ihres Vaters. Er konnte kontrollieren, was er tat, weil er strenggenommen sein Vorgesetzter war.« Er räusperte sich. »Ich glaube, sein Vorgänger hat geahnt, dass so etwas passieren könnte, sollte ihm etwas zustoßen, ... sollte er gehen.«

»Seoyoung«, sagte ich langsam. »Was willst du mir damit sagen?«

Seoyoung sah mich einen Moment lang nur an, dann atmete er ruckartig aus. Er griff in den Kragen seines Hemds und holte eine schmale Silberkette mit einem Anhänger hervor. Vorsichtig zog er sie über den Kopf und hielt sie anschließend hoch, damit ich sie genauer betrachten konnte. Das, was an der Kette baumelte, war kein Anhänger - sondern ein Schlüssel.

»Vor einigen Jahren hat mir Ihre Mutter diesen Schlüssel gegeben. Sie sagte, ich soll ihn mit meinem Leben beschützen.« Er betrachtete die kleinen weißen Zähne und fuhr mit dem Finger über das angelaufene Metall. Er wirkte beinahe wie in Trance. Dann schüttelte er den Kopf, wie um sich selbst aus dem Traum zu reißen, in dem er sich die Kette wieder über den Kopf streifte und die unter seinem Hemd verschwinden ließ.

Ich nahm den Schlüssel in die Hand und drehte ihn ein paarmal hin und her. »Wieso hat sie ihn dir anvertraut? Und warum sagst du mir das? Wir kennen uns eigentlich so gar nicht.«, fragte ich ihn mit rauer Stimme.

Seoyoung schluckte schwer. »Wir sind so etwas wie Freunde.«

Sie kannten sich? In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, doch ich versuchte, sie zu verdrängen. Alles, was jetzt wichtig war, war die Tatsache, dass mein Vater ein Geheimnis hat. Ein Geheimnis, dass sie weder Jongdae oder mir anvertraut hätte. Ein Geheimnis, zu dem ich den Schlüssel in meiner Hand hielt.

»Sie hat mir nie gesagt, wofür er ist«, sagte Seoyoung bedächtig. »Aber ich finde, Sie sollten ihn haben.« Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. »Und Sie sollten wissen, dass ich Sie damals versucht habe, anzurufen. Nur um sie hiervor zu bewahren. Aber ich glaube ebenso, dass es seine Richtigkeit hat, dass Sie nun hier sind.«

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich blickte auf und sah Seoyoung an. »Meinst du, der Schlüssel und Jongdaes seltsamer Anruf hängen zusammen?«, fragte ich schließlich.

Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß, ist, dass Ihr Vater etwas zu verheimlichen hat.«

Ich drehte den Schlüssel in meiner Hand. Dann holte ich meine Handtasche hervor, machte sie auf und ließ sie hineinsinken. Entschlossen sah ich Seoyoung in die Augen. »Ich werde herausfinden, was das ist.«

»Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen werden, Mrs Lee.«

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