Z E H N

Der Abend zieht rasend schnell an uns vorbei, aber dunkel wird es trotzdem nicht. Es ist Zehn Uhr, der Himmel hat eine rote Färbung. Wir sitzen immer noch draußen auf den Decken, doch mittlerweile haben wir uns alle etwas über gezogen. Amy trägt nun wieder ihr leichtes Sommerkleid und darüber Louis' Jacke ("Oh, mir ist ja so kalt!" - "Willst du meine Jacke haben?" - "Aber dann frierst du doch!" - "Nein, schon okay!" - Haltet doch beide bitte einfach den Mund!), Lydia und May haben sich gemeinsam eine Decke übergeworfen und die Jungs und ich haben dicke Pullis angezogen. Mittlerweile ist der Grill aus und in der kleinen Feuerschale knistert ein Feuer. May hat Marshmellows und Kekse dabei, die wir jetzt genüsslich zubereiten. Marshmallows sind meine Schwäche, ehrlich.
Anfangs habe ich die Gespräche der Anderen ausgeblendet, doch ich muss zugeben, dass sie nicht nur über irgendeine Scheiße reden, die mich sowieso nicht interessiert, sondern wirklich über Themen, bei denen ich das Bedürfnis habe, mich einzubringen. Wir lachen viel, schauen aufs Meer und Henry zeigt mir Sternbilder, erzählt mir ihre Geschichten.
Zugegeben, sein Wissen und sein Interesse für Astronomie beeindrucken mich. Irgendwie behauptet jeder, das Universum und den ganzen dazugehörigen Kram totaaaal spannend zu finden, aber so richtig beschäftigen tut sich damit niemand. Da zähle ich mich selbst leider mit dazu.
Während Amy und Louis sich die ganze Zeit „unauffällig" angaffen und dabei von Lydia gestalkt werden, wirkt May eher abwesend, fast schon traurig oder wütend. Immer wieder starrt sie auf ihr Handy, manchmal tippt sie blitzschnell eine Nachricht, um danach wieder auf den Bildschirm zu starren. Dass ich sie beobachte, merkt sie zunächst nicht, doch als sie meinen Blick irgendwann auffängt, wird sie rot und schaut ertappt nach unten. Ich hatte eher damit gerechnet, dass sie mich dumm anmotzt (ich erwähnte ja bereits, dass ich mit ihr noch nicht ganz warm geworden bin), weshalb mich diese Reaktion schon irgendwie neugierig macht. Ich nehme mir vor, sie darauf anzusprechen. Mehr als mir eine Abfuhr geben kann sie ja nicht und damit könnte ich leben.

„Hey.", stupst Henry mich leicht mit der Schulter und gesenkter Stimme an.

„Spinnst du?", frage ich und schrecke kurz auf.

„Wo bist du mit deinen Gedanken?"

„Uninteressant."

„Das würde ich so nicht sagen." Ich wende ihm meinen Blick zu und treffe auf grün-braune Augen, sehr schöne Augen.
Ich will etwas erwidern, aber Henry kommt mir zuvor: 

„Interessiert mich im Moment jedenfalls mehr, als der Batman-Slip, den du trägst. Wobei die Stelle für das Logo schon sehr ungewöhnlich ist."

Ich will es nicht, wirklich nicht, aber ich kann es einfach nicht verhindern: Mein Gesicht wird heiß und ich spüre förmlich, wie es tomatenrot anläuft. Wahrscheinlich ist das selbst im schwachen Schein des Feuers zu sehen. Ich hasse ihn gerade dafür, dass er mich in diese unangenehme Lage bringt. Zum Glück sprechen wir so leise, dass sonst niemand unser Gespräch mitbekommt.
Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, aber es kommt kein Ton heraus.

"Hey, ist dir das peinlich? Dachte, das war als Einladung zu verstehen."

"Halt die Fresse, Ginger.", ich will gar nicht aggressiv klingen, denn eigentlich bin ich nicht humorbehindert, doch aus irgendeinem Grund war mir noch nie etwas unangenehmer.
Das Grinsen aus seinem Gesicht verschwindet und er senkt die Stimme noch weiter.

"Hey, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht bloßstellen oder so. Sollte ein Witz sein, ich neige nur leider dazu, zu übertreiben."

"Nein schon gut, war mir bloß peinlich, das ist alles. Ich wollte dich nicht so angehen.", ich spüre, wie mein Gesicht langsam wieder seine normale Farbe bekommt. Henry ist still, aber ich möchte nicht, dass er denkt, dass man mit mir nicht scherzen kann oder dass ich überempfindlich bin. 

"Gibst du mir ein Bier rüber?", versuche ich, die Situation wieder aufzulockern. Er scheint den Wink zu verstehen, schmunzelt leicht und drückt mir schließlich eins in die Hand.
Lydia, die mittlerweile fast eine ganze Flasche Sekt allein geleert hat, stalkt Amy und Louis im Moment nicht mehr nur, sie ist mittlerweile dazu übergegangen, ihn dicht zu labern, was ihm offensichtlich unangenehm ist. 

"Leute, nehmt es mir nicht übel, aber ich bin echt kaputt vom Tag. Ich glaub', ich werde mich aufs Ohr hauen. Ihr könnt ja noch ein bisschen sitzen, denkt nur dran, die Feuerschale auszumachen.", meint May plötzlich und erhebt sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Keiner der Anderen scheint zu bemerken, dass etwas nicht stimmt, und ich frage mich, wie man so blind sein kann. Ich bin ja nicht einmal mit ihr befreundet und kann das sehen. Erst will ich sie in Ruhe lassen, aber die Neugier siegt schlussendlich.

"Ich glaube, ich schließe mich an. Gute Nacht.", meine ich schließlich und erhebe mich ebenfalls.

"Schlaf gut, Batman.", kann Henry sich nicht verkneifen und erntet verwunderte Blicke. Ich bringe nicht mehr fertig, als ihm den Mittelfinger zu zeigen und gehe dann endlich ins Haus. Als ich gerade die Treppen nach oben laufen will, höre ich ein Schluchzen aus dem Badezimmer. Oh man, im Trösten bin ich nicht unbedingt die Beste. Kurz überlege ich, doch einfach in mein Zimmer zu gehen. Immerhin haben May und ich eigentlich gar nichts miteinander zu tun. Ich entscheide mich aber dagegen, so herzlos kann nicht einmal ich sein.
Leise gehe ich also zum Bad und klopfe vorsichtig an die Tür. Das Schluchzen wird eingestellt.

"May? Geht es dir gut?", Wow Olivia, tolle Frage. Ist ja auch gar nicht offensichtlich.

"Ja, alles in Ordnung.", dringt eine weinerliche Stimme durch die Tür. Gut, dann kann ich ja ins Bett gehen. Nein, zu spät für einen Rückzug. 

"May, ich weiß, dass ich wahrscheinlich nicht deine erste Wahl bin, was einen Ansprechpartner angeht. Aber ich hab' gesehen, dass etwas nicht stimmt. Du musst es mir nicht erzählen, ich kann dich nicht zwingen. Aber falls du reden möchtest, also... Ich würde dir zuhören." Hey, das war ja gar nicht so übel, Olivia.
Kurz ist es ganz still und ich denke schon, dass sie mich einfach ignoriert. Als ich kurz davor bin zu gehen, höre ich, wie die Tür aufgeschlossen wird und schließlich steht eine May mit verquollenen Augen vor mir. Ehrlich gesagt überfordert mich das ein wenig. 

"Du hast Recht. Du bist nicht gerade meine Bezugsperson Nummer 1. Aber vielleicht ist das auch ganz gut. Ich schätze, ich würde wirklich gerne reden. Aber nicht hier. Komm mit."

Schließlich stürmt sie an mir vorbei, die Treppe nach oben und ich habe Mühe, ihr zu folgen. Sie steuert zielstrebig auf den Wintergarten zu und ich gehe ihr nach. Dort angekommen lässt sie sich schließlich auf eines der Sofas fallen und ich platziere mich vorsichtig neben ihr, halte dabei aber einen gewissen Abstand ein. 

"Okay, wenn du das hier irgendwem erzählst, bringe ich dich um, verstanden.?", Wow, nett.

"Klar."

"Also... na ja...", May scheint plötzlich unsicher zu werden, "Es ist... es ist wegen George... ich... ach fuck."

Ich brauche kurz, um diese Information zu verarbeiten. Will sie mir gerade erzählen, dass sie auf George steht? Nein, da muss etwas Anderes hinterstecken. Ich hake nicht nach, sondern warte, bis sie selbst weiterspricht, denn ich persönlich hasse es, wenn man mich drängt oder mir etwas vorweg nimmt. 

"Keine Ahnung, warum ich dir das erzähle. Es ist nur... ich verstehe das selber nicht. George ist total unlocker und ein Streber und optisch außerdem überhaupt nicht mein Fall. Ich habe darüber gelacht, wenn auch nur eine Person meinte, dass sie ihn auch nur ansatzweise attraktiv oder 'ganz süß' findet, und jetzt... irgendwas passiert mit mir. Ich kann nicht mehr in seiner Nähe sein, ohne dass es überall kribbelt und gleichzeitig hasse ich es. Und am meisten hasse ich es, dass... fuck. Dass er mich nicht will. Ich hab nie an mir selbst gezweifelt, weißt du? Ich wusste immer, dass ich gut aussehe, dass Jungs mich wollen, denn diese Bestätigung habe ich immer bekommen. Mich hat's auch nicht gestört, dass alle darüber reden, dass ich leicht zu haben bin oder sonst irgendeine Scheiße. Aber jetzt... jetzt mag ich George. Verdammt, ich hab es jetzt ausgesprochen, ich mag ihn. Und er will kein Mädchen wie mich. Er will kein Mädchen, das schon alle hatten. Keins, das sich nur für Mode, Make Up, Promis und Klatsch interessiert. Mein Aussehen macht das nicht wett. Er will ein Mädchen, das nicht dem typischen Mädchenkram nach hängt. Ich kann ihn nicht haben und es macht mich wütend, dass mich das trifft."

Im ersten Moment weiß ich nicht, was ich sagen oder denken soll. Im zweiten leider auch nicht. Ich habe weder mit so viel Offenheit gerechnet, noch damit, dass ein Mädchen wie May auf jemanden wie George steht. Ich meine, ich kenne die beiden nicht gut, wie denn auch? Aber was ich mitbekommen habe, ist folgendes: May ist eine Diva, ein bisschen arrogant und bei Jungs ziemlich beliebt ist. Und George, George ist in dieser Geschichte der zurückhaltende Streber, der lieber für sich ist und nicht gerne redet. Ich bin ratlos.

"Aber... woher willst du wissen, dass er dich nicht auch will? Ich meine, nur weil er ist wie er ist. Befreundet seid ihr doch auch. Warum sollte er nicht mehr wollen?"

May lacht, aber es ist nicht gerade ein fröhliches Lachen.

"Wahrscheinlich habe ich es deshalb gerade dir erzählt. Die Anderen hätten mir direkt gesagt, dass es hoffnungslos ist, aber du kannst das nicht wissen. Tut irgendwie gut, dass jemand glaubt, dass George mich irgendwie über Freundschaft hinaus mögen könnte. Wobei ich glaube, er tut nicht mal das. Weißt du, ich habe versucht, offensiv zu sein, wie bei anderen Jungs auch. Ich wollte herausfinden, ob aus George und mir was werden könnte. Auf Annas Party... da habe ich mir Mut angetrunken. Das war das absolut Dümmste, was ich hätte machen können. Ich habe versucht ihn zu küssen, ich... fuck ich habe sogar versucht, seinen Gürtel aufzumachen, ich... Oh Gott, ich schäme mich so. Du hast den Blick in seinen Augen nicht gesehen, Olivia. Er war angewidert. So hat mich noch nie jemand angeschaut. Und als er für dieses Wochenende abgesagt hat, das tat so verdammt weh und jetzt... Ich konnte es einfach nicht sein lassen. Ich hab' ihm geschrieben, dass ich auf der Party bloß betrunken war und dass ich ihn sonst nicht mal mit der Kneifzange anfassen würde. Sag bitte nichts, ich weiß, das ist total dumm und widersprüchlich. Ich war nur so gekränkt. Er soll nicht denken, dass ich ihn begehre, obwohl er mich nicht will. Jedenfalls hat er geantwortet, dass er sich das schon gedacht hat, und dass er deshalb nicht mitgekommen ist. Er meinte, er erträgt mich im Moment nicht, weil ich eine widerwärtige Person bin und er will in nächster Zeit nichts von mir hören. Jetzt weißt du alles. Bitte sag mir nicht, wie dumm ich bin, sag irgendwas, was mir hilft.", May hat wieder angefangen zu weinen und ich muss irgendwann ihre Hand genommen haben, denn sie krallt sich an meiner fest. Verwundert darüber, dass mich das überhaupt nicht stört, verarbeite ich das Ganze kurz. Das ist wirklich ein dicker Brocken. Ich hätte niemals gedacht, was hinter den Kulissen abgeht. May und George sind keine Hauptfiguren, deshalb hätte ich ihnen so ein Drama gar nicht zugetraut.

"Also für mich hört sich Georges Reaktion nicht nach Hass oder so an."

"Nach was denn dann?"

"Vielleicht bin ich ja naiv, aber für mich hört sich das eher an, als hätte dein Verhalten ihn zutiefst verletzt."

"Olivia, ehrlich. Inwiefern soll ihn das verletzt haben?"

"Na ja, gehen wir davon aus, er ist in dich verliebt. Hör auf, mich so anzugucken, es ist nur mal eine Annahme. Er steht also auf dich und du fällst auf einer Party einfach so über ihn her, wie du es - deine Worte - bei jedem anderen Typen auch tust. Er ist verletzt, weil du ihn genauso zu sehen scheinst, wie die Anderen. Er wollte vielleicht nicht nur ein Weiterer sein. Dann wirfst du ihm auch noch an den Kopf, dass du ihn eigentlich abstoßend findest, was ihm nur bestätigt, dass du keine Gefühle hast und einfach nur im Suff warst. Das verletzt ihn so sehr, dass er dich nicht mehr sehen will. Du kannst gerne sagen, dass ich keine Ahnung habe, aber das hört sich doch plausibel an, oder nicht?"

May schweigt, scheint tief in Gedanken versunken zu sein.

"Nehmen wir an, du hast recht," fängt sie an, "Was soll ich jetzt tun? Wie könnte ich das wiedergutmachen?"

"Du gehst zu ihm. Du entschuldigst dich für deine Worte und sagst ihm, was du fühlst, was dich dazu bewogen hat."

"Aber ich habe so eine Scheiß-Angst.", ihre Stimme ist nur noch ein Flüstern.

"Das hätte vermutlich jeder. Aber wenn du herausfinden willst, ob er er auch Gefühle für dich hat, dann musst du da drüber stehen."

"Und wenn er mich nicht will?"

"Das Risiko besteht. Du musst entscheiden, ob er dir das wert ist." Jetzt schweigen wir beide, in Gedanken versunken.

"Olivia?"

"Ja?"

"Du bist echt in Ordnung, weißt du das?", ich muss grinsen.

"Du bist auch okay."

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