V I E R U N D Z W A N Z I G

"Cause all of the stars are fading away, just try not to worry, you'll see them,-", vom Klavier ertönt ein schräger Ton. Lydia hört auf zu singen und zuckt zusammen, während Henry die Arme auf den Tasten abstützt, sodass mehrere Töne gleichzeitig ertönen. Sehr melodisch klingt das allerdings nicht, eher im Gegenteil.

"Sorry, ich kriegs's heute einfach nicht auf die Reihe.", entschuldigend und leicht deprimiert sieht er meine beste Freundin an und spielt die Stelle im Schnelldurchlauf noch mal durch.

"Kein Problem, solange du es hin bekommst, wenn wir auftreten, ist ja alles in Ordnung.", nachsichtig lächelt sie und wartet, bis er bereit ist, es nochmal zu versuchen.

Wir sitzen im Musikraum, da Henry und Lydia zum Sommerfest im Programm auftreten sollen und unsere Freistunde zum üben nutzen wollen. Eigentlich spielt Henry Klavier wie ein Gott, aber diese, seiner Aussage nach, einfache Begleitung, scheint ihm Kopfschmerzen zu bereiten. Er ist abgelenkt, die Frage warum, erübrigt sich wahrscheinlich. Erst habe ich überlegt, nicht mitzukommen, aber das kam mir doch ein wenig albern vor. Ich werde Henry nicht aus dem Weg gehen und ich will es auch gar nicht. Ich möchte, dass wir zu mindestens unsere Freundschaft wieder hinbekommen, denn so melodramatisch es auch klingt: Ich kann damit leben, dass wir kein Paar sind, aber komplett ohne ihn zu sein, das kann ich mir nicht mehr vorstellen und der Gedanke macht mir Angst. Generell macht es mir Angst, dass sich das hier alles, die Schule, die Leute, die Partys, mittlerweile wie mein Leben anfühlt. Mein richtiges Leben. Ich lerne für Tests und Klausuren, ärgere mich über schlechte Noten, rege mich über Lehrer und Mitschüler auf. Wenn ich an die Schule denke, dann schießt mir als erstes diese Schule in den Kopf und nicht die Schule aus meiner Realität. Letztens musste ich sogar länger überlegen, wie mein Mathelehrer noch mal heißt. Allerdings fange ich an, meine Eltern zu vermissen. Der einzige Gedanke, der mich tröstet, ist, dass sie sich keine Sorgen machen, da ich für sie nicht verschwunden bin. Die Uhren hier ticken anders.

"Machen wir es noch mal.", sagt Henry schließlich und schlägt die ersten Töne an. Ich kann die Augen nicht von ihm nehmen. Sein konzentrierter Blick, wie seine Hände leicht über den Tasten schweben - er sieht so verdammt sexy aus.

Hör auf, in dieser Art und Weise an ihn zu denken, Olivia.

"Hold up, hold on, don't be scared, you'll never change what's been and gone." Dieses Mal kommen die beiden ganz durch, auch wenn Lydia sich an einer Stelle leicht im Ton vergreift.

Als sie fertig sind, stehe ich auf und klatsche theatralisch. Lydia grinst und verbeugt sich und selbst Henry kann sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. Mir wird warm ums Herz. Sie spielen das Lied noch 4 mal durch und schlussendlich habe ich einen penetranten Ohrwurm. Nur, dass mein Gesang nicht annähernd so gut ist wie Lydias.

"Soll... soll ich euch nach der Schule Nachhause fahren?", kommt es plötzlich von Henry. Ich verschlucke mich fast an meinem Wasser. Die vergangenen zwei Wochen hat er uns weder morgens mitgenommen, noch nachmittags zurückgebracht. Ich kann nicht anders, als mich darüber zu freuen. Vielleicht kehrt ja wirklich wieder Normalität ein.

"Das wäre echt toll.", antworte ich leise und versuche nicht zu dumm zu grinsen.

"Kein Problem.", Henry wendet den Blick ab und schaut stattdessen auf die Klaviatur. Es ist in Ordnung, dann eben in langsamen Schritten.

Lydia schaut auf die Uhr. "Wir haben noch eine halbe Stunde bis zum letzten Block, wollen wir uns noch ein bisschen raus setzen?" Henry scheint kurz darüber nachzudenken.

"Ja, ich schreib nur schnell Anna und Lucas. Die haben auch ne Freistunde.", gut, mit uns allein sein, ohne etwas zu haben, mit dem er sich ablenken kann, ist wohl noch zu viel, aber den Raum lasse ich ihm. Er schickt eine Nachricht in den Gruppenchat, weshalb auch unsere Handys piepen. Keine fünf Minuten später schreibt Lucas, dass er schon draußen ist und wir machen uns auf den Weg zum Schulhof. Dort finden wir ihn mit drei Jungs aus dem Lacrosse-Team. Im Moment hängt Lucas viel mit seinem Team rum, aber Louryl meint, dass sei während der Spiel-Season immer so. Die Jungs habe ich auf der Party gesehen, kenne sie aber nicht weiter. Sie stellen sich als Mike, Roy und James vor, aber nach wenigen Minuten habe ich schon wieder vergessen, wer wer ist. Lydia hingegen unterhält sich angeregt mit einem. Ich glaube, es ist Roy. Könnte aber auch Mike sein. Oder James.

"Wie läuft's denn mit eurem Stück?", fragt Lucas und rupft ein paar Grashalme aus der Erde.

"Ganz gut, denke ich."

"Ganz gut? Sie machen das mehr als nur ganz gut.", mische ich mich begeistert ein. Henry sieht verlegen weg. Zu viel?

"Na ja, ich verspiele mich noch relativ oft, aber sonst geht es."

"Das wird. Amy weiß jetzt auch, was sie auf der Gitarre spielen und singen will."

Ach? Die wunderschöne Amy kann jetzt auch Gitarre spielen und singen? Weshalb überrascht mich das nicht?

"Was denn?"

"Wird wohl Numb von Linkin Park, natürlich in einer Akustik-Version."

"Sehr geil.", sage ich ehrlich. Dachte eher, sie würde einen auf Taylor Swift oder so machen.

"Finde ich auch. Louis meinte, das hört sich schon richtig gut an, Samara war auch dabei und sie... Oh Gott, sorry Kumpel.", Lucas sieht seinen Freund schockiert an, weil er annimmt, in ein Fettnäpfchen getreten zu sein, aber Henry winkt ab.

"Kein Problem, das berührt mich nicht mehr, jedenfalls nicht so. Weißt du wie es ihr geht? Sie redet nicht mehr mit mir." Henrys Interesse an Samaras Wohlergehen ist kurz ein kleiner Stich ins Herz, aber dann reiße ich mich zusammen. Es wäre auch herzlos von ihm, sich nach allem nicht für ihren Zustand zu interessieren, und wäre er herzlos, dann wäre er nicht Henry.

"Sie wirkt ein wenig... mitgenommen. Nicht so fröhlich wie sonst. Wenn du sagst, dass es dir damit mittlerweile gut geht... Willst du jetzt eventuell erzählen, was zwischen euch passiert ist?", Lucas versucht seine Neugier zu verbergen, aber er ist nicht besonders gut darin. Offensichtlich hat Henry wirklich nur Louis alles erzählt und vor den Anderen ein Geheimnis daraus gemacht.

"Es gibt nicht viel zu erzählen. Ich habe gemerkt, dass ich nicht genug für sie empfinde, um weiterhin mit ihr zusammen zu sein. Die Art und Weise war auch nicht die beste, aber das möchte ich nicht weiter ausführen.", Henry ist darauf bedacht, mich nicht anzusehen. Mit der besten Freundin rum zu machen ist wirklich nicht die beste Art und Weise mit seiner Freundin Schluss zu machen, da hat er wohl recht.

"Wow, wir dachten alle, sie hat mit dir Schluss gemacht. Du warst so fertig und du wirkst immer noch ein bisschen neben der Spur.", Lucas sieht ehrlich überrascht aus.

"Es ist halt alles ein wenig aus dem Ruder gelaufen und ich wollte ihr nicht wehtun, weil sie ein toller Mensch ist. Damit würde ich das Thema auch ganz gern beenden, sorry."

"Kein Problem, Alter. Find's gut, dass du überhaupt mal mit mir drüber gesprochen hast. Ach ja, Olivia? Caleb hat mir gesagt, dass er auf dich steht und ich ein gutes Wort bei dir für ihn einlegen soll." Henry wischt imaginären Dreck von seiner Brille.

"Ja, ich weiß, er hat mir sein Interesse schon sehr deutlich gemacht."

"Und?"

"Was und?"

"Wie findest du ihn?"

"Nett, aber ich bin nicht interessiert."

"Mensch, Olivia, langsam glaube ich, dass du lesbisch bist. Seit du hier bist, hast du noch an keinem Typen Interesse gezeigt.", Henry wird rot und putzt seine Brille energischer. Ich spüre, dass auch ich rot werde. Ein wenig bereue ich langsam, kein Full-Coverage-Makeup aufgetragen zu haben.

"Ich bin hetero, falls das deine Neugier stillt."

"Und dir gefällt kein Typ hier?"

"Bist du sowas wie ein Kuppler?"

"Nein, aber für gewöhnlich versuche ich schon, meine Freunde zu verkuppeln.

"Also bist du einer."

"Gut, erwischt. Na ja, im Notfall verkuppele ich euch beide, passt doch auch wie Arsch auf Eimer.", er sieht Henry und mich an und wir räuspern uns gleichzeitig. Henry findet als erstes seine Stimme wieder.

"Wir sind nur Freunde.", murmelt er und es klingt, als wäre es ein Mantra, was er sich immer wieder selbst einreden muss, immer wiederholen muss.

"Nicht mal, wenn er der letzte Typ auf der Welt wäre.", sage ich extra spaßig, um unser gegenseitiges Gedisse wieder aufleben zu lassen und Henry feuert gekünstelt etwas zurück. In meinen Ohren klingt es genauso unecht wie mein Spruch, aber Lucas lacht und kauft uns das Ganze ab.

* * *

Nach dem letzten Block warte ich vor dem Chemieraum auf Lydia, damit wir zusammen zu Henrys Auto gehen können, aber sie kommt mit Roy/James/Mike hinaus.

"Hey, James hat angeboten, uns zu fahren, ich hab ihm gesagt, dass du mit Henry fährst aber er mich gerne mitnehmen kann.", sie strahlt und mir fällt fast die Kinnlade runter.

"Du hast was?!"

"Olivia, reg dich ab.", redet sie auf mich ein, "Ich dachte, es wäre vielleicht eine gute Möglichkeit mit Henry zu sprechen, ohne, dass er dir ausweichen kann. Er scheint ja langsam aufzutauen."

"Lydia, verdammte Scheiße, das kannst du nicht machen. Ich überlebe das nicht."

"Das musst du wohl.", sie umarmt mich kurz und läuft dann dumm lächelnd James hinterher.

Diese... ich werde sie eigenhändig umbringen. Für einen Moment überlege ich, gleich freiwillig zum Bus zu rennen, aber Henry versetzen soll nicht auch noch auf die Was-ich-ihm-alles-angetan-habe-Liste. Mit pochendem Herzen und schwitzigen Händen renne ich zum Parkplatz. Henry steht gegen sein Auto gelehnt und starrt geistesabwesend in die Ferne.

"Hey.", reiße ich ihn völlig aus der Puste aus seinen Gedanken.

"Hey. Wo ist Lydia?"

"Die fährt spontan mit diesem James mit, ich... Wenn du nicht willst... Also ich kann auch den Bus nehmen, wirklich." Er scheint mit sich zu ringen.

"Steig ein.", seufzt er dann und öffnet selbst die Fahrertür.

Nervös steige ich auf der Beifahrerseite ein. Henry startet den Motor, stellt das Radio an und fährt los, als ich angeschnallt bin. Snuff von Slipknot ertönt aus den Lautsprechern.

Wir schweigen. Verzweifelt suche ich nach Worten, finde aber keine. Dann beschließe ich, die Musik lauter zu drehen, um unser Schweigen zu übertönen. Henry kommt allerdings auf dieselbe Idee und wie in jedem Scheiß-Liebesfilm berühren sich unsere Hände. Wie von einer Tarantel gestochen zieht er die Hand zurück. Oder wie Edward in Twilight. Meine Finger kribbeln, doch ich stelle die Musik trotzdem lauter. Es dauert keine Minute, bis Henry das Radio schließlich komplett ausschaltet.

"Das war eine ganz beschissene Idee, klasse Henry.", sagt er eher zu sich selber, als zu mir. Seine Worte tun weh.

"Es tut mir leid."

"Hör auf, dich zu entschuldigen. Zum Ersten kann ich das nicht mehr hören und zum Zweiten hab ich den Vorschlag gemacht, dich, oder viel mehr euch, zu fahren."

"Wir nehmen morgen wieder den Bus.", murmele ich.

Plötzlich fährt er das Auto blitzschnell an die Seite und hält mit einer Vollbremsung am Straßenrand. Ich klammere mich an den Anschnaller.

"Verdammte Scheiße, Livvy, hör auf.", die unerwünschten Schmetterlinge tanzen wieder in meinem Bauch. Es ist das erste Mal seit zwei Wochen, dass er mich Livvy nennt.

"Sieh mich an.", fordert er und ich hebe langsam den Blick, sehe ihm in die Augen. In ihnen liegen Schmerz, Zuneigung und Sehnsucht. Meine Knie werden weich und wenn ich nicht ohnehin schon sitzen würde, dann würde ich jetzt umfallen.

"Ich kann so nicht weitermachen. Ich hab's versucht. Nicht bei dir zu sein hat mich wahnsinnig gemacht, aber zu versuchen, dein bester Freund zu sein, macht mich krank. Wie du mich ansiehst, Livvy, ich kann damit nicht umgehen. Du sagst, dass du rein gar nichts für mich empfindest, aber immer, wenn unsere Blicke sich kreuzen, siehst du aus, als würde ich für dich das Größte auf der Welt sein. Vielleicht bilde ich mir das auch ein, aber ich pack's einfach nicht. Ich kann keinen klaren Punkt setzen, wenn du mich so ansiehst, so wie jetzt gerade."

Ich kann nichts sagen. Gar nichts. Meine Stimme würde mich sofort verraten. Tränen glitzern in meinen Augen. Warum ist das hier so scheiße schwer?

"Henry, ich...", er greift nach meiner Hand. Sie kribbelt, alles kribbelt.

"Was, Livvy, was? Sieh mich an und sag mir noch mal, dass du nichts, aber auch wirklich überhaupt nichts für mich empfindest. Sieh mich an und sag mir, dass du bei unseren Küssen nichts gefühlt hast und dass dich die Berührung unserer Hände gerade nicht genauso verrückt macht wie mich. Sieh mich an, sag mir all das und guck mich nicht mit diesem Blick an, der genau das Gegenteil ausdrückt."

Ich kann nicht. Ich kann das nicht noch mal. Ich schaffe es nicht, ihm noch mal ins Gesicht zu lügen. Ich kann ihm auch nicht die Wahrheit sagen. Ich muss hier raus. Ich stoße die Tür auf und will abhauen, aber Henry hält noch immer meine Hand.

"Lass mich los."

"Livvy, bitte-"

"Lass mich verdammt noch mal los!", schreie ich ihn an, weil ich mir nicht zu helfen weiß. Und dann lässt er los, als hätte er sich verbrannt. Er sieht mich entsetzt an, aber da ist noch etwas Anderes... Verständnis?

"Livvy..." Ich höre nicht mehr hin. Er soll nichts mehr sagen. Ich schlage die Tür zu und stapfe mit großen Schritten Nachhause. Am Ende der Straße renne ich, so schnell meine Füße mich tragen, weg von ihm, bis ich schließlich im Haus und dann in meinem Zimmer bin. Dort bricht der Damm, noch bevor ich die Tür überhaupt geschlossen habe.

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