S I E B E N U N D Z W A N Z I G

"Na los Mädchen, noch fünf Minuten! Jetzt strengt euch schon an!", brüllt unsere Sportlehrerin über den ganzen Platz und ich versuche schneller zu rennen, aber meine Beine geben nach und ich falle fast hin. Ich hasse Sport, aber noch viel mehr hasse ich Schulsport.

"Nun mach schon, Olivia! Da sind meine Juniors ja schneller!", brüllt Ms Clavell erneut und ich versuche, nicht aggressiv zu werden. Die hat gut Reden, die war vielleicht irgendwann mal sportlich, aber ihre jetzige Erscheinung ist nicht unbedingt motivierend. Ich meine, wenn deine kleine dicke Sportlehrerin mit einem Stück Kuchen in der Hand auf der Bank sitzt und dich anbrüllt, dass du schneller laufen sollst, dann kann man schon mal ein bisschen aggressiv werden, oder?

Zu allem übel haben die Jungs gerade parallel zu uns Sport, und da deren Lehrer einfach nichts auf die Kette bekommt, sitzen sie auf den Sporttribünen rum, werfen sich ab und zu mal einen Ball zu und beobachten uns die meiste Zeit beim Schwitzen. 

Nicht, dass mir das unangenehm wäre, ich scheiß' drauf, aber trotzdem könnte ich mir Angenehmeres vorstellen.

"Los, Livvy, beweg' deinen Hintern!", gröhlt Henry von der anderen Seite des Zauns und ich halte beim Laufen den Mittelfinger hoch. Natürlich werde ich dafür zur Sau gemacht und Henrys Zwischenruf wird einfach ignoriert. 

Als ich meine Runden geschafft habe, lasse ich mich ins Gras fallen und inhaliere meine Wasserflasche. Trinken ist allerdings gar nicht so leicht, wenn man kaum atmen kann. 

"Komm, so schlimm war es nicht.", Louryls Engelsgesicht erscheint über mir.

"Von sportlichen Menschen lasse ich mir nichts sagen.", keuche ich und trinke weiter. Nachdem ich noch fünf Minuten weiter so herumliege hieven Louryl und Anna mich schließlich hoch. Meine Beine sind Pudding und ich unterdrücke das Bedürfnis, mich wieder hinzulegen.

Am Ende der Stunde labert Ms Clavell noch irgendwas. Ich höre nicht zu, aber einmal schaut sie mich böse an und alle Blicke wandern zu mir, also denke ich, dass sie mich als Negativbeispiel missbraucht hat. Whatever.

Normalerweise gehe ich in der Schule nicht duschen, aber heute bleibt mir nichts Anderes übrig, wenn ich nicht den ganzen restlichen Tag stinken will.

"Uhhh, Olivia macht sich nackig." neckt Anna mich, als wir in der Umkleide sind und ich unter einem Handtuch verborgen versuche, meinen BH auszuziehen. Klar, wir sind alle Mädels und ich hab die Anderen nach dem Sport schon so oft nackt gesehen, aber ich geniere mich da einfach. Es ist nicht so, dass ich mich für meinen Körper schämen würde oder so, aber es geht einfach nicht. Ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn andere Mädchen das machen, es juckt mich nicht und ich find's auch völlig normal, aber ich?... Nein.

"Guck mir nicht auf den Arsch.", rufe ich Anna zu, als ich im Handtuch auf den Duschraum zu steuere. Dort angekommen suche ich mir eine leere Kabine und lasse erst dort mein Handtuch fallen. Ich dusche erst kalt, um mich abzukühlen, und dann doch warm, weil ich anfange zu frieren. Das warme Wasser läuft über mein Gesicht und ich schließe die Augen. Sofort sehe ich Henrys Gesicht vor mir, fühle seine Lippen auf meinen und seine Hände an meinem Schenkel. Ich erinnere mich an das Gefühl, als ich seine Erregung gespürt habe und mein Kopfkino führt weiter, was alles hätte passieren können. Wie er mir das Kleid über den Kopf streift, ich seine Hose öffne und ..." Okay, stop. STOP.

Ich drehe den Wasserhahn zu und wickele mich wieder ins Handtuch. Der warme Dampf vernebelt meine Gedanken und ich brauche einen kühlen Kopf. Die ganze Situation ist schon verwirrend genug. Mit roten Wangen gehe ich wieder in die Umkleide, streife mein Kleid über, lasse das Handtuch fallen und bewerkstellige es dann irgendwie, auch die Unterwäsche anzuziehen. Da meine Frisur wahrscheinlich nicht mehr wirklich zu retten ist, binde ich sie zu einem einigermaßen gelungenen Dutt zusammen und warte, bis Louryl und Anna auch fertig sind. Die beiden haben natürlich Make-up mit und nehmen sich Zeit, sich wieder herzurichten.

Als sie es dann endlich geschafft haben und aussehen, als hätten sie nicht gerade einen Ausdauerlauf hinter sich, machen wir uns schließlich auf den Weg in die Cafeteria. Heute gibt es Pizza und da ist so ziemlich das Einzige, was hier wirklich schmeckt.

Ich stelle mich also in die Schlange, die zum Glück nicht mehr so lang ist, da wir relativ spät sind und ergattere eine halbe Salami-Pizza. Klar, ich hätte auch nur ein Stück nehmen können, oder zwei, aber ich habe schon das Bedürfnis satt zu werden und außerdem bin ich gerade gelaufen, das passt schon. 

Ich schlendere zu unserem üblichen Tisch und lasse mich zwischen George und Anna fallen, gegenüber von mir sitzt Henry, der mich begrüßt, indem er mir ein Stück meiner kostbaren Pizza klaut, bevor ich überhaupt reagieren kann.

"Gib das sofort zurück."

"Nö.", nuschelt er und beißt ab. er beißt tatsächlich ab. Von meiner Pizza.

"Henry, bei Pizza hört die Freundschaft auf."

Er grinst und beißt erneut ab. Na warte, das bekommt er sowas von zurück, wenn die Zeit reif ist. 

Ich strafe ihn mit Ignoranz und beginne zu essen, bis mir irgendwann auffällt, dass Lydia nicht da ist.

"Leute, wo ist Lydia?" 

"Sitzt bei James, er hat gefragt.", antwortet Amy.

"Er steht total auf sie und es ist so süß, wie er sie immer ansieht, das solltest du mal sehen.", fährt sie fort und ich unterdrücke das Bedürfnis, auf sie loszugehen. Ja, sie tut so, als sei sie nett und würde nur meine Frage beantworten wollen, aber eigentlich will sie mir unter die Nase reiben, dass Lydia mit ihr gerade mehr redet als mit mir und dass sie über ihr Leben Bescheid weiß und ich nicht. Ich bin nicht blöd, ich kann den Vorwurf in ihrer Stimme hören. Vielleicht solltest du mal darüber nachdenken, dass so eine Sache immer zwei Seiten hat, Mary Sue, bevor du dich für die arme Lydia einsetzt. Meine Fresse. 

"Übrigens, ich habe soeben beschlossen, dass wir heute Abend spontan in den Club gehen.", bringt Anna sich ein und nippt an ihrem Wasser.

"Bitte was? So spontan?", antwortet Louryl erschrocken und wir starren Anna ebenfalls entgeistert an.

"Ja, wieso nicht? Meine ... 'Verabredung' für heute Abend hat mir abgesagt und ich hab keine Lust den ganzen Freitagabend allein dumm rumzusitzen. Also gehen wir feiern."

"Aber, ich kann eigentlich nicht, ich... ähm...", beginnt May zu stammeln. Ich weiß, dass George und sie heute eigentlich ein Date haben und dass sie super gerne mitgehen würde, aber ihn nicht enttäuschen will. Doch er überrascht mal wieder alle:

"Also ich wäre dabei.", sagt er und sieht kurz und unauffällig zu May herüber. Ich beobachte, wie sie versucht, genauso schockiert auszusehen wie die Anderen, sich aber trotzdem kurz ein Lächeln auf ihre Lippen stiehlt.

"Wer bist du und was hast du mit George gemacht?", Lucas starrt George mit offenem Mund an.

"Na ja... Man wird älter.", antwortet dieser und versucht lässig mit den Schultern zu zucken, was ihm nicht ganz gelingt.

Der Rest des Pausengesprächs dreht sich darum, dass George tatsächlich mitkommt, wann sich wer wo trifft und bei wem vorgetrunken wird. 

Auch ich sage schließlich zu, weil ich einfach richtig Lust habe, mal wieder einen Club von innen zu sehen und zwischen fremden Menschen zu tanzen, die sich nicht daran erinnern, wenn dir etwas Peinliches passiert. Außerdem stand bei mir sowieso nur Netflix auf dem Tagesplan. 

Als es klingelt und wir alle aufstehen, bittet Anna mich noch, Lydia Bescheid zu sagen und ich grummele etwas Bestätigendes. Natürlich will ich sie dabei haben, aber so zickig wie sie im Moment zu mir ist, kann das ja heiter werden. 

Ich bin noch in Gedanken, als jemand meinen Arm streift und mir augenblicklich warm wird.

"Bis heute Abend.", sagt Henry, lächelt mir zu und verschwindet in seinem Klassenraum.

* * *

"Das rote oder das gestreifte Kleid?", Anna steht vor ihrem riesigen Kleiderschrank im Ankleidezimmer und hält zwei taillierte Kleider hoch. Wir anderen Mädchen beraten sie und stimmen für das gestreifte, während die Jungs sich in der unteren Etage aufhalten und trinken. Die haben nur gestöhnt, als wir meinten, wir müssten uns fertig machen. 

Das Gespräch mit Lydia lief wie erwartet: Ich hab ihr gesagt, dass wir feiern gehen, sie hat genickt und mich ignoriert und als ich näher auf ihre komische Stimmung eingehen wollte hat sie mich angezickt. Sorry, aber dann kann ich auch nichts machen. In der größeren Runde fällt zum Glück nicht auf, dass wir kaum reden, ich hätte keine Lust, das auch noch jemandem zu erklären. 

Ich sitze mittlerweile mit meiner Weißweinflasche auf dem Bett und warte, dass sie anderen fertig werden. Warum sind die meisten Mädchen auch so furchtbar langsam? Ich selbst trage eine schwarze Ripped-Jeans, Doc Martens und eine relativ lässige dunkle Bluse. Meine Haare fallen mir in entspannten Wellen über die Schultern und ich habe Foundation, Bronzer, Highlighter, Lidschatten und Lippenstift aufgetragen. Das alles in weniger als einer Stunde und bei Anna habe ich nur nachgepudert. Was muss man da jetzt noch stundenlang machen?

Als meine Flasche halbleer und die Anderen endlich fertig sind, gehen wir schließlich wieder runter zu den Jungs und lümmeln uns auf die Sofa-Landschaft. Wir sind alle schon relativ gut angetrunken, da wir in der nächsten Stunde langsam los wollen, aber es ist auf jeden Fall noch Luft nach oben. Ich greife zu meinem Weinglas, das ich stehen gelassen hatte, und trinke dann wieder wie ein zivilisierter Mensch aus dem Glas. Henry sitzt neben mir und legt seinen Arm hinter mir auf die Couchlehne, weshalb ich mich augenblicklich anspanne. Ich sehe vorsichtig zu ihm herüber. Er grinst in sich hinein. Er grinst tatsächlich. Der Typ macht das mit Absicht, er genießt das! Und ich bin viel zu elektrisiert von seiner Nähe, um etwas dagegen zu unternehmen.  Nach ein paar Minuten merke ich, dass er hinter mir mit meinen Haare herumspielt und dass seine Hand dabei immer wieder "unabsichtlich" die empfindliche Haut in meinem Nacken berührt. Ich bin ja sowas von sicher, dass er meine Gänsehaut spüren kann, dieses Arschloch.

"Okay Leute, Abmarsch. In 5 Minuten sind die Taxis da. Und benehmt euch, nicht, dass es am Pegel scheitert, wenn wir nicht reinkommen."

"Wieso fahren wir eigentlich nicht mit euren Autos, ihr habt dich 'nen Chauffeur, oder nicht?", lallt Cale und leert seine Mische in einem Zug. 

"Wir gehen illegal in den Club, keine Lust aufzufallen.", erwidert Anna genervt.

Wir ziehen uns alle also Schuhe und Jacken an, leeren unsere Getränke und treten dann nach draußen. 

Die Fahrt verläuft zum Glück relativ unspektakulär und niemand reiert ins Taxi, was ich schonmal als guten Start bezeichnen würde. 

Vor dem Club kommt dann aber langsam die Nervosität durch. Was, wenn etwas schief geht? Wenn das mit Annas Kontakten doch nicht klappt? Aber meine Sorgen sind unberechtigt, denn als einer der Türsteher Anna erblickt, müssen wir nicht mal mehr warten, sondern werden einfach durchgewunken.

"Die gehören alle zu mir.", meint Anna, zeigt auf uns und drückt ihre Zigarette aus. Der Türsteher mustert uns kurz, nickt dann aber und einen Moment später sind wir drin. So leicht hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich gewöhne mich immer noch an Dunkelheit und Lautstärke, als Anna uns schon zur Bar lotst und Shots für alle bestellt.

"So, na dann wollen wir mal.", ruft sie begeistert und stürmt auf die Tanzfläche. Keine 5 Minuten später sind wir alle in den Menschenmengen verschwunden.


Ein eher langweiliges Kapitel, aber ich will mir den Club eigentlich fürs nächste Kapitel aufheben, also seid gespannt :D

Ich hoffe, es hat euch trotzdem gefallen.

Bis zum nächsten Mal,

Sara. 

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