S E C H S U N D Z W A N Z I G
Der Himmel hat sich mittlerweile komplett verdichtet und das Wasser fällt flutartig vom Himmel. Der Donner scheint näher und näher zu kommen. Henry fährt schon echt langsam, trotzdem schlittern wir in den Kurven leicht, denn die Straßen sind förmlich überschwemmt. Das Radio haben wir bereits ausgeschaltet, da es kein Signal mehr bekommt.
„Scheiße. Ich fahr hier irgendwo ran.", flucht Henry plötzlich und hält nach einer geeigneten Stelle Ausschau.
„Wieso?"
„Weil ich in jeder Kurve das Gefühl hab, gleich von der Fahrbahn abzukommen, und sehen tu ich auch schlecht. Ich will einfach kein Risiko eingehen."
„Okay, verstehe ich.", antworte ich nur. Dabei ist alles, woran ich denken kann, dass wir alleine im Auto hocken und nichts zu tun haben werden.
Schließlich fahren wir auf den leeren Parkplatz einer Sporthalle. Henry stellt den Motor hab und legt den Kopf in den Nacken.
„Tja, wir sitzen hier wohl fest, bis es ein wenig besser wird."
„Vielleicht können wir ja weiter, wenn der Regen schwächer wird."
In diesem Moment schlägt in der Straßenlaterne nur wenige Meter von uns entfernt der Blitz ein und ich stoße einen spitzen Schrei aus. Auch Henry ist sichtlich erschrocken.
„Fuck, fuck, fuck. Was zur Hölle!", ich betrachte die Laterne, die jetzt nur noch schwach flackert. „Was, wenn der Blitz ins Auto einschlägt?"
„Beruhige dich, Livvy. Das ist sehr unwahrscheinlich."
„Aber nicht unmöglich."
„Wenn's danach geht, ist alles gefährlich. Du kannst sterben, während du auf der Toilette sitzt."
„Was für ein Wahnsinnsvergleich. Wodurch denn?"
„Na ja, stell dir vor du sitzt gemütlich auf dem Klo und verrichtest dein Geschäft und plötzlich kracht ein Flugzeug in deine Wohnung."
„Wow, das ist unwahrscheinlich."
„Aber möglich.", zwinkert Henry und ich fühle mich augenblicklich besser. Er spricht aus, was ich denke:
„Das hab ich vermisst, weißt du? Bei dir zu sein und über belanglosen Mist zu reden.", sein Kopf ist gegen den Sitz gelehnt und in meine Richtung geneigt. Ich sehe in etwa genauso aus.
„Geht mir auch so. Generell... ich vermisse dich generell.", nuschele ich und muss den Blick abwenden. Gefühle sind nicht so mein Ding.
„Livvy, sieh mich an.", bittet er mich, aber ich kann nicht, ich will, ich will nicht. Weil ich weiß, was passiert, wenn ich ihm die Augen sehe, weil ich weiß, was er sagen wird. Stur starre ich geradeaus. Ich hoffe, der Regen wird schwächer. Ich hoffe, er bleibt noch eine ganze Weile.
„Livvy...", Henry streckt die Hand aus, streicht mir eine feuchte Haarsträhne hinters Ohr und dreht meinen Kopf in seine Richtung. Fuck, seine Hände. Seine Augen.
Meine Atmung und mein Herzschlag haben sich mittlerweile auf das Doppelte beschleunigt.
Er beugt sein Gesicht meinem langsam entgegen, seine Hand liegt an meiner Wange, streichelt sie.
„Henry, ich will dir nicht wehtun, ich -„, krächze ich hervor, aber er unterbricht mich:
„Vergiss jetzt einmal, was ich für dich empfinde und vergiss, was du empfindest. Denk einfach nur daran, was du gerade willst."
„Ich ertrag's nicht, wenn du nicht in meinem Leben bist."
"Aber das bin ich doch."
„Aber wenn du dich wieder distanzierst -„
„Ich bleibe, Livvy, ich gehe nirgendwo hin, versprochen."
Und damit ist mein ohnehin nicht besonders starker Widerstand gebrochen.
Ich lasse zu, dass er sich mir weiter entgegen beugt und seine Lippen vorsichtig auf meine legt. Die Schmetterlinge in meinem Bauch tanzen.
Wir fallen nicht wild übereinander her, wie auf der Party. Wir sind nüchtern, bei Sinnen und wir wissen, was wir tun. Der Kuss ist langsam und zärtlich, forschend. Es ist, als wäre es unser erster Kuss und mein Körper reagiert heftig. Gott, ich wollte mir nicht eingestehen, wie sehr ich mich danach verzehrt habe.
Henrys Hand wandert vorsichtig zu meinem Schenkel, unter mein Kleid, verharrt aber dort. Er geht nicht weiter, versucht nichts, was gut ist, weil ich mich im Moment nicht dagegen wehren könnte. Seine warme Hand auf meiner nackten Haut fühlt sich unbeschreiblich an. Wirklich, ich kann es nicht beschreiben. Ich vergrabe meine Hände in seinen leicht nassen Haaren und öffne meinen Mund für seine Zunge, die vorsichtig meine Lippen berührt. Unsere Zungen tanzen miteinander und ich würde ihm gern noch näher sein, also versuche ich in dem kleinen Auto auf seinen Schoß zu steigen, was leider nicht ganz so funktioniert wie in den ganzen Filmen und Büchern - ich stoße mir den Kopf, bleibe am Schaltknüppel hängen und habe das Lenkrad dann direkt im Rücken, aber das stört uns nicht weiter, denn Henry reagiert relativ schnell und fährt seinen Sitz, soweit es möglich ist, zurück, sodass ich eine einigermaßen angenehme Position einnehmen kann.
Seine Hände schmiegen sich an meine Taille und ich lege die Arme um seinen Hals. Unser Kuss wird schneller, heftiger, fordernder und als ich spüre, dass sich in Henrys Hose gerade etwas tut und mein Unterleib sich gefährlich zusammen zieht weiß ich, dass wir aufhören müssen. Schweren Herzens lasse ich also von ihm ab, meine Stirn gegen seine gelegt.
Wir atmen schwer und bleiben in dieser Position.
„Was machen wir nur.", stammele ich und es dauert eine Weile, bis er antwortet.
„Ich weiß es nicht, aber es fühlt sich gut an, oder?", er sieht mir in die Augen und so schüchtern, wie er gerade wirkt, würde ich ihn am liebsten einfach nur weiter küssen.
„Ja, es fühlt sich sehr gut an." Er lächelt und ich lächele zurück.
Irgendwann lösen wir uns voneinander und ich klettere auf den Beifahrersitz zurück. Meine Atmung habe ich noch immer nicht wirklich im Griff und ihm scheint es ähnlich zu gehen.
„Tja, scheint als wäre ich sowas wie dein Booty Call." Kurz erstarre ich, aber als ich ihn ansehe wird mir bewusst, dass er nur einen Witz gemacht hat.
„Henry, ich... ich glaube, wir hätten das nicht tun sollen. Ich will nicht, dass du dir Hoffnungen machst oder sonstiges und -„
„Hör auf. Mach dir darüber keine Gedanken. Ich wollte das und ich weiß, wie du zu mir stehst und alles ist in Ordnung. Es ist nicht dein Problem, wie ich mich damit fühle, okay? Und du kannst nicht leugnen, dass da irgendwas zwischen uns entstanden ist, auch bei dir. Ich... merke doch, dass du das genauso willst wie ich und dass es dir gefällt. Also hör bitte auf, Dir Sorgen zu machen, in Ordnung?"
"Aber -"
"Kein aber. Man muss nicht alles zerdenken."
Ich sage nichts, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Im Moment bin ich einfach nur verwirrt. Als er das letzte Mal dachte, ich hätte nur zum Spaß mit ihm rumgemacht, hat er mich wochenlang ignoriert und jetzt ist es plötzlich in Ordnung? Jetzt will er das sogar? Ich versteh's nicht, wobei mir der Gedanke, ihn berühren zu können, wenn ich will, ohne dabei jemanden zu verletzen, schon sehr verlockend vorkommt. Aber ich weiß, dass ich das nicht durchziehen kann, denn dann komme ich niemals von ihm los und er auch von mir nicht, auch wenn wir uns das beide einreden, weil wir nicht aufhören wollen.
Ich behalte meine Gedanken für mich, er lässt mich sowieso nicht ausreden.
Es dauert noch eine ganze Weile, bis das Gewitter langsam schwächer wird und in dieser Zeit reden wir einfach nur, als wäre gerade nichts passiert. Das Komische ist, dass es überhaupt nicht peinlich oder angespannt ist, im Gegenteil - aus irgendeinem Grund fühlt es sich sogar lockerer an als vorher. Vielleicht, weil das Verlangen für den Moment gestillt ist, keine Ahnung.
Als wir losfahren, sage ich:
"Vielleicht wäre es besser, wenn du mich direkt Nachhause fährst, es ist schon ganz schön spät geworden."
"Livvy, wenn es wegen vorhin ist -"
"Nein, alles in Ordnung, wirklich. Aber wir waren eine ganze Weile auf dem Parkplatz und ich muss noch mit Lydia sprechen, also ..." Er mustert mich, als würde er in meinem Blick den Hinweis für eine Lüge suchen, scheint aber keinen zu finden.
"Na gut, dann ... Bis morgen?", mittlerweile sind wir vor meinem Haus angekommen.
"Bis morgen.", antworte ich, nehme seine Hand und drücke sie. Dann steige ich aus dem Auto, weil mein ganzer Körper schon wieder in Flammen steht.
Ich renne zur Haustür, da es immer noch regnet und drehe mich beim Aufschließen der Tür noch einmal um. Henry fährt erst los, als ich die Haustür hinter mir schließe.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top