E L F
Nach unserem intensiven Gespräch haben May und ich noch über belanglose Dinge geredet, damit sie sich wieder beruhigen kann, und ich muss zugeben, dass ich sie eigentlich ziemlich gut leiden kann. Langsam denke ich, dass meine Vorurteile wirklich zum Problem werden. Aber wer kann es mir verübeln? So real sich das Ganze hier auch anfühlt, es existiert einfach nicht. Wie soll man dann davon ausgehen, dass hier irgendeine Person mehr ist, als bloß ein Klischee?
Mittlerweile sitze ich auf 'meinem' Bett und gucke Videos auf dem Handy. Mit Kopfhörern, da Amy schon friedlich schlummert. An Schlaf ist für mich nicht zu denken, dafür muss ich zu viel nachdenken. Über May, über George, über Lydia, über einfach alles. Allmählich beginnt die ganze Situation mich zu überfordern. Ich will nicht, dass mich das hier berührt oder nachdenklich stimmt. Ich will mich nicht mehr für das hier, als für die Realität interessieren, an welche ich im Moment nur wenig denke. Ich darf nicht vergessen, dass alle Menschen hier nur von Nickelson erfunden worden sind. Sie dürfen nicht zu nah an mich herankommen, keiner von ihnen.
„Mhmmm... Olivia, wieso bist du noch wach?", Amy setzt sich langsam auf, reibt sich die Augen und sieht mich müde an. Natürlich sehen so wohl ihre Haare als auch ihr Gesicht immer noch super aus. Ich hasse schöne Menschen.
„Ich bin einfach ein Nachtmensch."
„Aber vorhin hast du doch gesagt, dass du müde bist."
„Das heißt ja nicht zwingend, dass ich schlafen gehe."
„Okaaaay.", meint Amy und zieht das Wort in die Länge. Ich kann mir denken, wie diese Szene im Buch aus ihrer Sicht aussehen würde.
Diese Olivia ist wirklich unfreundlich, keine Ahnung, was ihr Problem ist. Ist mir aber auch egal, ich sehe toll aus.
„Ich gehe mir mal die Nase pudern.", meint Amy schließlich und erhebt sich. Ich kann mich nicht davon abhalten, auf ihre langen, wohlgeformten Beine zu starren. Aber mal ehrlich, warum sagt sie nicht einfach, dass sie aufs Klo muss? Ich nicke nur und widme mich wieder meinem Handy. Es vergehen fünf Minuten. Und dann zehn. Und dann zwanzig. Nach einer halben Stunde fange ich an, mir Sorgen zu machen. Selbst wenn sie... na ja, für ein längeres Vorhaben ins Badezimmer wollte, so lange braucht doch kein normaler Mensch. Nachdem ich circa eine halbe Minute in die Luft starre und überlege, was ich tun soll, entschließe ich mich, nachzusehen. Das reicht dann heute aber auch an heldenhaften Taten. Qualvoll erhebe ich mich, ziehe mir eine Jogginghose über, und stolpere dann schließlich in den Flur. Das Licht lasse ich aus, da ich niemanden wecken will. Nicht meine beste Idee, denn es ist stockduster und wie ich die Treppen finden soll, ohne sie versehentlich runterzurollen, weiß ich noch nicht. Ich strecke also beide Arme aus und mache ganz kleine Schritte, um nicht plötzlich einen Fuß ins Leere zu setzen. Als ich gerade das Geländer ertaste, öffnet sich direkt hinter mir eine Tür, sodass ich sie voll in den Rücken bekomme.
„AUA."
„Fuck, alles in Ordnung? Bist du das Livvy?"
„Ja verdammt, wer sonst? Fuck, tut das weh, ich sterbe."
„Sorry, das wollte ich echt nicht. Warum schleichst du hier im Dunkeln herum? Es gibt so etwas wie Lichtschalter."
Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber allein dem Klang seiner Stimme kann ich entnehmen, dass Henry breit grinst.
„Ich schleiche im Dunkeln herum, weil ich ausnahmsweise mal an meine Mitmenschen denken wollte und niemanden wecken wollte. Außerdem suche ich Amy, die ist schon seit einer halben Stunde auf Klo."
„Amy? Auf Klo? Das war wohl der ursprüngliche Plan."
„Was meinst du?"
„Hat unsere Tür aufgerissen, als sie zurückkam. Hat sich wohl im Zimmer geirrt. Daraufhin kam sie kurz rein, hat mit uns gequatscht. Schließlich wollte sie noch frische Luft schnappen, Louis ist mit ihr gekommen, ich war zu faul."
„Wow, was für ein Flittchen."
„Hey, eifersüchtig? Dachte eigentlich, dass Lydia auf ihn steht.", für den Spruch versuche ich ihm gegen's Schienbein zu treten, was angesichts der schlechten Lichtverhältnisse aber nicht so ganz klappen will.
„Oho, Batman ist gefährlich."
„Schnauze, Ginger. Wo wolltest du eigentlich hin?"
„Ähm. Ich... Auf's Klo. Ich wollte auf's Klo."
„Fängst du jetzt auch noch an zu stottern? Na dann geh' mal für kleine Jungs. Wenn du willst, kannst du danach noch zu mir ins Zimmer kommen. Prinzessin Amy hat mich ja verlassen und meine Abo-Box auf YouTube hab ich durch."
„Das Angebot nehme ich an, ich komme gleich.", damit schaltet er einfach das Licht ein, sodass ich die Augen zusammenkneifen muss, und rennt die Treppe hinunter. Ich rufe ihm leise hinterher, dass er ein Penner ist, und gehe dann wieder in mein Zimmer, sobald ich mich an das grelle Licht gewöhnt habe. Dort angekommen kuschele ich mich ins Bett und schalte alle Lichter, bis auf eine kleine Lichterkette über dem Bett, aus. Viel besser. Weniger Minuten später erscheint Henry im Türrahmen, unterm Arm eingeklemmt hat er einen Laptop.
„Was willst du denn damit?"
„Dir die beste Serie auf dem Planeten zeigen. Du hast ja auch schon für romantische Stimmung gesorgt." Ich werfe ein Kissen nach ihm, aber er weicht geschickt aus. Dann steigt er ganz selbstverständlich zu mir ins Bett, macht es sich vorerst im Schneidersitz bequem und klappt den Laptop auf. Für einen Moment mustere ich ihn. Er trägt eine altmodische karierte Pyjamahose, ein graues T-Shirt mit V-Ausschnitt, die feuerroten Haare sind verwuschelt und der Bildschirm des Laptops spiegelt sich in seiner Retro-Brille. Er sieht aus wie ein Misch aus Hipster und Nerd. Ein leichtes Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, als er Netflix öffnet und Stars Collide in die Suchleiste eingibt.
„Hab ich schon gesehen."
„Was? Alle fünf Staffeln?"
„Nein, erst zwei."
„Dann haben wir ja ordentlich was zu tun, das muss man bis zum Ende gesehen haben. Wie findest du's bisher?"
„Echt gut, wobei mir Roger und Cynthia ein bisschen auf den Sack gehen. Ständig dieses Hin und Her."
„Ja ging mir auch so." Einen Moment schweigen wir. Dann hebt Henry die Decke an und schlüpft darunter, sodass ich seine Körperwärme deutlich spüren kann. So nah war mir lange niemand mehr, abgesehen von Lydia, aber es fühlt sich nicht unangenehm an. Viel mehr ganz natürlich, als wäre es das Normalste der Welt, hier mit ihm unter einer Decke zu liegen, Schulter an Schulter, und eine Serie zu schauen. Er fragt mich, bei welcher Folge ich bin und klickt diese dann schließlich an. Und so schauen wir eine Folge. Und dann noch eine. Amy kommt nicht zurück. Henry und ich nehmen den Laptop abwechselnd auf den Schoß, sprechen nebenbei, fiebern mit, auch Henry, der die ganze Serie schon einmal geschaut hat. Ich spüre, wie ich langsam immer schläfriger werde, aber das ganze Geschehen ist viel zu spannend, um jetzt aufzuhören.
Meine Augen fallen immer wieder zu, doch ich kämpfe dagegen an. Ich will weiterschauen, will weiter so daliegen, mit Henry, denn das hier fühlt sich so unfassbar real an, so wirklich. Das ist mein letzter Gedanke, dann sackt mein Kopf langsam zur Seite und ich bin eingeschlafen, bevor ich es überhaupt bemerke.
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