A C H T U N D Z W A N Z I G
Wir tanzen stundenlang. Zu mindestens kommt es mir so vor, wahrscheinlich ist es eher nicht so lang, aber jegliches Zeitgefühl habe ich bereits verloren. Ich bin nicht total dicht, noch nicht, aber ich merke schon, dass ich nicht gerade wenig getrunken habe und Anna schmeißt eine Runde Shots nach der anderen.
Wir verlieren uns zwischendurch ein wenig, die einen tanzen, die anderen sind an der Bar, dann muss mal jemand auf Toilette und so weiter, aber an der Bar treffen wir uns meistens wieder. George hat in Barnähe ein Sofa besetzt. Er hat sich zwar aufgeopfert und ist mitgekommen, zum Tanzen können wir ihn aber nicht so wirklich bewegen.
Die meiste Zeit über tanze ich also mit May und die Musik ist unglaublich gut. Eine Mischung aus Oldies, Rock und 2000ern. Ich bin Feuer und Flamme. Oder Flamme und Feuer. Oder einfach nur begeistert, keine Ahnung, aber ich brauche noch einen Drink, vielleicht kann ich dann ignorieren, wie Henry mich beim Tanzen beobachtet und wie er mich beiläufig berührt, wenn er tanzt. Ich darf nicht in seine Augen sehen, denn darin tanzt ein Feuer. Und vielleicht auch Flammen. Und ich darf mich nicht verbrennen. Wow, warum bin ich nüchtern nicht so poetisch? Ich sollte Gedichte schreiben, wenn ich getrunken habe und in 200 Jahren wird das in Schulen behandelt und dann bin ich der nächste Salvador Dali. Das war doch der Typ, der beim Malen Drogen genommen hat? Keine Ahnung, ist eigentlich auch egal.
Wonderwall von Oasis reißt mich aus meinen wirren Gedanken und sofort sehe ich zu Henry hinüber. Sein Blick ruht bereits auf mir und wir sind beide bereit für unseren Einsatz.
"Today is gonna be the day that they're gonna throw it back to you. By now you should've somehow realized what you gotta do. I don't believe that anybody feels the way I do about you now!!!!", gröhlen wir los, als Liam Gallagher anfängt zu singen. Nebenbei präsentieren wir unsere ziemlich ulkigen Dance-Moves und werden von May beklatscht.
Als ich einen Blick zur Seite werfe kann ich sehen, dass Lydia mit Amy am Rand steht. Sie beobachtet uns, verdreht die Augen und sagt irgendetwas zu Amy und keine Ahnung warum, aber in dem Moment platzt mir einfach der Kragen. Ich entschuldige mich bei May und Henry und stürme auf meine "beste Freundin" zu, packe sie am Arm und ziehe sie durch die Menge.
"Verdammt, Olivia! Bist du jetzt total durchgeknallt?!", flucht sie und will sich losreißen. Als wir im Gang zum Klo stehen, lasse ich sie los.
"Ich? Durchgeknallt? Das fragst du mich allen Ernstes? Kannst du mir vielleicht einfach mal sagen, was mit dir los ist? Du ignorierst mich und behandelst mich gefühlt seit wie Wochen wie Scheiße! Gerade jetzt, wo ich meine beste Freundin brauchen würde! Aber du bist zu beschäftigt damit, dich weiter bei Amy und allen Anderen einzuschleimen, anstatt dich vielleicht mal zu erkundigen, wie es mir geht!", ich weiß, dass ich wahrscheinlich lalle und meine Formulierung zu wünschen übrig lässt, aber das muss alles einfach raus, bevor ich immer wütender werde.
"Wie bitte? DU brauchst deine beste Freundin? DU möchtest, dass ich frage, wie es dir geht? Ehrlich, wer hat dir eigentlich ins Gehirn geschissen?! Das ist nämlich genau dein Problem, Olivia! Es geht nur um dich! Es geht immer nur um dich! Oh, die arme Olivia, die sich künstlich selbst Probleme erschafft, weil sie ja so auf Henry steht und ihn einfach nicht ranlässt, weil sie Schiss hat, weil sie immer nur Schiss hat! Die Arme Olivia, die in einem Buch gefangen ist und so tut, als würde sie es hassen und alle Charaktere dazu! Soll ich den Anderen mal sagen, wie scheiße du sie angeblich findest? Würde dir das gefallen? Dir ist ja eh alles egal!"
"Was soll denn das jetzt, warum bist du so widerlich zu mir?", ich kann nicht vermeiden, dass mir Tränen in den Augen stehen. Ich versteh' es einfach nicht.
"Warum? Weißt du, du hast vielleicht deine Probleme und ich habe dir immer geholfen, ob ich es nachvollziehen konnte oder nicht. Ich weiß alles über dich. Aber DU weißt im Moment einfach gar nichts über mich oder was ich fühle. Und warum? Weil es dich nicht juckt, weil du immer, wenn ich mit dir reden wollte, einfach nicht zuhörst oder wieder mit deinem Scheiß anfängst! Du hast absolut keinen Plan davon, was in MIR vorgeht und es interessiert dich auch nicht. Vielleicht habe ich auch Probleme! Vielleicht habe ich mich auch verliebt und vielleicht wüsstest du das auch, wenn du mal eine Minute damit aufhören würdest, dich selbst zu bemitleiden und wieder damit anfangen würdest, meine Freundin zu sein. Aber das kannst du wohl einfach nicht, weil du noch egoistischer bist, als ich immer gedacht habe. Fick dich, Olivia. Fahr weiter deinen Ego-Trip, aber lass mich in Ruhe, bis du wieder klar im Kopf bist.", ich will noch etwas sagen, aber sie lässt mich einfach stehen. Tränen der Wut laufen mir übers Gesicht.
"Dann hau doch ab! Verpiss dich!", schreie ich noch, aber ich denke nicht, dass sie es hört. Ist mir auch egal. Alles egal. Ich brauche noch einen Shot. Ich will nicht über das, was sie gesagt hat, nachdenken. Ich kann's einfach nicht, ich pack's nicht.
Mit verschwommener Sicht torkele ich zur Bar und bestelle mir einen Tequila. Als ich ihn bekomme, ignoriere ich Zitrone und Salz und kippe ihn direkt runter. Dann bestelle ich einen weiteren. Kein guter Plan, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, aber einen besseren habe ich im Moment nicht.
"Hey, meinst du nicht, du hattest genug?", Caleb taucht neben mir auf, nimmt mir den Tequila aus der Hand und trinkt ihn selbst. Als er einen Blick auf mein Gesicht wirft, wird er plötzlich ernst.
"Sag mal, hast du geweint?", er legt mir einen Arm auf die Schulter und ich genieße es, dass sich jemand um mich kümmert.
"Nur aus Wut.", murmele ich und versuche zu lächeln. Ich glaube, es misslingt mir.
"Möchtest du drüber reden?"
"Ich glaub, für heute habe ich genug geredet. Lass uns einfach nur tanzen.", lalle ich, nehme seine Hand und ziehe ihn auf die Tanzfläche. Dort lege ich meine Arme um seinen Hals und tanze eng mit ihm. Ich weiß, wie dumm das schon wieder ist und ich weiß auch, dass ich mich morgen dafür hasse. Aber scheiß drauf, scheiß auf Lydia, scheiß auf meine Gefühle für Henry und am meisten scheiß auf Liane und ihr blödes Buch. Wen juckt es schon, was ich hier alles kaputt mache? Das ist nicht das Leben, das ist alles nur ein beschissener Fake, der einfach nur wehtut.
Calebs Gesicht kommt mir immer näher und ich weiß, dass ich mich zurückziehen sollte, aber ich will nicht. Ich will, dass er mich küsst. Ich will mich ablenken und ich will den ganzen Rotz hier einfach vergessen. Also ziehe ich sein Gesicht zu mir heran und drücke meine Lippen auf seine. Es ist kein sanfter, gefühlvoller Kuss. Es ist einfach nur ein betrunkener und verzweifelter, aber Caleb scheint das egal zu sein, denn er drückt mich fest an sich. Er fühlt sich nicht an wie Henry, er riecht nicht wie Henry. Er küsst mich nicht wie Henry. Ich kann das nicht, ich will das nicht. Ich muss wieder nüchtern werden.
Im nächsten Moment reiße ich mich von Caleb los und flüchte schon fast durch die Menschen vor ihm. Als ich stehen bleibe und mich umsehe, treffen meine Augen Henrys und etwas in mir zerbricht. Er sieht leer aus, beinahe teilnahmslos. Er hat uns gesehen, er muss uns gesehen haben. Oh Gott, was hab ich gemacht? Er wendet sich ab, steuert auf die Bar zu und ich versuche, ihn einzuholen. Als ich es fast geschafft habe, sehe ich nur noch, wie ein Mädchen ihm ihr Getränk ins Gesicht schüttet und gemeinsam mit ihren Freundinnen anfängt zu lachen. Henry steht stocksteif da und auch ich kann mich nicht rühren.
"Wie kommt so einer wie du überhaupt auf die Idee, jemanden wie mich anzusprechen? Ich meine, bist du blind? Guck dich an und guck mich an, Nerd.", das Mädchen lässt ihr Glas vor Henrys Füße fallen und blinde Wut kocht in mir hoch. Was fällt dieser überheblichen Schnepfe ein, so mit ihm zu reden? Sie kennt ihn doch überhaupt nicht. Als ich gerade auf sie zustürmen will, ist Louis plötzlich da.
"Was zur Hölle ist hier los?", er hat sich vor dem Mädchen aufgebaut.
"Lass gut sein, Louis. Es ist egal.", meint Henry und will ihn wegziehen. Aber Louis betrachtet seinen besten Freund, sieht das Mädchen an und scheint zu realisieren, was ungefähr vorgefallen ist.
"Hey, wie kann es sein, dass so ein Typ wie du mit so einem Nerd rumhängt? Würdest du nicht lieber mit uns tanzen gehen?", schnurrt das Mädchen, was wohl verführerisch sein soll und legt Louis eine Hand auf die Brust. Im nächsten Moment hat sie ebenfalls ein Getränk im Gesicht und stößt einen spitzen Schrei aus. Das leere Glas stellt Louis lässig auf den Tresen.
"Sorry, ich werde lieber schwul, bevor ich dich auch nur mit der Kneifzange anfasse. Und Tussis, die meinen besten Freund dumm anmachen, haben für mich schon mal überhaupt keinen Wert.", sagt er so eisig, dass ich befürchte, sie wird unter seinem Blick erfrieren. Doch dann tickt Henry plötzlich aus.
"Louis, verdammte Scheiße! Ich bin kein Kind mehr, ich bekomme meinen Mist auch alleine geklärt!
"Hey, ruhig Kumpel, ich wollte nur -"
"Helfen? Hilf dir selbst und lass mich in Ruhe. Scheiße!", Henry lässt Louis stehen und stürmt Richtung Ausgang. Ich bin mindestens so perplex wie Louis, stürme Henry dann aber hinterher. Ich kann ihn nicht so gehen lassen, so wie er gerade drauf ist. Außerdem ist das zu 90 Prozent meine Schuld.
Als ich draußen vor dem Club stehe, scanne ich die Gegen nach Henry ab und erkenne ihn auf der anderen Straßenseite. Ich sprinte, bis ich ihn endlich erreicht habe.
"Henry, warte! Bleib stehen!"
Er dreht sich um und sieht mich verwundert an. Und verletzt.
"Verpiss dich, Livvy."
"Das werde ich nicht!", er geht einfach weiter und ich laufe ihm hinterher. "Verdammt Henry, wo willst du hin?!"
"Nachhause. Geh wieder rein, ich hab keine Lust auf Gesellschaft."
"Auf keinen Fall gehe ich da ohne dich wieder rein."
Erneut dreht er sich ruckartig um.
"Jetzt mach es doch nicht schwieriger als es ist, okay? Lass mich Nachhause, geh wieder rein und hab deinen Spaß, Caleb wird sicher schon auf dich warten."
"Henry..."
"Bis dann.", er geht weiter. Einen Moment überlege ich, ihn ziehen zu lassen, aber das kommt nicht in Frage. Als ich ihm erneut hinterher rennen will, stolpere ich über meine eigenen Füße und falle hart auf die Knie. Verdammt. Einen kurzen Schmerzensschrei kann ich nicht unterdrücken.
"Livvy, meine Fresse. Hast du dir wehgetan.", Henry ist schnell an meiner Seite, hilft mir aufzustehen und platziert mich auf einer Parkbank. Plötzlich die Ruhe selbst betrachtet er meine Knie.
"Okay, das ist nur aufgeschrammt, aber es blutet ziemlich heftig. Tut es sehr weh?"
Ich werfe einen Blick auf meine blutigen Knie, schaue ganz schnell wieder weg und stehe mit Henrys Hilfe vorsichtig auf. Es brennt wie die Hölle.
"Geht schon.", murmele ich und ziehe das Gesicht zusammen.
"Wie viel hast du getrunken?"
"Zu viel."
Henry seufzt und einen Moment ist es still.
"Du kommst mit zu mir, dann machen wir deine Knie sauber und sehen, wie wir dich Nachhause kriegen, okay?"
"Okay.", flüstere ich und lasse mich fast vollkommen fallen, als Henry mich stützt.
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