A C H T

Besonders beängstigend ist, dass ich mich erstaunlich schnell an das Leben hier gewöhnt, und die unmögliche Tatsache, in einem Buch zu leben, ziemlich leicht akzeptiert habe.
Wir sind jetzt schon drei Wochen hier.
Drei ganze Wochen gefangen zwischen den Zeilen, während in der richtigen Welt, im realen Leben, vielleicht nur Minuten vergangen waren.
Ich habe Sehnsucht. Sehnsucht nach real existenten Menschen, nach meinen Eltern, ja sogar nach meiner Schule. Ich vermisse meinen eintönigen Alltag und die langweilige Realität. Einfach, weil sie zu mindestens echt ist.
Lydia lebt weiterhin nach dem Motto: "So eine Chance bekommen wir nie wieder und es vermisst uns sowieso keiner." Jedenfalls sagt sie das immer, wenn sie mein betrübtes Gesicht sieht.
Sie hat sich das Ziel gesetzt, an Amys Stelle Louis' Freundin zu werden, denn wenn ich die Handlung verändern kann, dann könne sie das schließlich auch.
Ich bin nicht so wirklich überzeugt von ihrem Plan, denn die Romanze zwischen Amy und Louis wirkt ziemlich festgelegt.
Kein Wunder, sie wurde ja auch aufgeschrieben.
Auch, wenn wir alles andere in dieser Geschichte beeinflussen können, das Hauptthema des Buches scheint fest zu stehen. Und das Thema sind nun mal die beiden.
Aber das sage ich Lydia nicht und ich frage Nickelson auch nicht danach. Damit würde ich nur zugeben, dass ich mir sowohl um die Charaktere als auch über das Buch Gedanken mache. Und wenn sie das wüssten, würde es für sie bedeuten, dass ich mich mit der Situation abgefunden habe. Und das habe ich nicht. Definitiv nicht.
Gerade sitzen wir auf dem Schulhof herum, weil unsere Chemielehrerin nicht aufgetaucht ist und alle deshalb abgehauen sind. Louis sitzt ein wenig abseits, so wie immer. Langsam geht mir dieses Ich-bin-so-ein-böser-Typ-und-hasse-Menschen-Getue total auf den Sack. Und dieser ständige Blickkontakt zwischen Amy und ihm ist extrem auffällig, auch wenn Lydia versucht, das zu ignorieren.
Anna Keating fängt an, sich eine Zigarette zu drehen. Entgegen meiner Erwartungen ist sie echt ziemlich cool. Aber vielleicht war ich auch ein wenig voreingenommen, weil sie so reich ist. Irgendwie denke ich, alle reichen Menschen sind arrogante langweilige Streber. Sie bietet mir auch eine Kippe an, aber ich lehne ab. Wenn ich rauche, dann nur auf Partys. Ich bin schon total unsportlich, das muss ich nicht noch verstärken. Henry liegt auf dem Rücken, hat die Brille abgenommen und lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Ich betrachte die vereinzelten Sommersprossen auf seinen Wangen und um die Nase, die sich seit wir hier sind sogar noch vermehrt haben. Ich erschrecke mich darüber, dass mir sowas überhaupt auffällt, aber eigentlich ist das nicht verwunderlich. Wir haben in den letzten zwei Wochen viel Zeit miteinander verbracht, denn im Gegensatz zum Rest ist Henry nicht klischeehaft und perfekt. Auf mich wirkt er am realsten von allen hier und das fühlt sich gut an. Außerdem haben wir den gleichen Musikgeschmack und er konnte mich sogar für eine Band begeistern, die ich noch nicht kannte, von der ich aber hoffe, dass sie nicht nur in diesem Buch existiert. Er öffnet plötzlich die Augen und erwischt mich dabei, wie ich ihn anstarre. Ein breites Grinsen schleicht sich auf sein Gesicht.

"Na Livy, kannst du dich mal wieder nicht an mir satt sehen?"

"Sorry, aber du bist wie ein Autounfall, grausam, schrecklich, aber man kann nicht wegschauen."

Alle lachen, auch Henry selbst und ich grinse selbstgefällig und ziehe die Augenbrauen hoch. Ich warte darauf, dass er kontert, denn dieses gegenseitige Dissen ist mittlerweile zur Routine zwischen uns beiden geworden und ich genieße unsere "Fights".
Leider enttäuscht Henry mich, indem er die Augen einfach lächelnd wieder schließt. Schade.
May, ein schwarzhaariges Mädchen mit blasser Haut und grauen Augen, mit dem ich noch nicht so richtig warm geworden bin, sieht von ihrem Handy auf und schaut uns alle begeistert an.

"Leute, meine Eltern wollten mit Freunden an die Küste fahren, aber ihre Freunde haben spontan abgesagt, jetzt haben sie mich gefragt, ob ich mit ein paar Leuten an ihrer Stelle übers Wochenende dorthin will, denn sie wollen nicht mehr fahren, haben das Haus aber schon gemietet. Habt ihr Bock? Es ist alles bezahlt!"

Henry setzt sich in Lichtgeschwindigkeit auf: "Küste? Haus? Alles bezahlt? ich bin sowas von dabei!"

"Wie viele können denn?", fragt George. Er ist der, der immer erst alles genau überdenkt und plant.

"Na ja, es sind drei Zimmer mit je zwei Betten, aber ich dachte, wir könnten einfach noch Luftmatratzen mitnehmen, falls wir alle fahren wollen."

"Ich kann sowieso nicht, ich muss ein Referat für Montag ausarbeiten. Hab' noch nicht einmal angefangen.", seufzt Louryl.

"Dann fahre ich auch nicht, ich helfe dir.", antwortet Lucas, welcher hinter ihr sitzt und ihr einen Kuss auf die Schulter drückt. Sie kichert. Die beiden sind wirklich ein Bilderbuch-Pärchen. Beide gebräunt, blond und blauäugig. Beide so groß wie Models. Wenn sie nicht so nett wären, würde ich sie echt hassen.

"Ich würde echt gern, aber ich kann auch nicht. Meine Eltern schleppen mich zu so einer Benefizgala.", stöhnt Anna und zieht an ihrer Zigarette.

"Der Rest würde mitkommen?", fragt May.

Lydia sieht mich an und ich zucke mit den Schultern. Mir ist das total egal.

"Also wir kommen auf jeden Fall.", spricht Lydia für uns beide, "Was ist mit dir Louis?", fragt sie und ich will mir am liebsten die Hand ins Gesicht schlagen. Am besten sagt sie direkt laut in die Runde, dass sie auf ihn steht.

"Solange es Alkohol gibt und wir ordentlich die Sau rauslassen können, bin ich dabei.", meint er monoton, sieht dabei allerdings Amy an. ich bin mir ziemlich sicher, dass ihre Anwesenheit über seine entscheiden wird.

"Ich war noch nie an der Küste! Natürlich fahre ich mit!", kreischt diese und klatscht begeistert in die Hände. Ich werde ihr jeden Moment irgendetwas über den Schädel ziehen.

"Na dann wird es Zeit. Ich kann dich abholen, wenn du magst.", Louis' Tonfall ist unterkühlt, aber seine Augen glänzen freudig. Das hier ist einfach so offensichtlich.

"Das wäre echt lieb von dir.", Amy wird rot.

"Ähm, ich könnte 'ne Luftmatratze mitbringen.", unterbricht Henry das peinliche Schweigen.

"Ich glaube, ich klinke mich aus.", seufzt George, "Meine Privatsphäre ist mir wichtig und ich kann nicht schlafen, wenn noch jemand im Zimmer ist."

May verdreht die Augen, sagt aber nichts.

* * *

Freitagnachmittag klingelt es an der Tür, als ich gerade einen dicken Pulli in meinen Koffer werfe und diesen schließe. Ich höre, dass Lydia nach unten rennt und die Tür öffnet. Als nächstes Henrys laute, dröhnende Stimme. Er hat angeboten, uns mitzunehmen, da wir uns hier nicht auskennen.

"OLIVIA, BEWEG' DEINEN ARSCH!", kreischt sie. Sie war natürlich schon seit drei Stunden mit dem Packen fertig. Ich lasse mir extra noch etwas Zeit und gehe dann nach unten.
Henry ist gerade mitten in einer Unterhaltung mit Nickelson, als er mich sieht und dann schluckt. Ich will es nicht, aber durch die Art, wie er mich ansieht, laufe ich rot an. Bis eben habe ich mich noch echt gut gefühlt, aber jetzt weiß ich nicht mehr, ob das knappe graue Kleid, mit dem weiten Ausschnitt, der einen Blick auf meinen schwarzen Bikini freigibt, wirklich so eine gute Idee war.
ich schüttele den Kopf und fange mich wieder. Warum mache ich mir darüber Gedanken? Ich kann mich so freizügig anziehen, wie ich will. ich bin es gewohnt, dass ich dann angestarrt werde oder dass irgendwelche ekligen Typen mir hinterher pfeifen. Das ist nichts Neues für mich.
Henrys Blick verweilt noch kurz auf mir, dann fragt er: "Können wir los?"
Als Antwort ziehe ich meinen Koffer Richtung Tür. Lydia und Henry verabschieden sich noch von Liane und folgen mir dann.

"Du könntest ruhig ein wenig freundlicher zu Liane sein.", meint Lydia, als wir in Henrys Auto, einen alten grauen Volvo, steigen.

"Ja, sie ist doch eure Tante, oder?", klinkt Henry sich ein und sieht mich fragend an.

Ich schnaube verächtlich.
"Ja, klar. Ist sie."

Henry sieht aus, als ob er noch etwas sagen will, bleibt aber stumm.
Ich habe es mir auf dem Beifahrersitz bequem gemacht und Lydia brummt irgendetwas, als sie sich auf die Rückbank quetschen muss. Viel Platz gibt es in dem Volvo nicht.
Henry startet den Motor, welcher klingt, als hätte er schon bessere Tage gesehen. Wir fahren ein Stück, sagen nichts und diese Stille geht mir ziemlich auf den Sack. Als ich die Hand ausstrecke, um das Radio anzumachen, kommt Henry auf dieselbe Idee und unsere Finger berühren sich kurz. Er zieht die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt und ich runzele die Stirn. Okay?
Ich schalte das Radio ein und Prayer of the Refugee von Rise Against ertönt aus den Lautsprechern. Ich klopfe den Takt der Musik auf meinen Oberschenkeln und Lydia beschwert sich über die Musik, während Henry die ganze restliche Fahrt stur geradeaus schaut.
Das ist untypisch für ihn, aber wahrscheinlich konzentriert er sich einfach nur auf's Fahren.
Ich lehne mich zurück und muss zugeben, dass ich mich schon ziemlich auf das Wochenende freue.
Verdammte Scheiße.

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