Kapitel 5 -Taehyung

„Entschuldigung, Sir."

Ich sehe verwundert von meinem Handy auf und blicke direkt in das runde Gesicht eines kleinen Mädchens, dass mich mit großen dunkelbraunen Knopfaugen anschaut, während es mit seinem ausgestreckten Arm auf das Laufband zeigt.

„Ihr Koffer fährt schon das dritte Mal vorbei."

Erst mit ihren Worten nehme ich meine Umgebung wieder wahr. Laute Geräusche und Stimmengewirr prasseln auf mich herein. Ich bin so tief in meinen Gedanken versunken gewesen, dass ich völlig vergessen habe, dass ich mich mitten in der Gepäckvergabehalle des Flughafens befinde. Ich sehe meinen schwarzen Koffer, der wirklich gerade an mir vorbeifährt. Daneben stehen zwei kleine Jungs, die an dem Ärmel ihres Vaters zerren, damit er sich mit dem Telefonieren beeilte. Über dem Laufband auf der Anzeige, die meine Flugnummer verkündet, sehe ich die Uhrzeit in fetten schwarzen Zahlen.

Zwölf Uhr fünfundzwanzig.

Mir bleibt nicht mehr viel Zeit mir den Koffer zu schnappen und ein Taxi heranzuwinken, um bei dem Verkehr in Seoul rechtzeitig bei meinem Termin anzukommen. Ich bin es gar nicht mehr gewohnt mein Gepäck selbst abzuholen. Als ich noch ein Teil von BTS gewesen bin, bin ich in der ersten Klasse geflogen und habe Angestellte gehabt, die sich um alles gekümmert haben. Aber jetzt übernehme ich es wieder selbst.

Es ist seltsam.

Aber es fühlt sich gut an.

Mir gefällt die Selbstständigkeit, die mir vorher abgenommen worden ist.

Die Trennung von BTS ist nur einige Wochen her und meine Solokarriere ist bereits bekannt gegeben. Bis heute morgen bin ich noch bei meinen Eltern gewesen und habe versucht einfach abzuschalten. Ich wollte nicht an die ARMY denken, die wir vermutlich enttäuscht haben und auch nicht daran, wie leer ich mich plötzlich ohne die anderen fühle. Aber es hat gut getan wieder zuhause zu sein.

Diese Auszeit habe ich wirklich gebraucht.

Die hellblaue Jeansjacke hängt über meinen Unterarm, in dem ich mein Handy halte und meinem Vater schreibe, dass ich gut in Seoul gelandet bin. Ich schicke die Nachricht ab und schalte den Bildschirm aus, während ich darauf warte, dass mein Koffer das vierte Mal angefahren kommt. Dieses Mal greife ich danach, ohne zu zögern.

Bevor ich mich auf dem Weg zum Ausgang mache, zupfe ich meine schwarze Maske zurecht und hoffe, dass mich niemand erkennen wird. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, sind sensationsgeile Reporter. Aber als ich den Flughafen verlasse, wartet niemand auf mich, um mich zu belagern und auszuquetschen.

Ich bin erleichtert.

Es wird daran liegen, dass die Entscheidung nach Seoul zu fliegen sehr kurzfristig gewesen ist. Mein neuer Agent hat mich heute Morgen angerufen, um mich um halb zwei zu treffen und die weiteren Details mit mir zu besprechen. Normalerweise wäre ich mit meinem Auto gefahren, aber das habe ich hier in Seoul gelassen. Daher ist mir nur das Fliegen geblieben.

Mein Herz klopft lautstark gegen meine Brust, als ich mich vorsichtig umschaue, ob mich jemand erkennt, und dann eine Hand hebe, um einem heranfahrenden Taxi einem Signal zu geben. Zu meiner Erleichterung steuert es direkt auf mich zu und kommt vor mir zum Stehen. Ich greife nach der Autotür und steige schnell in das Innere des Wagens, bevor von mir doch noch ein ungewolltes Foto gemacht wird.

Noch während ich mich anschnalle, nenne ich dem Taxifahrer die Adresse und fange erst an mich zu entspannen, als der Flughafen hinter uns liegt.

Ich bin aufgeregt, weil ich nicht weiß, was mich erwartet. Und gleichzeitig habe ich Angst, dass mein Agent Vorstellungen hat, die nicht mit meinen übereinstimmen.

Ich möchte meine eigene Musik schreiben.

Ich möchte entscheiden, was in meinen Musikvideos passiert.

Ich möchte die volle Kontrolle über die Interviewfragen.

Und ich möchte mit meinem Privatleben etwas mehr zurücktreten. Ich nehme gerne Vlogs für meine Fans auf, aber ich möchte trotzdem mehr Freiheiten als vorher haben. Allerdings denke ich nicht, dass es ein Problem sein wird, immerhin habe ich den Manager und Agenten gewechselt und nicht die Agentur. BigHit steht vollkommen hinter uns - auch nach der Trennung noch. Noch dazu habe ich Mr. Han nicht ohne Grund als Agenten gewählt. Eigentlich sind meine Forderungen kein Problem. Doch er hat mir am Telefon von einer großen Neuigkeit erzählt und das versetzt mich gleichzeitig in Hochstimmung, wie Sorge.

Ich wische mir die schwitzigen Hände an der schwarzen Hose ab und greife dann erneut nach meinem Handy. Die E-Mail ist noch immer geöffnet und wie schon zuvor, springt mir der Betreff in die Augen, ohne dass ich den Blick davon abwenden kann.

Klassentreffen des Abschlussjahrgangs 2014.

Den Text darunter lese ich immer und immer wieder, während mir das Blut in den Ohren rauscht. Bisher ist es kein Thema für mich gewesen. Durch die Band bin ich immer sehr eingespannt und verplant gewesen. Ich bin meistens auf Tour gewesen, wenn sich die Abschlussklasse alle zwei Jahre getroffen hat. Aber wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, dann ist es nicht der einzige Grund gewesen, weshalb ich nicht da gewesen bin. Natürlich hat es auch Gelegenheiten gegeben, an denen ich zufällig in Seoul gewesen bin, aber mich lieber in dem Tonstudio verbarrikadiert habe, anstatt dort aufzutauchen.

Ja, ich wollte meine Klasse wiedersehen.

Ich will sie wiedersehen.

Aber Sophia wird da sein und ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, wenn sie mir wieder gegenübersteht. Eigentlich will ich es. Ich will es so sehr, dass ich bereits auf „Antworten" klicke und fast zusage, doch kann ich mich rechtzeitig davon abhalten und versperre den Bildschirm. Frustriert lasse ich das Handy in meiner Hand sinken und lehne den Hinterkopf gegen die Rückenlehne. Ich seufzte tief aus und schließe für einen Moment die Augen.

Warum ist nur alles so kompliziert?

Mein Kopf neigt sich zur Seite und ich öffne die Augen. Die Straßen von Seoul rasen an mir vorbei und wenn ich die Kreuzung richtig deute, dann dauert es nicht mehr lange, bis ich bei dem Treffpunkt ankomme. Also setze ich mich wieder aufrecht hin und tue das einzig Vernünftige, was mir in diesem Moment einfällt. Kurzerhand öffne ich Kakaotalk und schreibe Jimin eine Nachricht.

‚Gehst du hin?'

Mehr schreibe ich nicht. Aber ich weiß auch so, dass Jimin es verstehen wird. Immerhin wird er die gleiche Mail bekommen haben. Und so, wie ich ihn kenne, kann er es sicherlich kaum erwarten, unsere alten Freunde wiederzusehen. Er hat es immer bedauert, wenn er nicht hingehen konnte.

Ich auch.

Aber ich habe Angst.

Als das Taxi vor der genannten Adresse hält, nicke ich dem Fahrer dankend zu, reiche ihm meine Karte und drücke ihm sogar noch Trinkgeld in die Hand, ehe ich die Tür öffne und aus dem Wagen steige.

*****

Mr. Han ist ein sehr junger Mann, vielleicht gerade mal Mitte dreißig, und komplett offen für alles, was ich mir vorstelle. Seiner Aussage nach will er mich unterstützen, nicht bevormunden, was ich sehr begrüße. Er will mich auf sozial Media loslassen ohne, dass es von einem der Angestellten kontrolliert wird. Er ist der Meinung, dass es meine Persönlichkeit unterstützt, wenn ich mich auf Twitter, Instagram und TikTok völlig austobe.

Er ist ebenfalls begeistert, als ich ihm meine Idee mit den Vlogs erzähle, und hat direkt ein paar Vorschläge, welche Themen wir als Erstes behandeln können. Ich könnte kochen, einen Tag von meinem Bloggen und manchmal können wir Fragen und Spiele einbringen, damit meine Fans mich besser kennenlernen. Ich stimme ihm erleichtert zu. Doch sein nächster Vorschlag kommt mir dann etwas zu abgehoben vor.

„Eine Biografie?", frage ich unsicher, ob ich es richtig verstanden habe. „Über mich? Nur mich? Nicht BTS?"

„Ja, nur über dich." Mr. Han schiebt sich eine in weiße Schokolade getunkte Erdbeere in den Mund und lächelt dann. „Hier und da müssen wir natürlich dein Leben bei BTS einfließen lassen und auch dein Verhältnis zu den anderen Membern, aber ja. Zu 90% geht es um dich."

Das Café, in dem wir sitzen, ist groß und eigentlich bin ich froh, dass wir uns in einem ehr abgeschotteten Bereich befinden, aber gerade kommt mir hier alles sehr beengt vor. Ich schaue über seinen Kopf hinweg auf die rote Steinwand, vor dem ein riesiges schwarz-weiß Foto von dem N-Seoul Tower hängt. Ich tue, als würde ich über die Idee nachdenken, dabei überlege ich ehr, wie ich es ihm ausreden kann, ohne ihm zu sagen, dass er übergeschnappt ist. Natürlich möchte ich herausstechen und von meinen Fans geliebt werden. Aber muss es ausgerechnet eine Biografie sein? So besonders bin ich nun auch nicht und ich weiß nicht, warum ich es verdiene und die anderen Jungs nicht. BTS bestand nicht nur aus mir alleine.

„Ich mache doch die Vlogs. Reicht das nicht aus?", frage ich hoffnungsvoll und schaue ihm wieder in das schmale Gesicht. Seine Augen sind recht klein und er hat Monolider. Als wirklich attraktive würde ich ihn jetzt nicht bezeichnen, aber dem Ring an seinem Finger nach zu urteilen, hat er eine Frau bereits von sich überzeugt.

Herzlichen Glückwunsch, du hast ein größenwahnsinnigen Visionär geheiratet – und ich habe ihn engagiert.

Mr. Han sieht mich an, als verstehe er die Frage nicht so recht. Verwundert nippt er an seinem Kaffe und lässt eine kleine Pause zwischen meiner Frage und seiner Antwort entstehen, bevor er die Tasse wieder auf den Tisch stellt und seine Worte mit bedacht wählt.

„Nein, deine Karriere nimmt an Geschwindigkeit zu und du wirst immer bekannter. Die Kommentare im Internet überschlagen sich gerade zu. Wenn du deine anderen Member übertreffen willst, dann ist eine Biografie der beste Weg."

Mir gefällt seine Wortwahl nicht.

Übertreffen.

Innerlich lache ich auf. Das hier ist kein Wettbewerb. Dass wir uns getrennt haben, hat nichts damit zu tun, dass wir alle Solo durchstarten wollen. Wir haben es getan, weil wir uns sonst selbst vernichtet hätten.

„Ich habe nicht vor sie zu übertreffen. Ich meine ja, es endete nicht gerade harmonisch, aber wir haben viele Jahre zusammen gelebt. Es würde mir wie ein Verrat vorkommen."

Mr. Han sieht mich an, als wäre ich derjenige, der die Situation nicht versteht. Als ob ich das Problem bin, dass seinem Masterplan zur Weltherrschaft im Wege steht. Aber er hat ja keine Ahnung, was diese Biografie anrichten kann, wenn auch nur ein Wort falsch niedergeschrieben wird. Die Jungs sind meine Freunde, aber ab jetzt kämpft jeder für sich selbst und ich habe nicht vor sie zu verärgern.

„So kannst du das nicht sehen. BTS existiert nicht mehr. Hier geht es um deine Karriere und nicht um ihre."

Ich lehne mich auf dem Stuhl zurück und betrachte eine Weile meine Fingernägel, ehe ich schließlich den Kopf schüttle.

„Und was ist, wenn ich das nicht will? Es ist mein Leben. Warum sollte ich über den langweiligen Bandalltag reden wollen. Es liegt in der Vergangenheit."

„Eine Biografie befasst nicht nur deine letzten Jahre. Es geht um dein gesamtes Leben, Taehyung. Die Leute wollen wissen, wieso du zu dem geworden bist, der du jetzt bist. Du tust ja so, als hütest du ein schreckliches Geheimnis."

Er lacht, weil er einen Witz gemacht hat. Aber als er bemerkt, dass ich es nicht einmal mit einem Lächeln erwidere und ihn stattdessen mit ernstem Gesicht anschaue, fügt er hinzu:

„Jede gute Band macht das. Das bindet die Fans an dich."

„Ich bin aber nicht BTS. Wir waren zu siebt und ich will auch nicht, dass mich jemand rund um die Uhr begleitet und mein Leben aufschreibt. Ich stehe eh schon zu viel in der Öffentlichkeit."

Er neigt sich über den Tisch und stützt sein Kinn auf seinen verschränkten Händen ab. Das Lächeln in seinem Gesicht ist siegessicher, als habe er mich bereits auf seiner Seite, aber da täuscht er sich.

„Komm schon, Taehyung. Ich würde dir den besten Autor zur Seite stellen."

„Und wenn du Shakespeare persönlich anheuerst. Ich will diese Biografie nicht machen. Tut mir leid, aber nein."

Er ist verärgert. Ganz offensichtlich gefällt ihm der Ausgang dieses Gespräches nicht, aber damit wird er leben müssen.

„Na schön. Ich kann dich ja nicht zwingen. Aber solltest du es dir überlegen, dann melde dich sofort bei mir. Es kann dich nach ganz oben katapultieren."

Das wird ganz sicher nicht passieren.

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