67. 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩

*Kathlyn*

„Was?" Ich brachte nur noch ein Flüstern zustande. Mir versagte die Stimme.

„Ich würde Mary natürlich nie einen Vorwurf machen, dass sie sich von unserer Arbeit distanziert hat. Als Mutter verschieben sich die Prioritäten. Sie wollte ihre Familie schützen. Aber es liegt dir in den Genen.", bekräftigte Nicoleta. Ihr Blick für mich war mütterlich stolz geworden. „Du lässt dich von den Wölfen nicht einschüchtern. Du bist eine Kämpferin. Du bist eine von uns."

„Das kann nicht sein." Meine Mutter war keine Jägerin. Das konnte einfach nicht stimmen. Das musste eine Verwechslung sein. Oder Nicoleta dachte sich all das gerade aus, um mich auf ihre Seite zu ziehen.

„Du wusstest es nicht.", stellte sie fest.

„Nein." Wir hatten erst einmal über die Jäger gesprochen. Gestern, um genau zu sein. Und da hatte sie nur gesagt, dass ich mir kein Urteil erlauben solle. Dass nicht jeder Jäger böse Absichten, oder eine Wahl gehabt habe. Und sie war von dem Thema sehr mitgenommen gewesen.

Oh mein Gott! Nein, nein, nein!

„Vielleicht war das auch besser so. Im Grunde hat dich diese Unwissenheit die letzten Wochen beschützt. Weißt du, ich kam erst nach Ilargia als alles vorbei war. Aber was mir über den Angriff der Wölfe erzählt wurde hat mich zutiefst erschüttert. Wie muss es dann für jemanden gewesen sein, der dabei war und Freunde und Arbeitskollegen verloren hat? Der um sein eigenes Leben und das seiner Familie bangen musste? Ich möchte es mir nicht vorstellen. Aus diesem Grund haben Marius und ich auch keine Kinder. Aber es steht mir und dir nicht zu, über deine Mutter zu urteilen. Ich habe sie auch nie darauf angesprochen." Sie betrachtete mich, nun eine Spur besorgt. Ich wusste, dass ich sicher kreidebleich geworden war.

„Jetzt liegt es an uns, dass zu beenden was sie damals begonnen haben Kathlyn. Es war schwer und es hat viel Kraft und Mühe gekostet, diese Einrichtung fertig zu stellen und Mitarbeiter dafür zu gewinnen. Aber es war mir wichtig, für alle Menschen die Opfer der Wölfe geworden waren. Auch für deine Familie."

„Woran habt ihr hier gearbeitet?"

„Komm, ich zeige es dir." Sie stand auf und ich folgte ihr zurück auf den Gang. Ich konnte mich nur bedingt auf meine Umgebung konzentrieren. In meinem Kopf schwirrten hunderte von Fragen. Hunderte von Ängsten.

Es konnte kein Zufall sein, dass Beth - ein Werwolf - als Arbeitskollegin meiner Mutter angefangen hatte. Die Wölfe mussten etwas geahnt haben. Was also wusste Jace darüber? Hatte er deshalb dieses Interesse an mir? Was würde er tun, wenn er die Bestätigung bekam? Wenn meine Mom wirklich am Mord an seiner Mutter beteiligt war? Wie gedachte er, ihre Schuld zu begleichen?

„Hier." Wir hatten einen Raum betreten, der mich an das Chemielabor in unserer Schule erinnerte. Reagenzgläser, Pulver, Flüssigkeiten in allen Möglichen Farben. Verschiedene Abkürzungen des Periodensystems und komplizierte Formeln standen auf einem Whiteboard. Eine Abkürzung kam wieder und wieder vor. Ag - Silber.

„Wie gut warst du in Chemie?", wollte Nicoleta wissen.

„Ich habe es gehasst.", gab ich zu. Anders als offenbar meine Mutter, die immer betonte sie könne mir nicht bei den Hausaufgaben helfen. Sie hätte selbst keine Ahnung.

„Dann versuche ich es nicht unnötig kompliziert zu machen. Es gibt eine Metall, dass für die Wölfe tödlich wird: Silber. Es vergiftet sie. Doch kaum jemand weiß, dass es noch eine Pflanze gibt, die eine außergewöhnliche Wirkung auf die Wölfe hat."

„Eisenhut.", schloss ich. Nicoleta nickte begeistert.

„Genau. Man nennt ihn auch Wolfswurz. Für uns ist er hoch giftig. Auf die Wölfe wirkt er wie eine Droge. Man gab ihn damals den Versuchsobjekten um sie ruhig zu stellen, doch einmal hat man sich in der Dosis vertan. Die Folge waren extreme Halluzinationen, Schmerzen, Probleme bei der Verwandlung und sehr hohes Aggressionspotential. Eine Laborantin - deine Mutter - stellte sich daraufhin die Frage, wie man Eisenhut und Silber verbinden könnte, und wie das auf die Wölfe wirken würde. Und sie hatte Erfolg." Nicoleta griff nach einem Reagenzglas mit einer milchig weißen Flüssigkeit. Sie betrachtete das Gemisch nachdenklich, bevor sie es wieder zurückstellte.

„Leider hat man dann das Labor entdeckt. Die Formel wurde vernichtet, doch die Grundidee blieb: Dass das Silber die Wölfe körperlich vergiftet, während der Wolfswurz ihren Verstand vernebelt. Im besten Fall so sehr, dass sie sich gegenseitig attackieren, oder dass sie nicht imstande sind das Silber zu entfernen, bis es sich von allein erledigt hat. Wir haben diese Idee wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Beispielsweise haben wir mit dieser speziellen Verbindung Munition hergestellt." Sie öffnete ein Schubfach und zeigte mir eine Reihe kleiner silberfarbener Spitzgeschosse. „Wir haben verschiedene Mischungsverhältnisse ausprobiert. Das Problem war jedoch, dass wir sie nicht testen konnten. Und wie bereits gesagt: Bei einem Kampf gegen mehrere Wölfe sind Schusswaffen sinnlos. Also haben wir uns auf eine andere Waffenart konzentriert. Eine, die imstande wäre ein ganzes Rudel auszuschalten."

„Ihr habt eine chemische Waffe gebaut." Mir wurde erneut schlecht. Das war nicht nur im höchsten Maße grausam, es war auch verboten. Völlig zu recht verboten.

„Und sie funktioniert." Nicoleta platzte beinahe vor Stolz.

„Ihr habt sie getestet?", entfuhr es mir schockiert, bis mir ein Licht aufging. Ich sah Tobias vor mir. Die Bereitwilligkeit, alle um sich herum zu töten in seinem Blick. Die Entschlossenheit sich das eigene Bein abzubeißen. „Die Ratsversammlung!"

„Es war die einzige Möglichkeit, um an die Wölfe heranzukommen. Nur bei den Ratsversammlungen wussten wir genau, wann und wo sie sich aufhalten."

„Aber es hätte jemand getötet werden können!" Mein Vater zum Beispiel.

„Das Risiko mussten wir eingehen. Wir können nicht ohne Feldversuch gegen das Rudel vorgehen. Und die Daten, die wir erhalten haben, haben all unsere Hoffnungen übertroffen. Es gibt unzählige Videos, in denen klar zu sehen ist, wie das Mittel bei den Probanden wirkt: Besinnungslosigkeit, Aggressivität, körperliche und geistige Schwäche, Orientierungslosigkeit und so weiter. Das ist ein Durchbruch! Stell dir nur vor was wir erreichen könnten, könnten wir das in der Wolfshöhle einsetzen! Sie würden sich gegenseitig attackieren ohne Ilargia in Gefahr zu bringen. Die Medien könnten nicht mehr herunterspielen, was hier passiert. Die Politik müsste endlich handeln. Man würde uns endlich glauben. Und Ilargia wäre frei. Du wärst frei."

„Tobias wollte die Ratsmitglieder töten. Sie haben ihn zu dritt bändigen müssen. Weißt du was ein einziger Wolf anrichten kann, sollte er es bis in die Stadt schaffen? Wie kannst du da behaupten, Ilargia wäre nicht in Gefahr?"

„Wir haben den Silberanteil erhöht. Der Wolfswurz sorgt dafür, dass sie nicht mehr klar denken können. Und das Silber, dass sie innerhalb kürzester Zeit nicht mehr imstande sind, irgendetwas zu tun. Sie attackieren sich gegenseitig, bis das Silber sie vergiftet."

„Ihr könnt nicht vorhersehen, wie jeder einzelne Wolf auf das Mittel reagiert. Ihr hattet drei Wölfe in der Ratssitzung und alle drei haben anders reagiert. Nur Tobias hat so reagiert, wie ihr es haben wolltet."

„Weil er unser Ziel war. Er hat die volle Dosis bekommen, die anderen nur Spuren davon. Aber du hast recht. Jeder reagiert anders, dass haben wir bei Beth und Martin gesehen. Wir können nicht garantieren, dass es kein Wolf in die Stadt schafft. Wir können nicht garantieren, dass keinem Bewohner Ilargias etwas passiert. Deshalb hatte ich dich vorgewarnt Kathe. Wenn wir es beginnen, gibt es kein zurück mehr. Es wird für uns alle Konsequenzen haben." Ihr Blick bohrte sich in meinen. „Das Gute ist, dass du es nicht mit ansehen musst. Ihr könnt zurückkommen, sobald alles vorbei ist. Das wäre auch für Mary das Beste, meinst du nicht?"

„Glaubst du wirklich, die umliegenden Rudel würde nicht davon erfahren? Sie würden Ilargia auslöschen, noch bevor ihr die Toten beerdigen konntet."

„Nein. Das verstößt gegen ihren Kodex. Das Rudel hat sich gegenseitig getötet und wir haben in Notwehr gehandelt, in Übereinstimmung mit dem Abkommen. Noch dazu wird die ganze Welt auf Ilargia schauen. Sie werden sich verkriechen. Doch sie werden nirgendwo mehr sicher sein."

Ich konnte meiner Mutter nicht in die Augen sehen, nachdem ich nach Hause gekommen war. Ich erschien nicht einmal zum Abendessen. Da sie dachte, ich wäre immer noch sauer wegen unseres Streits, ließ sie mich jedoch in Ruhe. Am liebsten hätte ich sie mit Fragen und Vorwürfen bombardiert, doch zuallererst musste ich diesen Nachmittag verdauen.

Ich hatte herausgefunden, wo das Labor war. Ich hatte die Verantwortlichen für Beths und Martins Tod gefunden. Ich wusste, was diese Waffe war. Aber ich fühlte mich weder erleichtert, noch glücklich. Ich fühlte mich leer und ausgelaugt.

Wie könnte ich Jace erzählen was passiert war, ohne den Namen meiner Mutter zu nennen? Was würde er tun, wenn ich ihm die volle Wahrheit sagte? Oder kannte er sie bereits? Hatte er mich deshalb ausgewählt? Ahnte meine Mutter etwas? War sie deshalb so freudig, dass der Notar morgen kam?

Ich könnte es aussitzen. Ich hätte nur noch drei Nächte in Ilargia, dann wäre all das nicht mehr mein Problem. Nicht mehr meine Entscheidung. Es war nie der Plan gewesen, Nicoleta den Standort der Wolfshöhle zu verraten. Doch wenn ich Jace nicht verriet, wo das Labor war und was das für eine Waffe war... Das war keine Option. Nicht für das Rudel. Nicht im Kampf gegen Claus. Aber musste er die Wahrheit über meine Mutter erfahren?

Das Ganze war so lange her, die Geschichte war doch abgeschlossen. Sie hatten ihre Rache bekommen. Und mit dem jetzigen Labor hatte sie nichts zu tun, dass konnte Nicoleta bestätigen.

Doch das würde sie nicht.

Sobald die Wölfe sie zur Rechenschaft zögen, würde sie wissen, dass ich sie verraten hatte. Und sie würde das einzige tun, was sie noch konnte: Sich rächen indem sie behauptete, meine Familie hätte von Anfang an mit drin gesteckt. Sie würde das Rudel auf uns hetzen.

Wenn ich Jace die Wahrheit sagte, würde er mir vielleicht glauben. Und vielleicht könnte ich ihn dazu überreden, meine Mutter zu verschonen. Aber würde er mir wirklich glauben, dass ich von all dem nichts gewusst hatte? Ich hatte sein Vertrauen gerade erst gewonnen. Würde ich es damit nicht vollends zerstören? Und was, wenn er meine Mom doch zur Rechenschaft ziehen wollte?

'Auf wem eine Schuld liegt, der wird sie begleichen.'

Ich zerknüllte mein Kissen und kämpfte gegen Tränen der Wut und Verzweiflung. Ich war erneut zwischen den Fronten. Und ich konnte nur verlieren.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top