61. 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩
*Kathlyn*
„Hast du das Fenster verriegelt?"
„Ja Mom." Ich beobachtete, wie sie meine Antwort überprüfte und unterdrückte ein Seufzen. Meiner Mutter wäre es nämlich am liebsten gewesen, mich auch nachts im Auge zu haben. Was folgte war eine lange Diskussion: Wo ich schlief, ob man mein Fenster vernageln müsse, ob ich in meinem Zimmer tatsächlich sicher wäre, usw. Am Ende schlich sie jede Nacht ein paar Mal in mein Zimmer um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. So bekamen wir beide keinen Schlaf.
„Und ich werde abschließen, sobald du gegangen bist.", warf ich also beiläufig ein und bekam nun ihre volle Aufmerksamkeit. „Dann fühle ich mich sicherer. Ich wache nachts ständig auf und habe das Gefühl, als wäre jemand in meinem Zimmer."
Schweigend sahen wir uns an. Natürlich würde sie nichts zugeben und ich tat, als wüsste ich von nichts.
„Das halte ich für keine gute Idee. Wenn dir etwas passiert, können wir dir nicht helfen.", begann sie dann vorsichtig.
„Was soll mir denn passieren? Das Fenster ist verriegelt. Wenn da jemand durchwill, bemerkt es das ganze Haus." Ich wollte ihre Sorge nicht belächeln, aber es nervte einfach nur noch. Zwei Tage waren vergangen, seit Jace mich zurückgebracht hatte, und meine Eltern beruhigten sich absolut nicht. Fehlte nur noch, dass sie mir einen Ortungschip vorschlugen. (Und ich hatte geglaubt, Jace wäre anstrengend gewesen ...)
„Kathe, versteh mich doch bitte. Ich möchte nicht, dass dir einer dieser Wölfe noch einmal zu nahekommt. Dein Vater hat schon überlegt sich eine Waffe zu kaufen."
„Das braucht er nicht!" Beunruhigt stand ich vom Bett auf. „Ich habe es euch doch ein paar Mal gesagt und ich wiederhole es noch einmal: Sie haben mir nichts getan. Sie würden mir auch nichts tun." Zumindest nicht Jace' Rudel.
„Du könntest dich nicht verteidigen, falls sie es sich anders überlegen."
„Kann ich doch." Ich öffnete meinen Nachtschrank und holte die silberne Scheide mit dem Dolch heraus. Jace hatte darauf bestanden, dass ich ihn mitnahm. Für alle Fälle.
„Woher hast du den?" Meine Mutter war sichtlich geschockt.
„Vom Alpha. Und ja, er ist aus Silber. Und ja, ich würde ihn im Notfall auch benutzen." Das hatte ich Jace versprochen. „Ihr könnt also aufhören, euch um meine Sicherheit zu sorgen."
Ihr Blick verriet mir, dass sie damit keineswegs gerechnet hatte. Zufrieden packte ich den Dolch zurück und ließ mich wieder auf mein Bett sinken. Ich musste nun ruhig und gefasst bleiben, sonst würde ich bei ihr nicht weiterkommen.
„Ich möchte doch nur ein wenig Normalität zurück, Mom. Deshalb habe ich überlegt, morgen in die Stadt zu gehen. Allein. Ich nehme den Dolch mit, wenn dich das beruhigt."
„Das du so ein Ding besitzt beruhigt mich ganz und gar nicht, im Gegenteil." Sie sah mich unentschlossen an. „Kannst du dich nicht wenigstens mit Thea treffen?"
„Wozu?"
„Sie ist deine Freundin."
„Ach ja? Davon habe ich nichts gemerkt, als der Alpha mich eingefordert hat. Hätte eine Freundin nicht zu mir gehalten, oder zumindest nachgesehen, wie es mir geht?"
„Das durfte sie nicht. Der Rat hat ihre Eltern informiert. Sie durfte keinen Kontakt zu dir aufnehmen, um dir deine Entscheidung nicht schwerer zu machen. Soviel ich gehört habe, haben Theas Eltern ihr sogar das Handy weggenommen." Das war mir neu, doch es passte zu Carola und dem Rat. Intrigant und manipulativ, zum ‚Wohle der Stadt'. „Du darfst auch nicht vergessen, dass wir uns isoliert hatten. Thea hat das einzige genutzt, das ihr noch blieb: Sie hat dir einen Brief geschrieben."
„Aber wir haben den Briefkasten nicht geleert.", murmelte ich und meine Mutter nickte.
„Als ich ihn fand, war es bereits zu spät. Du warst fort."
Ein Teil von mir war erleichtert, das zu hören. Ich war meiner Freundin also doch nicht so egal gewesen. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf meine Lippen.
„Du solltest sie anrufen."
„Na schön. Dann treffe ich mich morgen eben mit Thea." An meinem Plan würde es nichts ändern, es wäre sogar unauffälliger. Und falls Frumos im Café aufkreuzte, könnte er nicht offen mit mir sprechen – ein weiterer Vorteil.
Nachdem wir lange telefoniert hatten fiel ich endlich ins Bett und starrte an die Decke. Der Gedanke an den morgigen Tag machte mich unruhig und nervös. Würde ich Frumos über den Weg laufen? Würde ich versehentlich etwas über die Wölfe preisgeben, dass ich nicht sollte? Welche Fragen würde mir Thea noch stellen? Schon jetzt war es schwierig gewesen, nichts über das Rudel zu verraten. Vor allem über Jace.
Ein Stich fuhr durch mein Herz, als ich an ihn dachte. Er hatte sich nicht einmal verabschiedet. Doch was genau hatte ich eigentlich erwartet? Das er es sich anders überlegte? Das er mich besuchen kam, weil er mich vermisste?
Dabei hatte ich alles, was ich ursprünglich wollte: Ich war zurück bei meinen Eltern. Wir würden Ilargia verlassen. Claus würde weder ihnen, noch mir etwas antun können. Und er könnte mich nicht mehr benutzen, um an Jace heranzukommen. Mir stand ein freies Leben bevor. Also wieso fühlte ich mich nicht besser? Wieso war da dieser Schmerz in meinem Herzen?
Mit aller Macht drängte ich die Gefühle von Traurigkeit und Enttäuschung zurück, die mich jeden Abend heimsuchten. Die mich befielen, sobald ich nachts wach wurde und ihn nicht neben mir spürte. Ich ertappte mich dabei, wie ich tagsüber aus dem Fenster starrte und nach ihm Ausschau hielt. Wie ich jedes Mal hinter die Tür spähte, wenn ich mein Zimmer betrat. Und auch morgen würde ich darauf hoffen, ihn in der Stadt zu sehen.
Ich war so dumm!
„Man muss nicht gleich verliebt sein, um jemanden zu küssen.", schossen mir seine Worte durch den Kopf. Ich war nur ein Rudelmitglied für ihn. Und selbst das war ich nicht mehr lange.
Noch nie hatte ich mich in Ilargia so fremd gefühlt. Alle starrten mich an, oder drehten sich nach mir um. Als wäre ich ein exotisches Tier, das aus seinem Käfig ausgebrochen war. Ein gefährliches Tier, dem man nicht zu nahekommen sollte. Oder als wäre ich ansteckend.
„Manchmal ist Ilargia wirklich anstrengend.", seufzte Thea und streckte irgendwelchen Jugendlichen die Zunge heraus, die gerade dabei waren uns zu fotografieren.
„Nur manchmal?" Ich zog die Tür vom Café auf und genoss für einen Moment die vertraute Umgebung.
„Du musst sie verstehen. Es gab die verrücktesten Spekulationen, was die Wölfe mit dir machen. Einige sind immer noch der Meinung, sie hätten dich verwandelt."
„Dann haben sie in der Schule nicht aufgepasst. Man kann nicht in einen Werwolf verwandelt werden, man wird als solcher geboren." Entnervt ließ ich mich auf einen leeren Platz fallen. Der Kellner hinter der Theke hatte uns nicht einmal bemerkt. Er war komplett in seine Zeitung vertieft.
„Erzähl mir alles! Wer ist der Alpha? Wie sieht er aus?" Thea stützte ihr Kinn auf ihren Händen ab und sah mich groß an. Diese Frage hatte ich gestern Abend erfolgreich abwimmeln können und mir so Zeit zum nachdenken verschafft.
„Erinnerst du dich, als du und David mich im Café besucht haben? Da saßen in der Ecke drei Männer. Einer von ihnen hat mich Kaffeetante genannt." Thea nickte aufgeregt und ich sah sie bedeutungsvoll an.
„Nein!", rief sie aus und ihre Augen weiteten sich noch mehr. Ich zuckte die Schultern. Ich würde sie nicht belügen, doch ich würde ihre Schlussfolgerungen auch nicht korrigieren.
„Dann ist er dort auf dich aufmerksam geworden. Damit hätte ich nicht gerechnet! Sie sitzen einfach mit hier im Café. Krass!" Plötzlich flüsterte sie und sah sich unbehaglich um. „Sind jetzt welche hier?"
„Nein.", antwortete ich automatisch und versuchte mir die Enttäuschung darüber nicht anmerken zu lassen.
„Und wie leben sie so?"
„Ganz normal in einem Haus, wie wir. Ich hatte ein Bett, es gab ein Bad, wir haben normal gekocht und gegessen.", zählte ich auf.
„OH MEIN GOTT! Ich fasse es nicht! Kathlyn!", quietschte eine Stimme, bei der sich mir automatisch die Nackenhaare aufstellten. Nancy.
„Ich habe schon gelesen, dass du zurück bist, aber dich hier zu sehen ..." Sie setzte sich unaufgefordert neben mich – und versperrte mir damit meine einzige Fluchtmöglichkeit –, und lächelte mich an, als wären wir die besten Freundinnen.
Tatsächlich waren wir dies lange Zeit gewesen. In der Schule saßen wir nebeneinander. Wir lachten über dieselben Dinge, fanden dieselben Dinge furchtbar, teilten etliche Geheimnisse. Als sich Taylor von mir trennte, war sie für mich da gewesen. Später machten wir gemeinsam unsere Ausbildung im Einkaufszentrum. Und ab da wurde es plötzlich kompliziert.
Nancy musste in allem besser sein als ich. Schon bald ließ sie keine Gelegenheit mehr aus, mich vor anderen bloßzustellen. Dabei lächelte sie liebreizend, als könne sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Unsere Freundschaft zerbrach, doch ich hatte nicht den Eindruck, dass es ihr darum leidtat. Nach der Ausbildung blieb sie im Geschäft und ich begann im Café zu arbeiten. Ich tat keinen Fuß mehr ins Einkaufszentrum, um ihr nicht über den Weg zu laufen.
„Entschuldige mal, aber wir unterhalten uns hier gerade!", protestierte Thea.
„Wie ich sehe, fühlst du dich unter jüngeren Kindern noch immer am Wohlsten." Nancy kicherte herablassend, bevor sie mich äußerst mitfühlend ansah und Thea komplett ignorierte. „Alle haben sich Sorgen um dich gemacht. Tagelang warst du Gesprächsthema Nummer eins. Taylor wäre am liebsten in den Wald gestürmt, um nach dir zu suchen. Du kennst ihn ja – große Klappe und nichts dahinter."
Sie senkte verschwörerisch die Stimme und zwinkerte mir zu: „Manche Männer brauchen das einfach, um andere Defizite zu überspielen. Wobei wir bei der Frage wären: Wie sind die Wölfe bestückt? Halten sie so lange durch, wie man sich erzählt?"
Interessiert sah sie mich an, ein herausforderndes Lächeln auf den Lippen. Thea klappte die Kinnlade herunter. Schamesröte kroch mir in die Wangen. Doch noch ehe ich antworten konnte, begann Nancy lauthals zu lachen, sodass sich jeder im Café nach uns umdrehte.
„Das war ein Witz Kathy. Ich wusste, dass er dich nicht anrührt. Mal ehrlich: Hätte es jemand anderen erwischt, hätte ich mir Sorgen gemacht. Aber bei dir? Den Männerschreck?" Ihre Worte fühlten sich wie Messerstiche an. „Ich habe Taylor gleich gesagt, dass sie dir nichts tun werden. Und dass es nicht lange dauern wird und sie bringen dich freiwillig zurück."
„Nancy!", zischte Thea erbost. Ich hatte vergessen wie man spricht oder sich wehrt. Ich war wie betäubt.
„Ich bitte dich, was soll ein Alpha mit ihr wollen?" Sie bemerkte meinen Blick und fasste sich theatralisch ans Herz. „Was natürlich nicht heißen soll, dass es eine leichte Zeit für dich war." Um ihre Worte zu untermauern, griff sie meine Hand. Ich spürte ihre Berührung kaum. In meinen Ohren rauschte es.
„Ein Glück, dass du bald völlig neu anfangen kannst. Stell dir mal vor, du müsstest wieder hier arbeiten." Sie deutete kopfschüttelnd auf den Tresen. „Und überleg mal: In der neuen Stadt findest du vielleicht auch Freunde in deinem Alter.", ein abfälliger Blick zu Thea. „Wenn du Glück hast, lernst du sogar mal jemanden kennen, der nicht gleich davonläuft. Du kannst all das hinter dir lassen und neu anfangen. Das ist doch gut für dich."
Ich reagierte nicht. Ich versuchte so emotionslos zu sein wie Jace und mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihre Worte mich trafen. Sie bohrte in genau der Wunde herum, die ich die ganze Zeit zu ignorieren versuchte.
„Ich muss jetzt los. Es war schön, dich wohlbehalten zu sehen." Sie umarmte mich noch scheinheilig, bevor sie aufstand und davonging.
„Hör nicht auf sie, sie ist nur neidisch!" Thea beugte sich nach vorn, da trat jemand an unseren Tisch.
„Du bist doch die, die die Wölfe geholt haben.", stellte der Kellner fest und starrte mich unverblümt an. Keine von uns reagierte. „Aber deinen Job willste nicht wieder, oder? Weil ich den jetzt nämlich habe."
„Lesen Sie keine Zeitung, junger Mann? Sonst wüssten Sie, dass Miss Lunes gezwungen wird die Stadt zu verlassen." Ein Mann war neben ihn getreten. Er kam mir bekannt vor, doch mir schwirrte noch immer der Kopf und ich war außerstande nachzudenken.
„Möchten die Damen etwas trinken? Vielleicht einen Kaffee?", fragte er höflich. Thea nickte, woraufhin er breit lächelte. Der Kellner verzog sich, irgendetwas vor sich hinmurmelnd.
„Ich möchte euch gar nicht lange stören, aber ich würde mich sehr gern mit Ihnen unterhalten Kathlyn."
„Sind Sie von der Zeitung?", fragte Thea misstrauisch.
„Nein, um Gottes Willen." Er streckte mir freundschaftlich eine Hand hin. „Mein Name ist Marius Frumos."
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