60. 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩
*Jace*
Wie erwartet war die Entscheidung des Rats rasch gefallen: Kathlyn sollte gegen Martins Leichnam ausgetauscht werden. Und sobald ein wenig Zeit vergangen wäre, würden sie sich auch Beth holen und beide der Mondgöttin zurückgeben. Das hatte sich Jace geschworen. Doch zunächst würde er die Verantwortlichen höchstpersönlich zur Rechenschaft ziehen. Auch das hatte er sich geschworen.
„Wenn wir sowieso nur herumstehen und warten, hätte ich auch länger schlafen können." Kathe gähnte herzhaft, bevor sie sich fröstelnd die Arme um den Körper schlang. Sie standen auf der Anhöhe vor Ilargia, verborgen hinter Bäumen und verschluckt von der Dunkelheit. Hier standen sie schon eine Weile, warteten und beobachteten die Umgebung. Langsam setzte die Morgendämmerung ein. „Wie lange dauert das noch?"
„Ich habe keine Ahnung. Aber es ist immer klüger, früher vor Ort zu sein und sich einen Überblick zu verschaffen."
„Und das hättest du nicht ohne mich machen können? Ist dir bewusst, wie wenig ich geschlafen habe?"
„Du wirst es überleben."
„Danke für dein Mitgefühl." Verärgert verschränkte sie die Arme vor der Brust. Jace seufzte.
„Claus' Spion wird früh genug erfahren, dass du zurück in der Stadt bist. Je weniger Handlungsspielraum er hat, desto besser. Also nein, ich hätte dich nicht länger in der Wolfshöhle lassen können."
„Durfte ich mich deshalb nicht verabschieden? Oder Frühstücken?" Kathe warf ihm einen mürrischen Blick zu. „Es gab nicht einmal Kaffee!"
„Du wirst es überleben.", wiederholte er ungerührt. Er war nicht in Stimmung für Diskussionen oder Rechtfertigungen. Er hatte überhaupt nicht geschlafen. Wann er zuletzt etwas gegessen hatte, wusste er nicht einmal mehr. Und was ihm gleich bevorstand verbesserte seine Laune keineswegs.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann lief Kathlyn zur Höchstform auf:
„Du kannst es kaum erwarten mich loszuwerden, oder?", warf sie ihm wütend vor. Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Lautstärke zu drosseln. „Ich wette du hattest noch nie ein Rudelmitglied, mit dem du so viele Schwierigkeiten hattest!"
„Zumindest keines das mir ständig widerspricht, oder das Gegenteil von dem tut, was ich sage.", gab er provozierend zurück und Kathe schnaubte empört auf.
„Dann fehlen deinem Rudel eindeutig noch ein paar Mitglieder, die selbst mitdenken können – und nicht nur nach deiner Pfeife tanzen wie Zombies!"
„Zombies?" Er zog spottend eine Augenbraue nach oben. „Sind das nicht Figuren aus euren Horrorfilmen, die nichts anderes als Kannibalismus im Kopf haben? Josi und Emmely werden sich geschmeichelt fühlen. Ich richte es ihnen aus."
„Er kommt!", schaltete sich plötzlich Alec ein. Er stand auf der anderen Seite und beobachtete die Straße. Jace wandte sich dieser augenblicklich zu und Kathe, die schon nach Luft geschnappt hatte, schnaubte lediglich erneut und taxierte ihn mit bösen Blicken.
Ein Auto bog in die Straße zu ihrem Elternhaus ein. Sie beobachteten angespannt, wie es direkt davor anhielt und jemand mühsam ausstieg. Kathe kniff konzentriert die Augen zusammen. Jace sah sehr deutlich, wer es war: Paul Stein. Das Ratsmitglied das Alec als ‚grün hinter den Ohren' bezeichnet hatte. Und eines der Ratsmitglieder, die bei der Verhandlung heute Morgen dabei waren. Paul sollte als Zeuge dafür fungieren, dass es Kathlyn wirklich gut ging und die Wölfe ihr Wort hielten.
„Es geht los." Jace war komplett auf den Plan fokussiert. Ohne nachzudenken begann er den steilen Abstieg und erst auf halber Strecke fiel ihm Kathe wieder ein.
Ein Blick nach oben verriet ihm, dass sie sichtlich Schwierigkeiten hatte. Der Boden war von der Nacht noch gefroren und bot so gut wie keinen Halt. Dazu war der Hang recht felsig. Dennoch bat sie ihn nicht um Hilfe und ihr Gesicht sagte ihm, dass sie das auch nicht freiwillig tun würde. Verbissen hielt sie sich an einem Büschel Gras fest und versuchte ihre Schuhspitzen in die gefrorene Erde zu bohren.
„Warte.", rief er nach oben und wollte umkehren, da riss das Gras. Ein panischer Schrei zerriss den frühen Morgen, als Kathe abrutschte und vergebens versuchte sich irgendwo festzuhalten. Sie rutschte ein gutes Stück hinunter, ehe ihre Füße auf einen Vorsprung trafen, sie das Gleichgewicht verlor und nach hinten kippte.
Jace fluchte innerlich und machte einen Satz zur Seite, um sie abzufangen. Auch er rutschte ab, denn durch die Eile fand er keinen sicheren Stand, doch er hatte nur Augen für die fallende Kathe.
Er kam rechtzeitig. Ihr Körper prallte gegen seinen. Die Wucht des Aufpralles ließ ihn taumeln, seine Fingerkuppen versuchten sich an die Felsen zu krallen. Er spürte wie Nägel wegbrachen und Haut aufplatzte. Sie rutschten gemeinsam noch einen guten Meter hinunter, dann konnte Jace sie endlich stoppen.
Keuchend schnappten sie nach Luft und er spürte, wie Kathe zitterte. Doch bis auf aufgeschürfte Knie schien sie nicht verletzt zu sein.
„Alles in Ordnung?", vergewisserte er sich, und versuchte ihren Duft und ihre unmittelbare Nähe zu ignorieren. Ihr Körper fühlte sich viel zu gut an.
Kathe nickte und ihre Aufmerksamkeit fiel auf seine blutigen Fingerkuppen.
„Jetzt ist auch eindeutig der falsche Moment, um sich den Hals zu brechen.", fuhr er fort, um sie beide abzulenken. „Wie soll ich deinen Eltern erklären, dass es dir bis vor wenigen Minuten noch gut ging, und du selbst in den Tod gestürzt bist?"
„Ist das alles, worum du dir Sorgen machst?" Sie sah fassungslos zu ihm auf. Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen und bemerkte, wie ihre Wangen Feuer fingen. „Du bist so ein ..."
Schweigend starrten sie sich an und Jace wartete vergebens darauf, dass sie ihren Satz zu Ende brachte. In ihrem Blick lag etwas Flehendes, das er nicht zuordnen konnte. Ihre Wangen waren noch immer gerötet. Ihr Brustkorb hob und senkte sich wieder unregelmäßiger, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Langsam glitt sein Blick zu ihren Lippen.
„Geht es euch gut?", schaltete sich Alec ein und riss Jace aus seinen Gedanken.
„Ja, alles in Ordnung."
„Gut, denn sie warten auf euch. Es wäre vielleicht besser, wenn ihr euch langsam in Bewegung setzen würdet."
Jace schloss die Augen und sammelte sich. Er durfte jetzt nicht schwach werden. Er durfte sein Rudel nicht im Stich lassen. Er musste Kathe in Sicherheit bringen. Als er die Augen wieder öffnete, waren sämtliche Gefühle weggeschlossen.
„Kannst du dich an mich klammern?", fragte er Kathe, die seine Wandlung sehr wohl bemerkt hatte. „Wenn ich dich festhalte bekommst du blutige Abdrücke. Das könnte zu Missverständnissen führen."
„Wie soll ich ...?"
„Dreh dich langsam um. Dann leg deine Arme um meinen Hals und deine Beine um meine Taille." An anderer Stelle hätte er das mit Sicherheit genossen. Er hätte sie gegen den Felsen gepresst und ihre Position höchstwahrscheinlich ausgenutzt. Nun jedoch vergewisserte er sich nur, dass sie sich ordentlich festhielt und begann anschließend den Abstieg. Kathe vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge und schloss die Augen.
„Ihr Schrei hat für einige neugierige Blicke gesorgt, aber durch die späte Dämmerung hat euch niemand entdeckt.", klärte Alec ihn auf.
„Sind alle auf ihren Posten?"
„Ja. Zwei Straßen weiter parkt ein Transporter. Ich vermute, dass Martin darin liegt. Sonst ist alles ruhig."
„Gut. Behaltet ihn im Auge." Jace ließ Kathe herunter, die den Blick starr auf den Boden gerichtet hielt. Langsam dirigierte er sie in Richtung ihres Hauses.
„Weißt du noch, was wir gestern Abend besprochen haben?"
„Ja.", antwortete sie tonlos. „Es ist schließlich nur ein paar Stunden her."
„Lass dich so bald wie möglich in der Stadt sehen, damit Frumos dich ansprechen kann.", wiederholte er dennoch. „Sei ihm gegenüber vorsichtig und lass ihn nicht zu schnell an dich heran. Er soll um dein Vertrauen kämpfen."
„Ich kenne meine Rolle Jace!"
„Dann ist dir hoffentlich auch bewusst, was alles von dir abhängt."
Kathe kniff die Lippen aufeinander und schwieg. Sie bogen in die Straße ein, in der sie wohnte, doch sie bemerkte es nicht einmal.
„Was ist los? Wenn du Bedenken hast, dann sag es jetzt!", verlangte er misstrauisch.
„Ich habe keine Bedenken. Ich habe nur eine Frage."
„Und welche?"
„Bin ich für dich eigentlich nur ein Mittel zum Zweck?" Sie war stehen geblieben. Etwas in ihrer Stimme zitterte, ihre Augen wirkten trüb und auch die Anspannung ihres Körpers gefiel ihm nicht.
„Du bist ein Mitglied meines Rudels." Jace hatte keine Ahnung, worauf sie eigentlich hinauswollte. „Fühlst du dich ausgenutzt, weil ich dir diese Aufgabe gegeben habe? Ich weiß, dass es nicht ungefährlich ist. Aber wir haben darüber gesprochen, dass du verschwindest, solltest du ein komisches Gefühl bekommen."
„Nein, dass meine ich nicht."
„Was meinst du dann?"
„KATHLYN!" Mary brüllte die halbe Straße zusammen und kam auch gleich auf sie zu gerannt, ehe sie jemand aufhalten konnte. Steven war direkt hinter ihr.
„Vergiss es einfach.", hörte er Kathe noch murmeln, bevor sie den Blick auf ihre Eltern heftete. Jace bekam keine Gelegenheit mehr noch einmal nachzuhaken, als sich die drei schließlich in die Arme fielen.
„Mein Mädchen!" Kathes Mutter weinte vor Freude und nahm das Gesicht ihrer Tochter in die Hände, als könne sie es nicht fassen.
„Geht es dir gut? Hast du eben geschrien?" Sie schob Kathe von sich und musterte sie. Ihr Blick blieb an der aufgeschürften Hose hängen und schoss automatisch zu Jace und seinen blutigen Fingern.
„Ich wusste es!" Im nächsten Moment hatte sie Kathe schon hinter sich geschoben, als müsste sie sie vor ihm beschützen. Der Hass und die Abscheu, mit der Mary ihn betrachtete, waren beinahe greifbar.
Jace war sich sicher, dass sie kurz davor war sich auf ihn zu stürzen. Auch Steven schien das zu bemerken, denn er legte ihr beschwichtigend eine Hand auf die Schulter.
„Nun, wer hätte das gedacht. Sie ist tatsächlich noch am Leben." Paul Stein kam langsam näher und betrachtete Kathe prüfend, die überfordert und verloren wirkte.
Mary warf ihm noch einen letzten tödlichen Blick zu, bevor sie ihre Tochter sanft mit sich schob.
„Lass uns gehen!"
„Warte!" Verzweifelt warf Kathe einen Blick zurück, doch Jace griff nicht ein. Kurz begegneten sich ihre Blicke, dann stellte sich Steven in sein Blickfeld.
„Glaub ja nicht, dass ich nicht weiß warum ihr den Wolf wollt. Ich bin nicht blöd!", begann Paul, kaum dass die Frauen außer Hörweite waren. Er trat einen drohenden Blick auf Jace zu, doch dieser blieb unbeeindruckt. Der alte Mann machte ihm keine Angst.
„Sollte noch einmal jemand von eurem Rudel einen Bürger Ilargias angreifen, werdet ihr nicht so glimpflich davonkommen. Das versichere ich dir!" Einen Augenblick lang lieferten sich die beiden ein Blickduell, bis sich Steven räusperte.
„Schön." Paul zog ein Handy aus seiner Jackentasche, drehte ihnen den Rücken zu und ging langsam zurück. „Ihr könnt kommen. Wir haben das Mädchen."
Steven machte Anstalten ihm zu folgen, blieb dann jedoch noch einmal stehen: „Sag eurem Alpha, dass wir nicht mehr lange bleiben werden. Nachher kommt ein Makler. Wir sind hier weg, so schnell es geht. Ihr werdet Kathe nicht wiedersehen, versprochen!"
Jace nickte mechanisch. Er fühlte sich seltsam taub. Stevens Blick fiel ebenfalls auf seine blutigen Finger und er wandte sich ab. Dennoch verstand Jace sehr wohl, was Kathes Vater im weggehen murmelte:
„Dafür werde ich sorgen."
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