52. 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩
*Jace*
Es war spät geworden. Alec und Jace versuchten den restlichen Tag noch etwas zu retten, doch der Schaden war angerichtet.
Kathe sah ihm sofort an, dass er wütend war. Vielleicht lag es daran, dass er seine Wut weder verbergen konnte, noch verbergen wollte. Vielleicht lag es daran, dass er sie nach oben zitiert hatte, kaum dass er zurück war. Vielleicht lag es auch an der Kücheninsel, an der er saß und die im Gegensatz zu gestern leer war.
„Setz dich.", befahl er. Sie gehorchte ohne Widerworte, sichtlich eingeschüchtert von seinem Blick und seinem ernsten Tonfall. „Ich hatte heute eine nette Unterhaltung mit deinem Vater – und mit Beth."
„Du hast meinen Vater gesehen?" Etwas in ihren Augen regte sich, doch es verschwand, als sie seinen Blick bemerkte.
„Allerdings. Wusstest du, dass er dich für tot hält?"
„Bitte was? So ein Unsinn! Warum sollte er das glauben?"
„Weil du ihm – hinter meinem Rücken – einen Brief geschrieben hast. Sie sollen auf dich keine Rücksicht nehmen und die Stadt verlassen."
„Ja, aber das habe ich doch nur wegen Claus ... Ich hatte dir doch gesagt, dass ich nach einer Lösung gesucht habe!"
„Von dem Brief hast du mir nichts erzählt! Ebenso wenig wie Beth.", knurrte er und schlug auf die Küchenplatte. Sie zuckte erschrocken zusammen. „Das hat Konsequenzen für uns, die du dir nicht vorstellen kannst!"
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Auch Beth hatte seinen Zorn bereits zu spüren bekommen. Sie hatte ergeben den Kopf gesenkt und sich entschuldigt, was ihn keineswegs besänftigt hatte. Doch nun sah er, wie Kathe entschlossen die Schultern straffte.
„Gut, ich habe vergessen dir davon zu erzählen. Das war keine Absicht. Aber ich hätte diesen Brief niemals schreiben müssen, wenn du dich an unsere Abmachung gehalten hättest!"
„Ich habe dir gut begründet, warum ich den Wetteinsatz nicht sofort einlösen kann. Obwohl ich mich dir gegenüber nicht rechtfertigen muss, habe ich es getan. Und das war der Dank?"
„Du dramatisierst! Ich habe ihnen nur geschrieben, dass es mir gutgeht. Dass sie sich keine Sorgen machen sollen. Und ja, dass sie die Stadt verlassen sollen, damit Claus mich nicht weiter erpressen kann. Aber ich habe ihnen keine Begründung genannt, ich habe niemanden beschuldigt, nichts dergleichen! Also was ist dein Problem? Dass ich dich nicht um Erlaubnis gefragt habe?"
„Kathlyn." Er versuchte ruhig zu bleiben, doch es fiel ihm sichtlich schwer. „Hast du jemals darüber nachgedacht, wie dein Brief in Anbetracht der Umstände wirken könnte?"
Sie sah ihn verständnislos an, also fuhr er fort: „Marius Frmos benutzt dich als Anlass, das Abkommen auflösen zu wollen. Er hat bereits mehrere Intrigen gesponnen und die Bürger Ilargias gegen uns aufgehetzt. Bisher ist er gescheitert. Jetzt hat er verlangt, dass sich die Stadt von deinem Wohlergehen überzeugen muss. Schließlich könnte man nicht wissen, wie es dir tatsächlich geht. Deshalb sollte es die Ratssitzung geben." Kathes Augen wurden größer.
„Während Frumos das fordert, schreibst du deinem Vater diesen Brief. Und einen Tag später greift Tobias – während dieser Ratssitzung – die Ratsmitglieder an. Wie, glaubst du, wirkt das?"
„Ich ... Ich konnte doch nicht ahnen ..."
„Dein Vater glaubt, du wärst tot. Er glaubt wir haben den Stadtrat absichtlich angegriffen, um die Ratssitzung zu sprengen und deinen Tod zu vertuschen. Genau das hat er uns vorhin gesagt und genau das glauben nun auch die übrigen Ratsmitglieder."
„Dann bring mich zu ihnen! Das wird sie vom Gegenteil überzeugen!" Das war auch Alec' Vorschlag gewesen. Es wäre die einfachste Lösung, gäbe es da nicht ein entscheidendes Problem:
„Deine Frist läuft morgen ab Kathlyn. Und solange wir nicht wissen was dann passiert, wirst du die Stadt nicht betreten!"
„Dann hol meinen Vater hier her!"
„Was würde das ändern? Denkst du, man würde ihm glauben? Oder sähe es nicht eher danach aus, als hätten wir ihn bedroht und eingeschüchtert?"
„Suchst du nach Lösungen, oder nach Ausreden?" Er wollte etwas erwidern, doch Kathe ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Dann ist die Frist morgen eben abgelaufen, na und? Wir müssen doch niemanden erzählen, dass ich nach Ilargia gehe! Ich kann helfen Jace!"
„Glaubst du es hilft mir, wenn du eigenmächtig Entscheidungen triffst, ohne die Hintergründe und Fakten zu kennen?"
„Und wer verschweigt mir diese Hintergründe und Fakten? Du lässt mich absichtlich unwissend und verlangst blindes Vertrauen – aber du vertraust mir nicht!"
„Du wirst wohl kaum von mir verlangen, dass ich dir genauso vertraue wie Alec oder Josi. Doch wenn ich dir nicht vertrauen würde, würdest du nicht neben mir schlafen."
„Das darf ich auch nur, damit du mich besser unter Kontrolle hast!"
„Hätte ich dich auch nur ein bisschen unter Kontrolle, hättest du diesen Brief nicht geschrieben. Aber du bist hier weder eingesperrt, noch darfst du keinen Kontakt zu deinen Eltern haben. Du hast eine Menge Freiheiten, auch das setzt Vertrauen voraus. Allerdings wäre es wohl besser, dir ein paar dieser Freiheiten wieder wegzunehmen!"
„Prima, dann sperr mich doch gleich in eine Zelle neben Tobias! Dann weißt du jeden Tag jede Sekunde, wo ich bin und was ich mache!"
„Provozier mich nicht Kathlyn, denn ich bin tatsächlich kurz davor!", brauste er auf. Dieses Mädchen machte ihn schier wahnsinnig!
Eine ganze Weile schwiegen sie beide und versuchten sich zu beruhigen.
„Ich wollte nur meine Eltern beschützen Jace. Es tut mir leid, wenn du das nicht verstehst.", erklärte Kathe schließlich bitter und rutschte vom Hocker. Er hörte ihr an, dass sie kurz davor war zu weinen.
„Und ich muss eine Stadt, samt deinen Eltern, und ein ganzes Rudel beschützen. Dich eingeschlossen.", gab er ruhig zurück. „Doch das kann ich nicht, wenn du tust was du willst. Ich kann es nicht, wenn du mir nicht vertraust."
„Ich versuche doch dir zu vertrauen Jace, aber du machst es mir nicht leicht. Die Grundlage für Vertrauen ist, dass man einander kennt. Aber ich weiß so gut wie gar nichts über dich, außer dem was ich beobachte und was andere mir erzählen. Worauf soll ich mein Vertrauen also aufbauen?"
Jace schwieg und schließlich drehte sich Kathe um und verschwand im Schlafzimmer. Diese Nacht schlief sie von ihm abgewandt, während er noch lange wachblieb und über ihre Worte nachdachte.
Es war immer noch dunkel draußen, als er Kathe sanft an der Schulter rüttelte. Sie brummte lediglich unzufrieden und schlug nach ihm.
„Wach auf, Schlafmütze. Wir machen einen Ausflug."
„Was?", fragte sie schlaftrunken, setzte sich auf und rieb sich die Augen.
„Steh auf, mach dich fertig und zieh dir etwas Warmes an. Beeil dich.", wies er sie an und verließ das Schlafzimmer mit einem Rucksack. Darin verstaute er in der Küche ein paar belegte Brote und eine Thermoskanne mit Kaffee. Als er fertig war stand Kathe in der Diele, in eine dicke Jacke gehüllt.
„Wohin gehen wir?" Sie war plötzlich putzmunter. Abenteuerlust, Neugierde und auch ein wenig Aufregung schwangen in ihrer Stimme mit und ließen ihn schmunzeln.
„Das wirst du noch sehen." Er reichte ihr den Rucksack und schob sie leise die Treppe hinunter. In der Eingangshalle bedeutete er ihr, draußen zu warten. Ihre Augen blitzten vorfreudig. Zumindest, bis er mit der Schnauze die Tür aufstieß und vor die Wolfshöhle trat.
Es war das erste Mal, dass sie seine Wolfsgestalt sah. Ehrfürchtig betrachtete sie ihn von Kopf bis Fuß. Sein dunkles Fell, das vollkommen mit der Nacht verschmelzen würde. Seine spitzen, langen Ohren, die in die Wolfshöhle hineinzeigten und lauschten, ob man sie entdeckt hatte. Seine eisblauen Augen, die sie unverwandt ansahen.
Langsam kam er auf sie zu und sie wich nicht zurück. Er blieb neben ihr stehen und drängte seine Seite auffordernd gegen sie, bevor er mit den Vorderpfoten ein Stück nach unten kam. Sie verstand und zögerte nur kurz, ehe sie schließlich aufstieg. Ihre Beine schlangen sich um seine Körpermitte, ihre Hände suchten Halt in seinem Fell.
Er ließ seine Körpertemperatur ansteigen, um ihr zusätzliche Wärme zu spenden. Die Temperaturen sanken nachts inzwischen unter den Gefrierpunkt und auch jetzt war es noch eiskalt. Dann setzte er sich in Bewegung und verfiel in einen leichten Trab. Als er sich sicher war, dass sie sich gut genug festhielt, beschleunigte er stetig sein Tempo. Schon nach kurzer Zeit erreichten sie den Außenring der Wachposten, die sie ohne zu fragen durchließen. Danach gab es für Jace kein Halten mehr.
Es hatte ihm gefehlt. Die Bäume rauschten an ihnen vorbei, Blätter wirbelten zu seinen Pfoten auf und ein eisiger Wind peitschte ihm ins Gesicht. Die Sonne war noch immer nicht aufgegangen. Feiner Nebeldunst hatte sich am Boden abgesetzt, es roch nach feuchter Erde und Laub. Vereinzelt stoben erschrockene Vögel auf, als sie vorbeikamen. Dabei hatte Jace noch längst nicht sein Höchsttempo erreicht.
Er wurde noch schneller, sodass niemand sie so einfach hätte verfolgen können. Kathe gab ein kurzes quietschen von sich und schmiegte sich enger an ihn, doch sie hielt ihn nicht auf. Je schneller er wurde, desto mehr hatte er das Gefühl, alle Sorgen und jegliche Verantwortung hinter sich lassen zu können. Und Jace begann zu rennen, bis er das Gefühl hatte, kaum noch den Boden zu berühren.
Er hatte kein Zeitgefühl mehr, doch er wusste, dass sie sich weit von der Wolfshöhle entfernt hatten. Sie waren so weit ostwärts gelaufen, dass sie beinahe die letzten Ausläufer des Fels-Pass erreicht hatten. Die Grenze zu Vastus.
„Sind wir bald da? Langsam tut mir alles weh.", hörte er Kathe und gab ein bestätigendes Schnauben von sich. Nach einer Weile drosselte er die Geschwindigkeit, bis er wieder einen leichten Trab erreicht hatte. Laubbäume waren Nadelbäumen gewichen. Vor ihnen ragten Felsen auf, die in der Gebirgskette gipfelten. Auch die Sonne begann nun aufzugehen und ließ den Nebeldunst aufsteigen.
Er bog ab, folgte einem Trampelpfad, den Tiere geschaffen hatten und der auf steinigem Grund endete. Glasklares Wasser erstreckte sich zu ihren Füßen in einem riesigen See, an dem unzählige Waldtiere ihren Durst stillten, und der von der Gebirgskette gespeist wurde. Diesen Ort hatte er noch niemanden gezeigt. Er war einsam und friedlich, vollkommen unberührt und barg einige seiner schönsten Erinnerungen.
Jace blieb stehen und Kathe schwang sich ein wenig steif von seinem Rücken. Ihre Wangen und ihre Nasenspitze waren von der Kälte gerötet, doch ihre Lippen zierte ein breites Lächeln, während sie sich staunend umsah.
„Zuerst habe ich gedacht, du bringst mich nach Ilargia. Aber das ist eine echte Überraschung. Wo sind wir?"
Er tippte mit der Schnauze auf den Rucksack, den sie trug, und zupfte leicht mit den Zähnen daran. Sie setzte ihn ab und er trug ihn ein Stück in den Wald hinein, verwandelte sich zurück und zog sich an. Als er zurückkam kniete Kathlyn am Wasser, tauchte ihre Hand hinein und zog sie augenblicklich zurück.
„Mein Gott ist das kalt!", fluchte sie, hauchte in ihre Hände und rieb sie aneinander.
„Ich habe Frühstück und heißen Kaffee. Zumindest hoffe ich, dass er noch heiß ist." Jace holte zwei Tassen, sowie die Thermoskanne aus dem Rucksack und schenkte ihnen ein. „Frierst du?"
„Es geht schon." Sie umklammerte ihre Tasse und betrachtete ihn neugierig. „Also, wo sind wir? Wieso sind wir hier?"
„Wir sind an dem Ort, an dem sich meine Eltern kennengelernt haben." Er sah an ihr vorbei zum See, der nun den rotglühenden Himmel widerzuspiegeln begann. Einen Moment lang herrschte einvernehmliches Schweigen und sie betrachteten den Sonnenaufgang und tranken ihren Kaffee.
„Es ist wunderschön hier.", stellte Kathe nach einer Weile fest und warf ihm einen kurzen Blick zu.
„Dieses Gebiet gehört noch zu unserem Revier. Es war der Rückzugsort meines Vaters. Doch als er eines Sommermorgens hierherkam, erwischte er meine Mutter beim baden." Ein schmunzeln schlich sich auf Jace' Lippen, als er sich die Szene vorstellte. „Er hat wohl nicht lange gebraucht, um ihr Herz zu erobern. Schließlich hat er sie beansprucht und in sein Rudel geholt – Iluna."
„Ich dachte, du wärst in Deorum aufgewachsen?"
„Das bin ich. Mein Vater verschwand, kurz nachdem ich auf die Welt kam. Auf das Drängen meines Onkels hin, der damals Alpha von Deorum geworden war, kehrten wir dorthin zurück. Iluna war für meine Mutter jedoch wie eine zweite Heimat geworden und sie hat immer gehofft, mein Vater würde zurückkehren. Deshalb haben wir das Rudel oft besucht. Wir haben dann immer einen Umweg genommen, um hier eine Pause einzulegen." Jace zeigte auf den See und die Umgebung. „Wahrscheinlich hatte sie die Hoffnung, dass er eines Tages am Ufer sitzt und auf uns wartet. Sie hat nie aufgehört nach ihm zu suchen, aber wir haben ihn nie gefunden. Ich vermute, dass ihm dasselbe widerfahren ist, wie meiner Mutter später. Ich war acht Jahre alt, als sie von Jägern getötet wurde."
„Es tut mir so leid." Kathe sah erneut zu ihm auf, doch er starrte gedankenversunken auf den See hinaus.
„Deorum ist seit jeher davon überzeugt, dass Werwölfe das Recht und die Pflicht haben, über Mensch und Tier zu herrschen. Bis heute glaubt man beispielsweise, dass man sein Geburtsrecht mit Füßen tritt, würde man einen Menschen als Partner wählen. Deshalb ist es den Rudelmitgliedern von Deorum auch verboten. Meine Mutter und mein Onkel wuchsen unter diesen fanatischen Dogmen auf. Doch die Beziehung zu meinem Vater, und das Abkommen zwischen Iluna und Ilargia, veränderte die Denkweise meiner Mutter. Claus hielt eisern an den Traditionen und Ansichten der alten Zeit fest. Als meine Mutter von Menschen ermordet wurde, sah er sich darin bestätigt. Und er hatte endlich einen Vorwand, seinen Hass auszuleben."
Dieser Teil seiner Vergangenheit war der Härteste, doch er wollte das Kathe verstand, wie er aufgewachsen war. Wie er dieses Monster wurde, das in ihm schlummerte.
„Er begann sich zu verändern und wurde fanatischer und brutaler, als sämtliche Alphas vor ihm. Das ging so weit, dass er sogar unseren Kodex ablehnte. Rudelmitglieder, die sich gegen ihn auflehnten, wurden hart bestraft. Er bestrafte ganze Familien für den Fehltritt eines einzelnen. Er tötete die Familie der Rudelmitglieder, die das Rudel verlassen wollten." Seine Stimme war bitter und voller Wut, wenn er daran zurückdachte. Auch sein bester Freund hatte auf diese Weise seine Eltern verloren.
„Und natürlich fand er Unterstützer, einer brutaler als der andere. Durstig danach, auf seinen Befehl hin Blut zu vergießen und zu morden. Nero ist einer davon. Irgendwann waren alle so eingeschüchtert, dass sich niemand mehr gegen sie erhob."
„Du hast das Ganze nicht akzeptiert. Du bist gegangen.", stellte Kathe fest.
„Es gab auch niemanden mehr, den sie hätten töten können. Wenn man in so einem Rudel aufwächst, ist es schwer jemanden zu vertrauen und man hütet sich davor, Freundschaften zu knüpfen. Mein einziger Freund hatte das Rudel bereits verlassen."
Kathe schwieg bedrückt. Er konnte sehen, dass ihr noch weitere Fragen auf der Zunge brannten, doch sie hielt sich zurück. Schweigend betrachteten sie den friedlich daliegenden See.
Nicht ahnend, dass sie in wenigen Augenblicken nicht länger allein wären.
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