5. 𝔎𝔞𝔭𝔦𝔱𝔢𝔩
Aus der Chronik und den Gesetzen von Ilargia
*Kathlyn*
Ich erwachte von einem dumpfen Schmerz am Kopf und setzte mich stöhnend in meinem Bett auf. Was war das nur für ein verrückter Alptraum gewesen? Solche Träume hatte ich zuletzt als Kind gehabt. Das kam sicher von dem Gerede, das ich mir den ganzen Tag anhören durfte.
Mein Kopf brummte. Ich knipste meine Nachttischlampe an, schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Ich hatte Durst und mir war schlecht. Leise öffnete ich meine Tür und schlich mich auf den Flur, um meine Eltern nicht zu wecken. Umso überraschter war ich, dass überall Licht brannte.
Mein Zimmer lag im ersten Stock unseres Hauses. Die Küche war unten, genau wie das Wohnzimmer. Als ich die Treppe hinunter lief, hörte ich Stimmen aus dem Wohnzimmer dringen. Aufgeregte Stimmen, die wild debattierten. Wer war denn um diese Uhrzeit noch zu Besuch? Gut, ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung wie spät es war, aber es musste mitten in der Nacht sein.
Zögernd schlich ich zur Tür, die nur angelehnt war, und lauschte – auch wenn ich mir albern vorkam. Aber ich wollte nicht im Nachthemd da rein platzen, ohne überhaupt zu wissen wer da war. Oder worum es ging.
„Es muss eine andere Lösung geben! Das ist doch sicher nicht das erste Mal, dass so etwas passiert!" Das war die Stimme meiner Mutter. Sie klang aufgelöst.
„Nein, das ist es auch nicht. Das letzte Mal ist allerdings fast 80 Jahre her. Es gab viele Tote. Und auch damals war es unsere Schuld." War das etwa die Bürgermeisterin?
„Unsere Schuld? Sie hat überhaupt nichts getan!"
„Nun", hörte ich die schleppende Stimme eines Mannes sagen, „so ganz stimmt das nicht. Wir hatten eine Ausgangssperre verhängt. Sie hätte überhaupt nicht unterwegs sein dürfen."
„Was soll das heißen?", wollte meine Mutter schrill wissen.
„Wenn sie sich an die Anweisung gehalten hätte, wären sie sich nicht begegnet. Und dann hätte auch sicher unser ... Kollege anders reagiert.", sprach der Mann unbeeindruckt weiter, als wäre meine Mutter nicht kurz davor, ihn aus dem Haus zu schmeißen.
„Wollen Sie etwa ihr die Schuld geben, dass Ihr Kollege geschossen hat? Wieso war er eigentlich dort? Gilt die Ausgangssperre nicht für Ratsmitglieder? Und ganz zufällig war er auch noch bewaffnet?" Jemand hatte geschossen? Worum ging es hier?
„Bitte", versuchte die Bürgermeisterin einzugreifen, „diese Schuldzuweisungen führen doch zu nichts!"
„Für mich klingt das alles sehr merkwürdig, um nicht zu sagen nach Vorsatz. Und ich werde nicht zulassen, dass Sie meiner Tochter die Schuld geben, nur weil sie zufällig dort war! Liefern Sie doch einfach Ihren Kollegen aus!", ignorierte meine Mutter sie wütend und ich glaubte, mich verhört zu haben. Was hatte ich damit zu tun?
„Das ist nicht so einfach.", mischte sich nun mein Vater ein. „Das Gesetz verlangt in so einem Fall, dass die Partei, deren Recht verletzt wurde, Forderungen stellen darf."
„Dann soll er eine andere Forderung stellen!"
„Mary es tut mir wirklich leid, dass diese Entscheidung auf dem Rücken eurer Familie ausgetragen werden muss. Und natürlich werden wir nichts entscheiden, was ihr nicht möchtet."
„Oh, ihr entscheidet sowieso nichts!", gab Mom spöttisch zurück. So hatte ich sie noch nie gehört. „Das ist ganz allein Kathlyns Entscheidung!"
„Nun, dann sollte Kathlyn dringend bewusst gemacht werden, dass es hier um das Leben aller Menschen in Ilargia geht.", entgegnete Carola vorsichtig. Was zum –?
„Wenn du glaubst, dass wir euch dabei unterstützen –"
„So kommen wir nicht weiter.", fuhr mein Vater entnervt dazwischen.
„Merkst du denn gar nicht, was sie vorhaben Steven? Sie versuchen Kathe die Schuld zu geben, und dass sie sich wegen dieser Schuldgefühle freiwillig opfert! Willst du das zulassen?"
Mein Vater antwortete ihr nicht. Niemand sagte etwas und ich hörte Schritte näher kommen, doch ich war nicht imstande mich zu bewegen. Ich war völlig versteinert, geradezu geschockt von dem Gehörten. Und als meine Mutter die Tür aufriss, stand ich gut sichtbar davor. Alle hielten inne und nun konnte ich direkt in die Stube sehen. Es war tatsächlich die Bürgermeisterin, zusammen mit zwei Ratsmitgliedern und meinen Eltern.
„Kathe ..." Mom starrte mich erst entgeistert an, dann griff sie besorgt nach meinem Gesicht und nahm es in beide Hände. „Wie geht es dir? Wie fühlst du dich?"
„Wie lange stehst du schon da?" Mein Vater sprach leise und konnte mich nicht ansehen.
„Noch nicht lange.", log ich, klang in meinen eigenen Ohren jedoch nicht besonders überzeugend. Mom ließ mich los und trat einen Schritt beiseite. Ich nahm das als Aufforderung und trat in die Stube. Zwar war mir mein Outfit noch immer ein wenig peinlich, aber meine Neugier war größer. Ich wollte dringend Antworten.
„Wir haben gerade über dich gesprochen Kathlyn. Wie geht es deinem Kopf?" Carola klopfte neben sich und ich ließ mich langsam auf das Sofa sinken. Woher wusste sie von meinen Kopfschmerzen? Ich griff mir an die Schläfe und zuckte augenblicklich zusammen. „Du musstest genäht werden, aber wahrscheinlich wird keine Narbe zurückbleiben. Du hattest unheimliches Glück."
Ich versuchte ihren Worten und dem, was ich zuvor gehört hatte, irgendeinen Sinn zu entlocken. Es gelang mir nicht, was man mir auch ansah. Da waren nur verzerrte Erinnerungsfetzen, vermischt mit meinem Alptraum.
„Was weißt du von gestern Abend noch?"
„Ich habe den Laden abgeschlossen und wollte nach Hause. Da war ein Mann auf der Straße und er war ..." Ich zögerte. „Er war krank, denke ich."
„Ja, das war er. Unheilbar krank." Carola nahm meine Hand, doch ich entzog sie ihr. Was war hier los? Hatte er mich angesteckt? Das alles ergab einfach keinen Sinn! Und mein brummender Kopf war keine Hilfe.
„Erinnerst du dich an den verschwundenen Mann und an die Tiere, von denen ich dir erzählt habe?", übernahm nun mein Vater das Wort. Ich nickte. „Wir haben den Mann gefunden. Er und die Tiere wurden von derselben Kreatur angegriffen und getötet. Dieselbe Kreatur, die auch dich angegriffen hat. Es war ein Vampir."
Ich wollte lachen, doch ich konnte nicht. Alle sahen so ernst aus. Und ich erinnerte mich an ihn. An den bestialischen Gestank. An die Reißzähne, die immer näher kamen. An die Zunge, die gierig das Blut von meiner Stirn schleckte, bis alles schwarz wurde.
„Oh mein Gott." Ich presste mir eine Hand auf den Mund und zwang mich, nicht zu würgen. Mir wurde schwindlig. Meine Mutter sprang augenblicklich auf und kniete sich vor mich. Ich spürte wie sie mir den Rücken tätschelte, während ich mit aller Macht die Erinnerungsfetzen zurückdrängte.
„Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit.", versicherte sie mir, wie es nur Mütter konnten. Doch ich hörte ihr an, wie beunruhigt sie war. Und dazu hatte sie auch allen Grund, wenn sich mein Verdacht bestätigte. Also stellte ich die Frage, vor der es mir am meisten graute:
„Hat er mich gebissen? Geht es darum?" Dann wäre die gesamte Stadt in Gefahr. Außer, sie würden mich töten.
„Nein! Mein Gott, nein!", beteuerte meine Mutter. Ihr liefen Tränen über die Wange.
„Die Wölfe kamen dazwischen. Sie haben ihn getötet.", versuchte auch Carola mich zu beruhigen.
„Was ist dann passiert?"
„Wenn wir eine Ausgangssperre verhängen, dient diese nicht nur der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger.", erklärte die schleppende Stimme von vorhin, die zu einem untersetzten älteren Herrn gehörte. Er hatte sich in seinem Sessel nach vorn gebeugt und betrachtete mich tadelnd. „Sie ermöglicht es auch den Wölfen, ungehindert ihre Arbeit zu tun. Du hattest erstaunliches Glück, dass sie rechtzeitig eingreifen konnten. Leider hat deine Rettung zu einem enormen Missverständnis geführt."
„Hören Sie auf damit!", fauchte Mom.
„Was für ein Missverständnis?"
„Jemand aus dem Rat dachte, die Wölfe hätten dich angegriffen. Er hat auf einen von ihnen geschossen und wir vermuten, dass es auch noch der Alpha war. Glücklicherweise hat er ihn nicht getötet, aber er hat ihn schwer verletzt."
Ich starrte den älteren Mann, dessen Name mir partout nicht einfallen wollte, entsetzt an. Jemand hatte auf den Alpha geschossen? Meinetwegen?
„Kathe, hör nicht auf ihn! Es ist nicht deine Schuld, hörst du? Du hast nicht geschossen! Du kannst nichts dafür!"
„Uns steht ein Krieg bevor, wenn wir seine Bedingung nicht erfüllen.", fuhr der Mann ungerührt fort, den Blick immer noch starr auf mich geheftet. Und schlagartig wurde mir die volle Tragweite seiner Worte bewusst: Das Abkommen. Wir hatten das Abkommen gebrochen.
Ich musste die Frage stellen, obwohl ich wusste, dass die Antwort nichts Gutes sein konnte: „Was ist das für eine Bedingung?"
„Bitte!", flehte meine Mutter schluchzend, und ich hatte Mühe ihn zu verstehen.
„Nun, du scheinst Eindruck bei ihm hinterlassen zu haben." Er lächelte traurig, bevor mir seine nächsten Worte regelrecht den Boden unter den Füßen wegzogen.
„Der Alpha will dich."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top